Mittwoch, 29. Mai 2019

CHUR: DIE WEISE VON LIEBE UND TOD

„schade, dass selten so schön gesungen wird in der oper“, schrieb „der spiegel“ einmal über die mezzosopranistin maria riccarda wesseling. sie ist international tätig, an den grossen häusern, und jetzt für ein wunschprojekt zu ihren wurzeln zurückgekehrt, nach graubünden, ans theater chur. der westschweizer komponist frank martin vertonte mitten im zweiten weltkrieg rainer maria rilkes erzählung „die weise von liebe und tod des cornets christoph rilke“, jenes buch also, das in den kriegen tausende von jungen soldaten im tornister trugen, weil es den nerv traf, ihren nerv, ihre verzweifelte situation zwischen der ersten grossen liebe und dem dienst fürs vaterland, der nur zu oft tödlich endete. martin schrieb diese musik für eine tiefe frauenstimme und kammerorchester, eine expressive und suggestive musik, die die geschichte des jungen fahnenträgers aus der sicht der zurückgebliebenen frauen erzählt, der mutter, der geliebten, vielleicht der huren. um diese multi-perspektive zu unterstreichen, gibt regisseur nigel lowery der sängerin die schauspielerin ursina hartmann zur seite. in einer absolut nicht zwingenden burgzimmer-szenerie lässt er die beiden in wallenden weissen kleidern geisterhaft um tisch, falltüre und kerzenständer herumschleichen wie in einer uralten lucia-di-lammermoor-inszenierung. zu zweit arbeiten sie sich szenisch ab an den erinnerungen. doch das ereignis ist maria riccarda wesseling, ist diese stimme: 75 minuten lang singt sie, alle facetten dieser komplexen musik trifft sie, von der kammerphilharmonie graubünden unter philippe bach subtil begleitet, sie glüht, sie leidet, sie verzweifelt, sie nimmt uns mit auf eine reise durch seelenlandschaften. diese frau singt, in der tat, seltenschön.

Mittwoch, 22. Mai 2019

EMMENBRÜCKE: GEDÄCHTNISPALAST

sie sammelten 200 leere heliomalt-büchsen und dutzende von heiligenbildern und aufblasbare weltkugeln fürs schwimmbad und ausgestopftes gefieder. sie sammelten alles, sinnvolles und sinnloses, und türmten es in ihr haus in küssnacht, vom keller bis unters dach. drei geschwister, aus ärmlichen verhältnissen, die sich in ein eigenes universum verabschiedet hatten. jetzt sind sie tot. und ein grosses team um die theaterfrau annette windlin verfrachtete den wunderlichen kram nach emmenbrücke, in die viscosistadt. in der ehemaligen garnfabrik basteln sie daraus ein gesamtkunstwerk mit dem titel „gedächtnispalast“: 5000 quadratmeter theater, performance, soundexperimente, kunstinstallationen, gedankensplitter. der besucher wird teils geführt durch dieses labyrinth der erinnerungen, teils sucht er sich selber seinen weg über die fünf etagen, lässt sich treiben, irrt umher. es ist ein lustvoller parcours durch ein raritäten-kabinett. als roten faden hat die autorin martina clavadetscher rund 60 kurze szenen geschrieben über einen wohlhabenden mann, eine einfache frau und ihre komplizierte beziehung; man hat sie am ende des abends kaum alle gesehen, mal blitzt da eine sequenz auf, mal spielen die profis und laien in einer anderen ecke, mal bekommt man nur noch den schluss mit, was soll’s? der „gedächtnispalast“ ist ein faszinierendes puzzle und immer wieder erinnern diese ziemlich schrägen exponate und episoden an eigene erfahrungen, man sinniert über glück, über heimat, über vergänglichkeit, über suchen und finden. und man bekommt lust, im eigenen keller zu wühlen. auch wenn der nicht so zauberhaft eingerichtet und so märchenhaft ausgeleuchtet ist wie der „gedächtnispalast“. 

