„schade, dass selten so schön
gesungen wird in der oper“, schrieb „der spiegel“ einmal über die
mezzosopranistin maria riccarda wesseling. sie ist international tätig, an den
grossen häusern, und jetzt für ein wunschprojekt zu ihren wurzeln
zurückgekehrt, nach graubünden, ans theater chur. der westschweizer komponist
frank martin vertonte mitten im zweiten weltkrieg rainer maria rilkes erzählung
„die weise von liebe und tod des cornets christoph rilke“, jenes buch also, das
in den kriegen tausende von jungen soldaten im tornister trugen, weil es den
nerv traf, ihren nerv, ihre verzweifelte situation zwischen der ersten grossen
liebe und dem dienst fürs vaterland, der nur zu oft tödlich endete. martin
schrieb diese musik für eine tiefe frauenstimme und kammerorchester, eine expressive
und suggestive musik, die die geschichte des jungen fahnenträgers aus der sicht
der zurückgebliebenen frauen erzählt, der mutter, der geliebten, vielleicht der
huren. um diese multi-perspektive zu unterstreichen, gibt regisseur nigel
lowery der sängerin die schauspielerin ursina hartmann zur seite. in einer
absolut nicht zwingenden burgzimmer-szenerie lässt er die beiden in wallenden
weissen kleidern geisterhaft um tisch, falltüre und kerzenständer herumschleichen
wie in einer uralten lucia-di-lammermoor-inszenierung. zu zweit arbeiten sie
sich szenisch ab an den erinnerungen. doch das ereignis ist maria riccarda wesseling,
ist diese stimme: 75 minuten lang singt sie, alle facetten dieser komplexen
musik trifft sie, von der kammerphilharmonie graubünden unter philippe bach
subtil begleitet, sie glüht, sie leidet, sie verzweifelt, sie nimmt uns mit auf
eine reise durch seelenlandschaften. diese frau singt, in der tat, seltenschön.
Mittwoch, 29. Mai 2019
Mittwoch, 22. Mai 2019
EMMENBRÜCKE: GEDÄCHTNISPALAST
sie
sammelten 200 leere heliomalt-büchsen und dutzende von heiligenbildern und
aufblasbare weltkugeln fürs schwimmbad und ausgestopftes gefieder. sie
sammelten alles, sinnvolles und sinnloses, und türmten es in ihr haus in
küssnacht, vom keller bis unters dach. drei geschwister, aus ärmlichen
verhältnissen, die sich in ein eigenes universum verabschiedet hatten. jetzt
sind sie tot. und ein grosses team um die theaterfrau annette windlin
verfrachtete den wunderlichen kram nach emmenbrücke, in die viscosistadt. in der ehemaligen garnfabrik basteln sie daraus ein gesamtkunstwerk mit dem titel „gedächtnispalast“: 5000 quadratmeter theater, performance, soundexperimente,
kunstinstallationen, gedankensplitter. der besucher wird teils geführt durch
dieses labyrinth der erinnerungen, teils sucht er sich selber seinen weg über
die fünf etagen, lässt sich treiben, irrt umher. es ist ein lustvoller parcours
durch ein raritäten-kabinett. als roten faden hat die autorin martina
clavadetscher rund 60 kurze szenen geschrieben über einen wohlhabenden mann,
eine einfache frau und ihre komplizierte beziehung; man hat sie am ende des
abends kaum alle gesehen, mal blitzt da eine sequenz auf, mal spielen die
profis und laien in einer anderen ecke, mal bekommt man nur noch den schluss
mit, was soll’s? der „gedächtnispalast“ ist ein faszinierendes puzzle und immer
wieder erinnern diese ziemlich schrägen exponate und episoden an eigene erfahrungen,
man sinniert über glück, über heimat, über vergänglichkeit, über suchen und
finden. und man bekommt lust, im eigenen keller zu wühlen. auch wenn der nicht
so zauberhaft eingerichtet und so märchenhaft ausgeleuchtet ist wie der „gedächtnispalast“.
