wer
an den „rosenkavalier“ von hugo von hofmannsthal und richard strauss denkt, hat
immer gleich die bilder im kopf parat: putzige rokoko-interieurs, puder,
perücken, parfümierte parvenus. claus guth (regie) und christian schmidt (bühne)
wählen an der oper frankfurt einen anderen ansatz für das spiel um werden und
vergehen der liebe: das café sperl in der gumpendorfer strasse in wien, wo das
dunkle holz und die düstergelben wände noch heute schwer das ausgehende 19.jahrhundert
atmen, inspirierte die beiden zu einem beklemmenden sanatorium, melancholie
total. hier ist die feldmarschallin patientin, unheilbar, ihre mésalliance mit
dem 17jährigen oktavian scheint in weiter ferne, sie gönnt ihm sein leben, sie
hilft ihm zu seiner sophie, denn ihre zukunft heisst alter, nicht jugend: „man
ist dazu da, dass man’s ertragt. und in dem ‚wie‘ da liegt der ganze
unterschied.“ amanda majeski ist für die rolle der marschallin eigentlich zu
jung – und doch eine traumbesetzung: keine verbitterte frau eben, sondern eine
weise und offene, die das leben liebt und strauss‘ hinreissender melodienfülle
mit lodernder, leichter stimme alles, wirklich alles abgewinnt, das
komödiantische und das tiefschürfende. auch die anderen hauptrollen sind toll
besetzt (paula murrihy, christiane karg, bjarni thor kristinsson), doch ihr
gehört dieser abend: die ganze oper wird – musikalisch und szenisch absolut
konsequent – zu einem einzigen rückzug, einem abschied mit grösse und stil. am
ende, wenn sich die zwei jungen liebenden definitiv gefunden haben, wendet sich die marschallin dezent ab, legt sich aufs klinikbett und lässt los. die vergänglichkeit überholt die
zeit. ein kleines mädchen findet sie zum schlussakkord, kalt.
Dienstag, 7. Juli 2015
Samstag, 4. Juli 2015
ZÜRICH: GIANNA UND DIE RÜSTIGEN RENTNER
die
dame gehört nicht mehr zu den jüngsten. die dame sollte bei 31 grad am schatten
eigentlich keinen hochleistungssport mehr betreiben. die dame ist 61. sie trägt
ein weisses t-shirt mit der aufschrift „sex, roll, rock, drugs“. sie trägt
dieses t-shirt zu einer edlen olivfarbenen trainingshose mit weissen streifen
und einer jacke aus rotem leder oder eher kunstleder. das würde bei jeder
anderen frau in diesem alter peinlich wirken. nicht bei gianna nannini. sie ist
so was von fit und so was von gut drauf an diesem traumhaften abend beim „live
at sunset“ im zürcher dolder. ciao a tutti, sagt sie, wie eh und je, und legt
dann los: i maschi innamorati, io senza te, latin lover, oh marinaio, profumo,
america, bello e impossibile. es sind die songs, mit denen frau nannini das
publikum durch die vergangenen vier (!)
jahrzehnte begleitet hat – und dies mit einer beachtlichen erfolgsquote:
viele rüstige rentner summen und pfeifen und klatschen und stampfen mit, was
das zeug hält, und retten ihre wilde vergangenheit in eine immerhin noch
halbwilde gegenwart. älter werden mit gianna, nicht das schlechteste programm.
power und poesie, nicht der schlechteste mix. immer wieder zwinkert sie
jemandem zu, scherzhaft, herzlich, wie unter alten freunden. alles stimmt an
diesem abend, und deshalb schreckt sie auch vor den grössten schnulzen nicht
zurück: „volare“, mit dem domenico modugno 1958 am festival von sanremo abgeräumt
hat, italien ist überall, volare con tutti, nel blu dipinto di blu.
Freitag, 3. Juli 2015
GISWIL: HUISSOSSÄ UND MAGISCHE MOMENTE
am
anfang waren alle skeptisch. die, die’s organisiert hatten. und die, die gar
nicht anders können. doch das volkskulturfest „obwald“ auf der gsang-lichtung
bei giswil wurde schneller als erwartet ein voller erfolg und gehört
mittlerweile zu den sommerlichen musts. auf dem parkplatz autonummern aus
luzern, solothurn, zürich, basel und deutschland - und im publikum sieht man
jetzt, beim zehn-jahr-jubiläum, sogar die eine und den anderen obwaldner, die
anfänglich gar nicht anders konnten als skeptisch-sein. gut so. weiter so. immer
noch braucht’s für die speisekarte übersetzungshilfe: säimerwurscht und
ruichbrot, essiggmiäs, huissossä (das ist kein einheimischer jodel, sondern die
haussauce). lokales auf dem teller, globales auf der bühne: tamara riebli in
obwaldner tracht und nguyen thi trung in vietnamesischer seide machen gemeinsam
den anfang und dann, ja, sind sie alle wieder da zu diesem jubiläum, verteilt
auf zwei wochenenden, die vietnamesen mit ihren saiten- und bambusinstrumenten,
die familia bermudez aus andalusien, für deren flamenco-performance die bühne
verstärkt werden muss, chimi wangmo aus bhutan, die appenzeller, die
toggenburger, die greyerzer. sie wärmen die herzen. und wenn dann (welch klingende namen) omar bandinu, bachisio pira, marco serra und arcangelo pittudu bei vollmond zu ihren
obertongesängen ansetzen, die von tierstimmen, von wind und wellen inspiriert
sind, dann rührt das auch mal zu tränen. die vier sarden sind bekannt als
tenores di bitti, ihre melodien gehören zu den immateriellen kulturgütern der
unesco und sind hier im nächtlichen wald einfach einer von vielen magischen
momenten.