Samstag, 18. Mai 2019

LUZERN: TELL - WIE ES WIRKLICH WAR

„es galt jetzt, die eigenen waffenknechte abzuhalten von irgendeiner dummheit, wie sie bewaffneten leicht unterläuft; es braucht wenig, dass bewaffnete sich bedroht fühlen.“ was für ein kluges und weitsichtiges büchlein max frisch 1971 doch vorgelegt hat mit seinem „wilhelm tell für die schule“. zum glück kramt es immer mal wieder wer aus der suhrkamp-ecke seiner bücherwand hervor. jetzt zum beispiel der schauspieler sigi arnold und der musiker beat föllmi (im luzerner kleintheater und auf anderen zentralschweizer bühnen). arnold spielt einerseits einen vorleser auf tournee, der frischs tell in die säle und unter die leute bringt, und anderseits einen hardcore-urner, der das alles träf kommentiert, bezüge zur heutigen zeit herstellt, sich zum beispiel diebisch freut bei dem gedanken, dass der teufelsstein für den bau der zweiten gotthardröhre möglicherweise noch einmal für viel geld umplatziert werden muss, „kein problem für die steinreichen urner“. föllmi sitzt daneben und liefert aus seiner gigantischen klangwerk-küche einen ebenso stimmungsvollen wie witzigen soundtrack zu dieser mythen-exegese: im putzkessel entstehen die wellen des urnersees, kabelrohre pfeifen den föhn und die nächte in attinghausen sind auch nicht ohne. es gibt viel zu schmunzeln an diesem abend. trotz dem ernst der lage. irgendwie hatte frisch ja wohl schon recht: zum apfelschuss kam’s eher nicht wegen einem sadistischen landvogt, sondern wohl weil tell als hartgesottener stierengrind die situation eskalieren liess. und dann ein fieser mord aus dem hinterhalt als ausgangspunkt für die befreiungsgeschichte der schweiz. fragezeichen. ausrufezeichen. der vorleser sieht jetzt ein wenig zerknittert aus.

Montag, 22. April 2019

LUZERN: ALKESTIS

(kleines jubiläum, dies ist der 500. post von BRANDER LIVE)

„was willst du? lass mich los.“ alkestis liegt bereits auf der bahre. sie opfert sich anstelle ihres gatten admetos, der sterben müsste, weil er artemis ein opfer versagte, aber gerettet werden kann, wenn er jemanden findet, der für ihn in den tod geht. „was willst du? lass mich los.“ sie hat sich entschieden, dem mann zuliebe, für den tod. doch die todgeweihte wird von ihrem gatten bedrängt. er kann nicht loslassen, er will, dass sie lebt, er hält sie fest, ein bizarrer kampf entwickelt sich auf der bahre, sie spricht griechisch, er spricht deutsch, leben und tod umgarnen und umarmen sich. mit „alkestis“ hat euripides weder tragödie noch komödie geschrieben, sondern ein seltsames spiel voller rätsel. in einer surrealen szenerie mit ballsaal-leuchtern, in farbe getauchten nebelschwaden und müden fichten findet das griechische regie-duo angeliki papoulia und christos passalis am luzerner theater poetische, geheimnisvolle und wuchtige bilder zum abschied von einem geliebten menschen, zu schmerz und wut und verzweiflung. den höhepunkt bildet die begräbnisprozession, bei der das publikum alkestis‘ gladiolengeschmückten sarg vor die jesuitenkirche folgt, wo er von einer barke abgeholt wird und zu melancholischen bläsersätzen reussabwärts entschwindet. nach der pause bringt halbgott herakles, der alte sauf- und raufbold, alkestis zurück ins leben. da weicht der bedächtige rhythmus, ein dionysischer spuk entwickelt sich, rote teppiche werden ausgerollt zwischen den fichten, greek pop dröhnt, masken fallen. ist sie es wirklich? lebt sie? gibt es die grenzen zwischen leben und tod nicht mehr? steht hinter jedem tod ein leben, das befreit werden will? totentanz und lebensfest, das passt bestens zu ostern.