Samstag, 18. Mai 2019
LUZERN: TELL - WIE ES WIRKLICH WAR
„es
galt jetzt, die eigenen waffenknechte abzuhalten von irgendeiner dummheit, wie
sie bewaffneten leicht unterläuft; es braucht wenig, dass bewaffnete sich
bedroht fühlen.“ was für ein kluges und weitsichtiges büchlein max frisch 1971
doch vorgelegt hat mit seinem „wilhelm tell für die schule“. zum glück kramt es
immer mal wieder wer aus der suhrkamp-ecke seiner bücherwand hervor. jetzt zum
beispiel der schauspieler sigi arnold und der musiker beat föllmi (im luzerner
kleintheater und auf anderen zentralschweizer bühnen). arnold spielt einerseits
einen vorleser auf tournee, der frischs tell in die säle und unter die leute
bringt, und anderseits einen hardcore-urner, der das alles träf kommentiert,
bezüge zur heutigen zeit herstellt, sich zum beispiel diebisch freut bei dem
gedanken, dass der teufelsstein für den bau der zweiten gotthardröhre
möglicherweise noch einmal für viel geld umplatziert werden muss, „kein problem
für die steinreichen urner“. föllmi sitzt daneben und liefert aus seiner
gigantischen klangwerk-küche einen ebenso stimmungsvollen wie witzigen
soundtrack zu dieser mythen-exegese: im putzkessel entstehen die wellen des
urnersees, kabelrohre pfeifen den föhn und die nächte in attinghausen sind auch
nicht ohne. es gibt viel zu schmunzeln an diesem abend. trotz dem ernst der
lage. irgendwie hatte frisch ja wohl schon recht: zum apfelschuss kam’s eher
nicht wegen einem sadistischen landvogt, sondern wohl weil tell als hartgesottener stierengrind die situation
eskalieren liess. und dann ein fieser mord aus dem hinterhalt als ausgangspunkt
für die befreiungsgeschichte der schweiz. fragezeichen. ausrufezeichen. der
vorleser sieht jetzt ein wenig zerknittert aus.
Montag, 22. April 2019
LUZERN: ALKESTIS
(kleines jubiläum, dies ist der 500.
post von BRANDER LIVE)
Samstag, 20. April 2019
BERLIN: RUDERN MIT THEODOR FONTANE
zu beginn des grossen theodor-fontane-jahres bringt der theodor-fontane-forscher dieter stolz das werk theodor fontanes in der süddeutschen zeitung auf den punkt: "dass die nie miteinander schlafen, sondern immer an den see fahren müssen, um zu rudern, hat mich schon gestört."
Sonntag, 31. März 2019
BASEL: MADAMA BUTTERFLY
das erfreuliche zuerst: talise
trevigne (butterfly), otar jorjikia (pinkerton), domen krizaj (sharpless) und
kristina stanek (suzuki) verfügen alle über brillante stimmen. das theater
basel hat für puccinis „madama butterfly“ ein sensationelles
ensemble verpflichtet, das in den klangfarben grandios harmoniert. dirigent
antonello allemandi und das sinfonieorchester sind akkurate begleiter, nicht
das schwelgerisch-exotische der musik hervorstreichend, sondern das
zartbittere und herbe. es lässt allerdings wenig gutes erahnen, dass der
russische regisseur vasily barkhatov die butterfly ihre auftrittsarie in ihrem
chicen nagasaki-pavillon hinter einer scheibe singen lässt, smart-glass, das
prompt im falschesten moment in den milchglas-modus kippt und auch den
restlichen abend amok läuft. so arbeitet barkhatov: viel oberflächlicher und
ärgerlicher schnickschnack, wenig gespür für die intentionen des komponisten. pinkerton,
der amerikanische offizier, der sich ein japanisches püppchen aussucht,
schwängert, abreist und sie so zur verzweiflung und in den suizid
treibt, wird zum touri-trottel degradiert, kurze hosen, schuhe auf den tisch,
er äfft die japanischen zeremonien nach und fuchtelt pausenlos mit der selfiestange
durch die gegend. man ist fassungslos und fragt sich, woher da die echte, tiefe zuneigung einer
sensiblen geisha kommen soll. das liebesduett am ende des ersten aktes,
ein höhepunkt der oper, wirkt nach diesem setting nur unglaubwürdig,
sternenhimmel hin oder her. erst gegen ende, wenn pinkerton nach drei jahren samt us-ehefrau zurückkehrt und sein kind abholen will, gelingen einige
wirklich starke bilder: wie schachfiguren bewegen sich die protagonisten in
dieser konfliktsituation, kammerspielartig konzentriert, endlich fern aller klischees
und nahe an der musik. zu spät.
