Freitag, 22. März 2019

HAMBURG: DIE STADT DER BLINDEN

ein verlassenes irrenhaus dreht sich auf der riesigen bühne des hamburger schauspielhauses, morbide stimmung, dann werden hier blinde interniert, zunächst nur ein paar wenige, dann immer mehr, die blindheit breitet sich epidemisch aus, also quarantäne, brutal autoritär kontrolliert. josé saramago hat mit "die stadt der blinden" (1995) einen beklemmenden roman geschrieben über eskalation, chaos und den verlust von würde in einer ausnahmesituation. einen essay über die blindheit der herzen. regisseur kay voges macht daraus ein von pessimismus und aggression triefendes theater-video-performance-gesamtkunstwerk mit viel kotze und kacke, ausbeutung und erniedrigung, vergewaltigung und mord. diese menschen ersparen sich in ihrer enge und ihrer verzweiflung gar nichts. frauen lassen sich zu sex erpressen, weil sie und ihre männer sonst nichts mehr zu essen kriegen. die inszenierung ist ein drastisches konzentrat von metaphern für eine kaputte welt. eine bewusst provozierende grenzerfahrung, selbst für geübte theatergänger. saramagos roman besticht auch durch die präzise zeichnung der total unterschiedlichen reaktionen und strategien der einzelnen figuren. diese differenziertheit bringt das enorm geforderte riesenensemble (23 leute!) allen blut- und fäkalexzessen zum trotz hervorragend auf die bühne. die einzige sehende (sandra gerling, herausragend) beginnt in diesem desaster, folgerichtig, zunehmend zu pendeln zwischen retterin und rächerin. theater ist live-kunst und berührt wie keine andere kunstform auch physisch. dieses elend und diese widerwärtigkeiten landen ungebremst im kopf und im bauch. die apokalyptischen bilder brennen sich auf unserer netzhaut ein, nicht nur während der finalen 20-minütigen stroboskop-orgie, sondern weit darüber hinaus. wie blind sind wir in dieser welt?

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