Samstag, 20. April 2019

BERLIN: RUDERN MIT THEODOR FONTANE

zu beginn des grossen theodor-fontane-jahres bringt der theodor-fontane-forscher dieter stolz das werk theodor fontanes in der süddeutschen zeitung auf den punkt: "dass die nie miteinander schlafen, sondern immer an den see fahren müssen, um zu rudern, hat mich schon gestört."

Sonntag, 31. März 2019

BASEL: MADAMA BUTTERFLY

das erfreuliche zuerst: talise trevigne (butterfly), otar jorjikia (pinkerton), domen krizaj (sharpless) und kristina stanek (suzuki) verfügen alle über brillante stimmen. das theater basel hat für puccinis „madama butterfly“ ein sensationelles ensemble verpflichtet, das in den klangfarben grandios harmoniert. dirigent antonello allemandi und das sinfonieorchester sind akkurate begleiter, nicht das schwelgerisch-exotische der musik hervorstreichend, sondern das zartbittere und herbe. es lässt allerdings wenig gutes erahnen, dass der russische regisseur vasily barkhatov die butterfly ihre auftrittsarie in ihrem chicen nagasaki-pavillon hinter einer scheibe singen lässt, smart-glass, das prompt im falschesten moment in den milchglas-modus kippt und auch den restlichen abend amok läuft. so arbeitet barkhatov: viel oberflächlicher und ärgerlicher schnickschnack, wenig gespür für die intentionen des komponisten. pinkerton, der amerikanische offizier, der sich ein japanisches püppchen aussucht, schwängert, abreist und sie so zur verzweiflung und in den suizid treibt, wird zum touri-trottel degradiert, kurze hosen, schuhe auf den tisch, er äfft die japanischen zeremonien nach und fuchtelt pausenlos mit der selfiestange durch die gegend. man ist fassungslos und fragt sich, woher da die echte, tiefe zuneigung einer sensiblen geisha kommen soll. das liebesduett am ende des ersten aktes, ein höhepunkt der oper, wirkt nach diesem setting nur unglaubwürdig, sternenhimmel hin oder her. erst gegen ende, wenn pinkerton nach drei jahren samt us-ehefrau zurückkehrt und sein kind abholen will, gelingen einige wirklich starke bilder: wie schachfiguren bewegen sich die protagonisten in dieser konfliktsituation, kammerspielartig konzentriert, endlich fern aller klischees und nahe an der musik. zu spät.

Montag, 25. März 2019

HAMBURG: NABUCCO, FERNGESTEUERT

seit august 2017 steht der russische regisseur kirill serebrennikov wegen zum teil absurden vorhaltungen unter hausarrest. doch er lässt sich von der willkür der russischen justiz nicht unterkriegen und inszeniert weiter. im abwesenheitsverfahren. ein akt des widerstands, den serebrennikov mutig und konsequent durchzieht: die ideen und konzepte aus moskau werden von hin und her reisenden assistenten und dramaturgen umgesetzt. nach „hänsel und gretel“ in stuttgart und „così fan tutte“ in zürich kam auf diese ungewöhnliche weise jetzt in hamburg verdis „nabucco“ auf die bühne, zum ersten mal also ein hochpolitischer stoff. die geschichte der jüdischen gefangenen in assyrien wird hier ins heute weitergedacht, schauplatz ist der sitzungssaal des sicherheitsrats der vereinten nationen, einziges traktandum die weltweite flüchtlingskrise. die macht- und liebesspiele der protagonisten bilden nur das gerüst (was auch angesichts der sehr unterschiedlichen qualität im ensemble kein verlust ist), ins zentrum wird dominant das schicksal der migrantinnen und migranten gerückt, mit news-videos, demonstrationen, led-schlagzeilen und grossformatigen porträts. das ist teilweise völlig überladen, aber immer ein klares statement. ganz in schwarz und frontal ins publikum singt der von paolo carignani dirigierte chor der staatsoper das „va pensiero“, während sich von allen seiten echte flüchtlinge mit ihren farbigen kleidern und zerfetzten zelten stumm unter die sängerinnen und sänger mischen und die freiheitshymne später selber intonieren – eine version des gefangenenchores, die man so schnell nicht vergessen wird. und zwischen den akten stimmen hana alkourbah und abed harsony mit seiner oud klagelieder aus syrien an. verdis themen sind auch serebrennikovs themen, so entsteht eine tiefschürfende und unbequeme meditation über heimat, freiheit und krieg. 