Montag, 25. März 2019
HAMBURG: NABUCCO, FERNGESTEUERT
seit
august 2017 steht der russische regisseur kirill serebrennikov wegen zum teil
absurden vorhaltungen unter hausarrest. doch er lässt sich von der willkür der
russischen justiz nicht unterkriegen und inszeniert weiter. im
abwesenheitsverfahren. ein akt des widerstands, den serebrennikov mutig und
konsequent durchzieht: die ideen und konzepte aus moskau werden von hin
und her reisenden assistenten und dramaturgen umgesetzt. nach „hänsel und gretel“
in stuttgart und „così fan tutte“ in zürich kam auf diese ungewöhnliche weise jetzt
in hamburg verdis „nabucco“ auf die bühne, zum ersten mal also ein
hochpolitischer stoff. die geschichte der jüdischen gefangenen in assyrien wird
hier ins heute weitergedacht, schauplatz ist der sitzungssaal des
sicherheitsrats der vereinten nationen, einziges traktandum die weltweite
flüchtlingskrise. die macht- und liebesspiele der protagonisten bilden nur das
gerüst (was auch angesichts der sehr unterschiedlichen qualität im ensemble
kein verlust ist), ins zentrum wird dominant das schicksal der migrantinnen und
migranten gerückt, mit news-videos, demonstrationen, led-schlagzeilen und grossformatigen
porträts. das ist teilweise völlig überladen, aber immer ein klares statement.
ganz in schwarz und frontal ins publikum singt der von paolo carignani
dirigierte chor der staatsoper das „va pensiero“, während sich von allen seiten
echte flüchtlinge mit ihren farbigen kleidern und zerfetzten zelten stumm unter
die sängerinnen und sänger mischen und die freiheitshymne später selber
intonieren – eine version des gefangenenchores, die man so schnell nicht
vergessen wird. und zwischen den akten stimmen hana alkourbah und abed harsony
mit seiner oud klagelieder aus syrien an. verdis themen sind auch serebrennikovs themen, so entsteht eine tiefschürfende und unbequeme meditation über heimat,
freiheit und krieg.
Samstag, 23. März 2019
HAMBURG: MIT IVAN KRPAN IN DIE HÖLLE
lächeln ist nicht seine sache. der junge mann trägt einen grauen anzug und wirkt irgendwie steif darin, er blickt ins publikum als ob es ihn blenden würde, nicht sympathien heischend, eher kühl distanziert. der junge mann kommt aus kroatien, ist 21 und heisst ivan krpan. er setzt sich im kleinen saal der elbphilharmonie an den flügel und läuft sich mit zwei beethoven-sonaten warm, hoch konzentriert, hoch virtuos, elegant und warm. und dann langt er richtig hin. mit ferruccio busonis rastloser sonatina seconda, mit "pensée des morts" und "après une lecture de dante" von franz liszt zieht er uns mit in dunkle abgründe, mit seinen gefühlten 40 fingern zielt er, hämmernd und federnd, direkt in die hölle. wer die augen schliesst, muss zur überzeugung gelangen, dass da mindestens sechs klavierberserker oder -innen an mindestens drei flügeln am werk sind. ein junger mann veranstaltet einen akustischen orkan, wild und laut und raumfüllend. nicht mehr kühl distanziert wirkt er jetzt, sondern völlig entfesselt. den namen ivan krpan wird man noch oft hören. beim schlussapplaus lächelt er dann doch noch oder deutet es zumindest an, irgendwie erlöst, der hölle noch einmal ganz knapp entronnen zu sein.
Freitag, 22. März 2019
HAMBURG: DIE STADT DER BLINDEN
ein verlassenes irrenhaus dreht sich auf der riesigen bühne des hamburger schauspielhauses, morbide stimmung, dann werden hier blinde interniert, zunächst nur ein paar wenige, dann immer mehr, die blindheit breitet sich epidemisch aus, also quarantäne, brutal autoritär kontrolliert. josé saramago hat mit "die stadt der blinden" (1995) einen beklemmenden roman geschrieben über eskalation, chaos und den verlust von würde in einer ausnahmesituation. einen essay über die blindheit der herzen. regisseur kay voges macht daraus ein von pessimismus und aggression triefendes theater-video-performance-gesamtkunstwerk mit viel kotze und kacke, ausbeutung und erniedrigung, vergewaltigung und mord. diese menschen ersparen sich in ihrer enge und ihrer verzweiflung gar nichts. frauen lassen sich zu sex erpressen, weil sie und ihre männer sonst nichts mehr zu essen kriegen. die inszenierung ist ein drastisches konzentrat von metaphern für eine kaputte welt. eine bewusst provozierende grenzerfahrung, selbst für geübte theatergänger. saramagos roman besticht auch durch die präzise zeichnung der total unterschiedlichen reaktionen und strategien der einzelnen figuren. diese differenziertheit bringt das enorm geforderte riesenensemble (23 leute!) allen blut- und fäkalexzessen zum trotz hervorragend auf die bühne. die einzige sehende (sandra gerling, herausragend) beginnt in diesem desaster, folgerichtig, zunehmend zu pendeln zwischen retterin und rächerin. theater ist live-kunst und berührt wie keine andere kunstform auch physisch. dieses elend und diese widerwärtigkeiten landen ungebremst im kopf und im bauch. die apokalyptischen bilder brennen sich auf unserer netzhaut ein, nicht nur während der finalen 20-minütigen stroboskop-orgie, sondern weit darüber hinaus. wie blind sind wir in dieser welt?