Samstag, 23. März 2019

HAMBURG: MIT IVAN KRPAN IN DIE HÖLLE

lächeln ist nicht seine sache. der junge mann trägt einen grauen anzug und wirkt irgendwie steif darin, er blickt ins publikum als ob es ihn blenden würde, nicht sympathien heischend, eher kühl distanziert. der junge mann kommt aus kroatien, ist 21 und heisst ivan krpan. er setzt sich im kleinen saal der elbphilharmonie an den flügel und läuft sich mit zwei beethoven-sonaten warm, hoch konzentriert, hoch virtuos, elegant und warm. und dann langt er richtig hin. mit ferruccio busonis rastloser sonatina seconda, mit "pensée des morts" und "après une lecture de dante" von franz liszt zieht er uns mit in dunkle abgründe, mit seinen gefühlten 40 fingern zielt er, hämmernd und federnd, direkt in die hölle. wer die augen schliesst, muss zur überzeugung gelangen, dass da mindestens sechs klavierberserker oder -innen an mindestens drei flügeln am werk sind. ein junger mann veranstaltet einen akustischen orkan, wild und laut und raumfüllend. nicht mehr kühl distanziert wirkt er jetzt, sondern völlig entfesselt. den namen ivan krpan wird man noch oft hören. beim schlussapplaus lächelt er dann doch noch oder deutet es zumindest an, irgendwie erlöst, der hölle noch einmal ganz knapp entronnen zu sein.

Freitag, 22. März 2019

HAMBURG: DIE STADT DER BLINDEN

ein verlassenes irrenhaus dreht sich auf der riesigen bühne des hamburger schauspielhauses, morbide stimmung, dann werden hier blinde interniert, zunächst nur ein paar wenige, dann immer mehr, die blindheit breitet sich epidemisch aus, also quarantäne, brutal autoritär kontrolliert. josé saramago hat mit "die stadt der blinden" (1995) einen beklemmenden roman geschrieben über eskalation, chaos und den verlust von würde in einer ausnahmesituation. einen essay über die blindheit der herzen. regisseur kay voges macht daraus ein von pessimismus und aggression triefendes theater-video-performance-gesamtkunstwerk mit viel kotze und kacke, ausbeutung und erniedrigung, vergewaltigung und mord. diese menschen ersparen sich in ihrer enge und ihrer verzweiflung gar nichts. frauen lassen sich zu sex erpressen, weil sie und ihre männer sonst nichts mehr zu essen kriegen. die inszenierung ist ein drastisches konzentrat von metaphern für eine kaputte welt. eine bewusst provozierende grenzerfahrung, selbst für geübte theatergänger. saramagos roman besticht auch durch die präzise zeichnung der total unterschiedlichen reaktionen und strategien der einzelnen figuren. diese differenziertheit bringt das enorm geforderte riesenensemble (23 leute!) allen blut- und fäkalexzessen zum trotz hervorragend auf die bühne. die einzige sehende (sandra gerling, herausragend) beginnt in diesem desaster, folgerichtig, zunehmend zu pendeln zwischen retterin und rächerin. theater ist live-kunst und berührt wie keine andere kunstform auch physisch. dieses elend und diese widerwärtigkeiten landen ungebremst im kopf und im bauch. die apokalyptischen bilder brennen sich auf unserer netzhaut ein, nicht nur während der finalen 20-minütigen stroboskop-orgie, sondern weit darüber hinaus. wie blind sind wir in dieser welt?