Dienstag, 26. Februar 2019
ZÜRICH: DAS LEBEN DES VERNON SUBUTEX
„ausser der zerstörung meiner leber brachte ich nicht mehr viel zustande.“
herzschlag wummert raumfüllend durch den saal. es ist der herzschlag einer
generation von perspektivlosen. der saal des theaters neumarkt in zürich wurde
mit viel alu und farbigen neonröhren zur billig-disco umgestaltet, über die
ganze länge führt ein blitzförmiger laufsteg, das publikum sitzt zu beiden
seiten. auf diesem laufsteg schreitet und schlurft vernon subutex sein leben ab.
der anti-held aus virginie despentes‘ roman-trilogie hat die zukunft hinter
sich. er führte einen beliebten plattenladen, doch jetzt: job weg, wohnung weg,
er surft von freundin zu freund, von couch zu couch und kann, natürlich,
nirgendwo länger bleiben, denn den anderen geht es nicht besser. der famose
martin butzke zeigt diesen subutex als dünnhäutigen, verletzlichen mann, der
auch in den miesesten ecken seines lebens nie einen letzten rest an würde
verliert. lieber dröhnt er sich zwischendurch wieder mal mit seinen lieblingssongs
zu als aggressionen an anderen loszuwerden. und wenn er, nur noch mit der
unterhose bekleidet, am strassenrand kniet und bettelnd zu einem grossen
monolog ansetzt, dann berührt auch dies umso mehr, weil es eher nach
reflexionen in einer therapiesitzung tönt als nach hasspredigt. regisseur peter
kastenmüller bündelt die vielen handlungsfäden, die unverblümte sprache und die
sounds der zeit mit seinem präsenten, facettenreichen ensemble zu einem
eindrücklichen, streckenweise sehr bunten, streckenweise sehr tristen requiem.
auch ein paar happenings in parks täuschen nicht darüber hinweg, dass die
zeiten schlecht sind. mit „das leben des vernon subutex“ hat virginie despentes die ängste und die
wut der gilets jaunes schon vorab aufgegriffen. voilà, la vie. viereinhalb
stunden. fährt ein.
Dienstag, 19. Februar 2019
GENÈVE: GÖTTERDÄMMERUNG
ein
wagner-vollbad gönnt sich die genfer oper zur wiedereröffnung des grand théâtre
nach dreijährigem umbau: den ganzen „ring des nibelungen“, vier opern in knapp
einer woche. ein stresstest ist dies, ganz offensichtlich auch für die
übersetzer der übertitel: wagners „wonniges weib“ wird da zur „femme sublime“,
da ist noch luft nach oben. wir beliessen es beim vierten teil der tetralogie,
der „götterdämmerung“. regisseur dieter dorn, der die produktion 2013/14
stemmte und jetzt, mittlerweile 84jährig, auch für die wiederaufnahme vor ort
war, ist ein meister der exakten personenführung. es gelingt ihm, die
geschichte vom ende der alten welt trotz der fülle von figuren und mythologischen
verwicklungen mit verständlichen, grosszügigen bildern zu erzählen. in einem
eleganten neon-würfel versucht hagen, wie alle in einem historisch inspirierten
zeitlosen kostüm, seine halbgeschwister gunther und gutrune für seine intrigen
zu gewinnen. so entwirft die regie ohne direkte anspielungen auf heutige
politiker und wirtschaftsbosse ein drastisches und aktuelles bild:
rivalisierende clans, besitz- und machtgier, eskalation total („ihrem ende
eilen sie zu, die so stark im bestehen sich wähnen“). da das grosse ensemble von
sehr heterogener qualität ist, entstehen immer wieder unschöne risse im
gesamtbild. vor allem petra lang, stimmlich souverän, vermag die differenzierte
entwicklung der brünnhilde darstellerisch nur sehr undifferenziert umzusetzen.