Dienstag, 26. Februar 2019

ZÜRICH: DAS LEBEN DES VERNON SUBUTEX

„ausser der zerstörung meiner leber brachte ich nicht mehr viel zustande.“ herzschlag wummert raumfüllend durch den saal. es ist der herzschlag einer generation von perspektivlosen. der saal des theaters neumarkt in zürich wurde mit viel alu und farbigen neonröhren zur billig-disco umgestaltet, über die ganze länge führt ein blitzförmiger laufsteg, das publikum sitzt zu beiden seiten. auf diesem laufsteg schreitet und schlurft vernon subutex sein leben ab. der anti-held aus virginie despentes‘ roman-trilogie hat die zukunft hinter sich. er führte einen beliebten plattenladen, doch jetzt: job weg, wohnung weg, er surft von freundin zu freund, von couch zu couch und kann, natürlich, nirgendwo länger bleiben, denn den anderen geht es nicht besser. der famose martin butzke zeigt diesen subutex als dünnhäutigen, verletzlichen mann, der auch in den miesesten ecken seines lebens nie einen letzten rest an würde verliert. lieber dröhnt er sich zwischendurch wieder mal mit seinen lieblingssongs zu als aggressionen an anderen loszuwerden. und wenn er, nur noch mit der unterhose bekleidet, am strassenrand kniet und bettelnd zu einem grossen monolog ansetzt, dann berührt auch dies umso mehr, weil es eher nach reflexionen in einer therapiesitzung tönt als nach hasspredigt. regisseur peter kastenmüller bündelt die vielen handlungsfäden, die unverblümte sprache und die sounds der zeit mit seinem präsenten, facettenreichen ensemble zu einem eindrücklichen, streckenweise sehr bunten, streckenweise sehr tristen requiem. auch ein paar happenings in parks täuschen nicht darüber hinweg, dass die zeiten schlecht sind. mit „das leben des vernon subutex“ hat virginie despentes die ängste und die wut der gilets jaunes schon vorab aufgegriffen. voilà, la vie. viereinhalb stunden. fährt ein.

Dienstag, 19. Februar 2019

GENÈVE: GÖTTERDÄMMERUNG

ein wagner-vollbad gönnt sich die genfer oper zur wiedereröffnung des grand théâtre nach dreijährigem umbau: den ganzen „ring des nibelungen“, vier opern in knapp einer woche. ein stresstest ist dies, ganz offensichtlich auch für die übersetzer der übertitel: wagners „wonniges weib“ wird da zur „femme sublime“, da ist noch luft nach oben. wir beliessen es beim vierten teil der tetralogie, der „götterdämmerung“. regisseur dieter dorn, der die produktion 2013/14 stemmte und jetzt, mittlerweile 84jährig, auch für die wiederaufnahme vor ort war, ist ein meister der exakten personenführung. es gelingt ihm, die geschichte vom ende der alten welt trotz der fülle von figuren und mythologischen verwicklungen mit verständlichen, grosszügigen bildern zu erzählen. in einem eleganten neon-würfel versucht hagen, wie alle in einem historisch inspirierten zeitlosen kostüm, seine halbgeschwister gunther und gutrune für seine intrigen zu gewinnen. so entwirft die regie ohne direkte anspielungen auf heutige politiker und wirtschaftsbosse ein drastisches und aktuelles bild: rivalisierende clans, besitz- und machtgier, eskalation total („ihrem ende eilen sie zu, die so stark im bestehen sich wähnen“). da das grosse ensemble von sehr heterogener qualität ist, entstehen immer wieder unschöne risse im gesamtbild. vor allem petra lang, stimmlich souverän, vermag die differenzierte entwicklung der brünnhilde darstellerisch nur sehr undifferenziert umzusetzen. georg fritzsch dirigiert das orchestre de la suisse romande nicht spektakulär, aber durchaus solide, mit einer subtilen steigerung hin zum utopischen schluss: überaus zart wird die erlösung von den verblendungen angedeutet, derweil wotans walhall im theaterkeller versinkt. dann ist die riesige bühne des grand théâtre schwarz und leer, alles bereit für einen wie auch immer gearteten neuanfang.