georg fritzsch dirigiert das orchestre de la suisse romande nicht spektakulär,
aber durchaus solide, mit einer subtilen steigerung hin zum utopischen schluss: überaus zart wird die erlösung von den verblendungen angedeutet, derweil wotans
walhall im theaterkeller versinkt. dann ist die riesige bühne des grand théâtre
schwarz und leer, alles bereit für einen wie auch immer gearteten neuanfang.
Montag, 11. Februar 2019
ZÜRICH: ENDSTATION SEHNSUCHT
blanche
du bois ist ein wrack. das landgut ihrer familie verlor sie. die vielen männer,
die sie hatte, liebten sie nicht. ihre welt ist zerbrochen. immer wieder greift
lena schwarz, die diese blanche jetzt am schauspielhaus zürich spielt, zur
flasche, sie zittert, sie rauft sich die blonde mähne, wirft wilde blicke um
sich, ihre stimme flackert. der schöne aristokratische schein von früher, den
sie so gerne aufrecht erhalten möchte, löst sich hinter dieser fiebrigen
fassade in nichts auf. eine ergreifende darstellung, ein berührendes porträt.
tennesse williams hat mit „endstation sehnsucht“ (1947) den zusammenprall von
illusion und realität, von verherrlichter vergangenheit und brutalem alltag meisterhaft beschrieben. blanche landet bei ihrer schwester, die mit einem groben kerl
verheiratet ist, der diesem überraschenden familienzuwachs ausser ein paar
erotischen reizen gar nichts abgewinnen kann. michael neuenschwander und lena
schwarz liefern sich williams‘ zerfleischende dialoge nicht überhitzt und
verschwitzt, sondern in eiskalter verzweiflung. regisseur bastian kraft
verzichtet auf jegliches südstaaten-setting: die wenigen figuren begegnen sich
auf einem leeren, quadratischen podest, das sich ununterbrochen dreht, mal
langsamer, mal schneller. was durchaus nervig sein könnte, entwickelt hier eine grosse intensität, einen immer heftiger werdenden strudel der gefühle.
besonders eindringliche momente werden in grossaufnahme auf fallenden
trockeneis-nebel projiziert und miriam maertens singt neben dem podest
grossartig illusionslos ein paar songs von tom waits. noch mehr flackern, noch
mehr untergang. blanche endet in der klinik.
Freitag, 8. Februar 2019
LUZERN: DAS KANTONSSPITAL ALS KUNSTMUSEUM
man
kennt das in den spitälern: eine patientin klebt das matterhorn an die tür,
damit sie ihr zimmer wieder findet; die pflegenden pinnen die postkarten aus
den ferien an die wand; die stationschefin lässt saisongerecht dekorieren,
clowns, osterhasen, sterne – und irgendwo hängt auch noch ein wenig kunst. so
nicht, hat sich pius jenni gesagt, der leiter bau und architektur am luzerner
kantonsspital. sein budget für kunst – nicht höher als an anderen spitälern –
wandert seit 2013 zu den beiden künstlern wetz und silas kreienbühl, die als kuratoren
freie hand haben, um die öffentlichen bereiche im spital mit ausstellungen zu
beglücken. und ein glücksfall ist dies in der tat, denn für jede abteilung
suchen und finden die beiden eine individuelle lösung und die dazu passenden
künstler. im zentrum für notfall- und intensivmedizin beispielsweise sind nicht
die patientinnen (die da ganz andere sorgen haben) das zielpublikum, sondern
mitarbeitende und wartende. in der etage mit vielen dementen hängen einfache, farbige, gegenständliche bilder, die bei der orientierung helfen. die direktionsetage
zieren wuchtige plastiken aus edlem holz und grossformatige abstrakte bilder.
in der privatabteilung gibt’s „zimmer mit seesicht“, meditative ufer-filme auf
grossbildschirmen. kunst und ästhetik sollen, so die wetz-philosophie, im
ganzen haus auf gleich hohem niveau sein wie die medizin. das hat stil und es
gelingt, weil die kuratoren auf einen riesigen fundus an beziehungen im in- und
ausland zurückgreifen können. die künstlerinnen und künstler schätzen die
möglichkeit, hier ein ganz anderes publikum zu erreichen als in ateliers und
galerien. das luzerner kantonsspital ist also nach und nach, fast unmerklich, auch
ein kunstmuseum geworden. und kein kleines.