Montag, 11. Februar 2019

ZÜRICH: ENDSTATION SEHNSUCHT

blanche du bois ist ein wrack. das landgut ihrer familie verlor sie. die vielen männer, die sie hatte, liebten sie nicht. ihre welt ist zerbrochen. immer wieder greift lena schwarz, die diese blanche jetzt am schauspielhaus zürich spielt, zur flasche, sie zittert, sie rauft sich die blonde mähne, wirft wilde blicke um sich, ihre stimme flackert. der schöne aristokratische schein von früher, den sie so gerne aufrecht erhalten möchte, löst sich hinter dieser fiebrigen fassade in nichts auf. eine ergreifende darstellung, ein berührendes porträt. tennesse williams hat mit „endstation sehnsucht“ (1947) den zusammenprall von illusion und realität, von verherrlichter vergangenheit und brutalem alltag meisterhaft beschrieben. blanche landet bei ihrer schwester, die mit einem groben kerl verheiratet ist, der diesem überraschenden familienzuwachs ausser ein paar erotischen reizen gar nichts abgewinnen kann. michael neuenschwander und lena schwarz liefern sich williams‘ zerfleischende dialoge nicht überhitzt und verschwitzt, sondern in eiskalter verzweiflung. regisseur bastian kraft verzichtet auf jegliches südstaaten-setting: die wenigen figuren begegnen sich auf einem leeren, quadratischen podest, das sich ununterbrochen dreht, mal langsamer, mal schneller. was durchaus nervig sein könnte, entwickelt hier eine grosse intensität, einen immer heftiger werdenden strudel der gefühle. besonders eindringliche momente werden in grossaufnahme auf fallenden trockeneis-nebel projiziert und miriam maertens singt neben dem podest grossartig illusionslos ein paar songs von tom waits. noch mehr flackern, noch mehr untergang. blanche endet in der klinik.

Freitag, 8. Februar 2019

LUZERN: DAS KANTONSSPITAL ALS KUNSTMUSEUM

man kennt das in den spitälern: eine patientin klebt das matterhorn an die tür, damit sie ihr zimmer wieder findet; die pflegenden pinnen die postkarten aus den ferien an die wand; die stationschefin lässt saisongerecht dekorieren, clowns, osterhasen, sterne – und irgendwo hängt auch noch ein wenig kunst. so nicht, hat sich pius jenni gesagt, der leiter bau und architektur am luzerner kantonsspital. sein budget für kunst – nicht höher als an anderen spitälern – wandert seit 2013 zu den beiden künstlern wetz und silas kreienbühl, die als kuratoren freie hand haben, um die öffentlichen bereiche im spital mit ausstellungen zu beglücken. und ein glücksfall ist dies in der tat, denn für jede abteilung suchen und finden die beiden eine individuelle lösung und die dazu passenden künstler. im zentrum für notfall- und intensivmedizin beispielsweise sind nicht die patientinnen (die da ganz andere sorgen haben) das zielpublikum, sondern mitarbeitende und wartende. in der etage mit vielen dementen hängen einfache, farbige, gegenständliche bilder, die bei der orientierung helfen. die direktionsetage zieren wuchtige plastiken aus edlem holz und grossformatige abstrakte bilder. in der privatabteilung gibt’s „zimmer mit seesicht“, meditative ufer-filme auf grossbildschirmen. kunst und ästhetik sollen, so die wetz-philosophie, im ganzen haus auf gleich hohem niveau sein wie die medizin. das hat stil und es gelingt, weil die kuratoren auf einen riesigen fundus an beziehungen im in- und ausland zurückgreifen können. die künstlerinnen und künstler schätzen die möglichkeit, hier ein ganz anderes publikum zu erreichen als in ateliers und galerien. das luzerner kantonsspital ist also nach und nach, fast unmerklich, auch ein kunstmuseum geworden. und kein kleines.

Donnerstag, 7. Februar 2019

ZÜRICH: YVONNE, DIE BURGUNDERPRINZESSIN

stellen sie sich eine junge, hübsche prinzessin vor. exakt so sieht gottfried breitfuss nicht aus. sein gesicht ist mehr breit als hoch, seine mundwinkel hängen weit, sehr weit nach unten, die augen sind zugekniffen, die blonde pagenperücke und das beige dessous-kleidchen passen wie die faust aufs auge. „man kann doch nicht nur aus mängeln bestehen“, empört sich jemand bei hofe. mit „yvonne, die burgunderprinzessin“ hat witold gombrowicz 1934 eine grandiose groteske über die hohlheit aristokratischer kreise und rituale geschrieben. diese lethargische, einsilbige prinzessin, die völlig aus der form fällt, nötigt ihr umfeld, die form zu wahren. barbara frey, die intendantin des zürcher schauspielhauses, inszeniert und seziert das im schiffbau mit viel lust am spass, mit rasantem tempo, exquisiter musik und – vor allem – einem hervorragenden (reinen männer-)ensemble, aus dem neben prinzessin breitfuss vor allem markus scheumann als königin margarethe heraussticht, mit einem 80 zentimeter hohen, platinfarbenen haarturm und den mit abstand giftigsten bemerkungen und blicken. zwei stunden schaut man der allerersten liga dabei zu, wie sie in einem hässlichen blau-goldenen salon diesen hässlichen mädchenkloss mit projektionen, hoffnungen und häme auflädt, um sich dann wieder an ihm abzuarbeiten. „wir sind in sie hineingeraten. nun müssen wir sehen, wie wir wieder aus ihr herausgeraten“, schreit michael maertens als thronfolger und yvonnes verlobter ebenso verzweifelt wie zutreffend. die grausamkeit der einsamkeit nimmt für yvonne ein rasches ende: in übler absicht serviert man ihr eine karausche, sie erstickt an einer gräte, gottfried breitfuss röchelt und hustet und kippt auf den tisch, grosse oper.

Montag, 28. Januar 2019

MÜNCHEN: YUNG FAUST

wieder mal faust, wieder mal anders. „yung faust“ nennt sich die inszenierung von leonie böhm an den münchner kammerspielen. yung, noch yunger also als young. yung stellen viele cloudrapperinnen ihren künstlernamen voran, um den frischen zugriff auf die welt noch zu unterstreichen. damit ist der sound vorgegeben, den der hinter zottelfrisur und bärenfell versteckte johannes rieder dann mit seiner live-musik aufnimmt. „hier bin ich mensch, hier darf ich´s sein“ singt, respektive brüllt benjamin radjaipour über den dröhnenden synthie-flächen ins publikum, berauscht und befreit. doch wo der eine sein menschsein auslebt, wird der andere tangiert: annette paulmann fühlt sich bedrängt, belästigt, stösst den kollegen, dessen mutter sie sein könnte, zurück, wehrt ihn ab, die beiden landen raufend am boden vor dem springbrunnen auf der spielfläche, der ganz zweifellos ein jungbrunnen ist. hier am wasser wird auf der suche nach der eigenen identität und dem „was die welt im innersten zusammenhält“ doch ein bisschen gar viel rumgelümmelt und rumgespritzt, erotik inklusive. das best-of der faust-zitate, dieses unbefangene befragen und sezieren von klassischen versen, gelingt den drei lümmelnden und spritzenden (neben paulmann und radjaipour noch julia riedler), die alle mal faust, mal mephisto, mal gretchen sind, allerdings ganz trefflich. selten hat man den versuch, in der inneren leere spurenelemente von gefühlen zu finden, so unbefangen und verspielt gesehen. ein spass mit tiefgang. „ich will in dieser stunde mehr gewinnen als in des jahres einerlei“, sagt faust. konsequenterweise dauert das ganze nur eine knappe stunde, mehr fäustchen also als faust. ideal – und das ist keineswegs abwertend gemeint – ideal für gymnasialklassen ohne sitzleder.