Donnerstag, 7. Februar 2019
ZÜRICH: YVONNE, DIE BURGUNDERPRINZESSIN
stellen
sie sich eine junge, hübsche prinzessin vor. exakt so sieht gottfried breitfuss
nicht aus. sein gesicht ist mehr breit als hoch, seine mundwinkel hängen weit,
sehr weit nach unten, die augen sind zugekniffen, die blonde pagenperücke und
das beige dessous-kleidchen passen wie die faust aufs auge. „man kann doch
nicht nur aus mängeln bestehen“, empört sich jemand bei hofe. mit „yvonne, die
burgunderprinzessin“ hat witold gombrowicz 1934 eine grandiose groteske über
die hohlheit aristokratischer kreise und rituale geschrieben. diese
lethargische, einsilbige prinzessin, die völlig aus der form fällt, nötigt ihr
umfeld, die form zu wahren. barbara frey, die intendantin des zürcher
schauspielhauses, inszeniert und seziert das im schiffbau mit viel lust am spass,
mit rasantem tempo, exquisiter musik und – vor allem – einem hervorragenden
(reinen männer-)ensemble, aus dem neben prinzessin breitfuss vor allem markus
scheumann als königin margarethe heraussticht, mit einem 80 zentimeter hohen,
platinfarbenen haarturm und den mit abstand giftigsten bemerkungen und blicken.
zwei stunden schaut man der allerersten liga dabei zu, wie sie in einem
hässlichen blau-goldenen salon diesen hässlichen mädchenkloss mit projektionen,
hoffnungen und häme auflädt, um sich dann wieder an ihm abzuarbeiten. „wir sind
in sie hineingeraten. nun müssen wir sehen, wie wir wieder aus ihr
herausgeraten“, schreit michael maertens als thronfolger und yvonnes verlobter
ebenso verzweifelt wie zutreffend. die grausamkeit der einsamkeit nimmt für
yvonne ein rasches ende: in übler absicht serviert man ihr eine karausche, sie
erstickt an einer gräte, gottfried breitfuss röchelt und hustet und kippt auf den tisch, grosse oper.
Montag, 28. Januar 2019
MÜNCHEN: YUNG FAUST
wieder
mal faust, wieder mal anders. „yung faust“ nennt sich die inszenierung von
leonie böhm an den münchner kammerspielen. yung, noch yunger also als young.
yung stellen viele cloudrapperinnen ihren künstlernamen voran, um den frischen
zugriff auf die welt noch zu unterstreichen. damit ist der sound vorgegeben,
den der hinter zottelfrisur und bärenfell versteckte johannes rieder dann mit
seiner live-musik aufnimmt. „hier bin ich mensch, hier darf ich´s sein“ singt,
respektive brüllt benjamin radjaipour über den dröhnenden synthie-flächen ins
publikum, berauscht und befreit. doch wo der eine sein menschsein auslebt, wird
der andere tangiert: annette paulmann fühlt sich bedrängt, belästigt, stösst
den kollegen, dessen mutter sie sein könnte, zurück, wehrt ihn ab, die beiden landen raufend am boden vor dem
springbrunnen auf der spielfläche, der ganz zweifellos ein jungbrunnen ist.
hier am wasser wird auf der suche nach der eigenen identität und dem „was die
welt im innersten zusammenhält“ doch ein bisschen gar viel rumgelümmelt und
rumgespritzt, erotik inklusive. das best-of der faust-zitate, dieses
unbefangene befragen und sezieren von klassischen versen, gelingt den drei
lümmelnden und spritzenden (neben paulmann und radjaipour noch julia riedler),
die alle mal faust, mal mephisto, mal gretchen sind, allerdings ganz trefflich.
selten hat man den versuch, in der inneren leere spurenelemente von gefühlen zu
finden, so unbefangen und verspielt gesehen. ein spass mit tiefgang. „ich will
in dieser stunde mehr gewinnen als in des jahres einerlei“, sagt faust.
konsequenterweise dauert das ganze nur eine knappe stunde, mehr fäustchen also
als faust. ideal – und das ist keineswegs abwertend gemeint – ideal für
gymnasialklassen ohne sitzleder.
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