Sonntag, 14. Juni 2015
MÜNCHEN: DER STRASSENKÖTER KOMMT
johan simons also ist auf die zielgerade eingebogen, derweil matthias lilienthal, der künftige intendant der münchner kammerspiele, gerade so richtig warmgelaufen scheint. und es steht nicht zu befürchten, dass er es sich, den kammerspielen und dem münchner publikum zu bequem macht: "ich bin ein kleiner berliner strassenköter, und wenn man dem sagt, geh rechts rum, geht er aus prinzip links rum." das ist, in einem sehr langen interview mit christine dössel von der "süddeutschen zeitung", der allerletzte satz. und also programm.
Samstag, 13. Juni 2015
MÜNCHEN: HOPPLA, WIR STERBEN!
kriegsähnliche
zustände sollen jeweils herrschen bei louis vuitton in münchen, wenn arabische
kundinnen nur drei taschen kaufen dürfen pro person, obwohl sie gerne zehn
hätten. beschluss der geschäftsleitung. kriegsähnliche zustände, sagt zmarak,
der bei louis vuitton gearbeitet hat, im neuen stück von arnon grünberg. der
niederländische autor hat sich für „hoppla, wir sterben!“ während mehreren
monaten von den menschen in dieser stadt, den eingeborenen und den zugereisten,
den auffälligen und den unauffälligen, inspirieren lassen zu einem subtilen
text über identität und internationalität. den roten faden liefert ein
abwesender, oberstleutnant fuchs, der in afghanistan verschwunden ist. frau
fuchs redet über ihn und frau merkel, ein beinloser und ein interkultureller
berater, passanten in allen varianten. die stadt, die sie verbindet, ist in der
inszenierung von johan simons ein gigantisches, zwei stunden lang loderndes
lagerfeuer. hier treffen sie sich oder auch nicht, hier reden sie miteinander
oder für sich. „identität ist ein aufrichtiges spiel mit dem anderen.“ aufrichtig
und unspektakulär spielen sie sich durch grünbergs text - 19 szenen, die
zeigen, wie die globalisierung jeden trifft und jeden anders. es ist johan
simons‘ letzte inszenierung als intendant der münchner kammerspiele: kein
knaller, sondern eine sorgfältige, stille meditation. die offenheit für andere
menschen, andere ideen, andere argumente, die hier während fünf jahren programm
war, sie bekommt noch einmal ihren platz.
Samstag, 11. April 2015
ROMA: TRAUMNOVELLE (DOPPIO SOGNO)
eher
unvorteilhaft gebaute herren in vulgären slips und mit überdimensionierten
winnie-the-pooh-plüschmasken sind nicht das erste, was mir zum stichwort
"erotische phantasien" einfällt. meiner gemahlin übrigens auch nicht.
mit genau solchem personal aber bevölkert regisseur giancarlo marinelli seine
inszenierung von arthur schnitzlers "traumnovelle" am grossen teatro
quirino in rom. das ausgeklügelte spiel zwischen dem arzt fridolin und seiner
gattin albertine, die sich mit erotischen phantasien und geheimen wünschen
zunächst necken und später, wenn sich die grenzen von traum und wirklichkeit
verschieben oder aufheben, zutiefst verunsichern, entbehrt hier jeder
raffinesse; ein gespür für intimere szenen oder für das abgründig-knisternde
der vorlage entwickeln weder regisseur noch schauspieler. da wird nicht mit feinen
verbalen klingen gefochten, sondern mit brusthaarteppichen gewedelt. fridolins
mutter wird unvermittelt zu einer hauptfigur, ihre schimpftiraden auf sohn und
schwiegertochter geraten zu hässlichen und letztlich unmotivierten arien; der
verdacht liegt nahe, dass die ältere kollegin im ensemble auch wieder mal
rollenfutter brauchte. und auch den verdacht, dass einem mit rai und mediaset
sozialisierten publikum selbst ein ernsthafter, tiefgründiger stoff nur noch in
knalliger variété-verpackung zugemutet werden kann, werden wir nicht ganz los.
schnitzler a roma: es war eine art mutprobe.
Mittwoch, 8. April 2015
ROMA: FUTURO
walter
veltroni, ehemaliger bürgermeister von rom und ehemaliger italienischer
kulturminister, hat mit kindern einen film gedreht. über ihre welt. über ihre
geheimnisse. über ihre träume. "i bambini sanno" läuft noch nicht in
den kinos, erst der trailer. und da werden ein paar kinder am schluss gefragt,
ob sie die zukunft eher mit sorgen oder eher mit hoffnung verbinden. ein junge
mit down-syndrom antwortet: "futuro è una bella parola." er sagt es
herzlich und er sagt es überzeugt.
Dienstag, 7. April 2015
ROMA: BRIEFE INS LEERE
ein
grosser dunkler raum. im alten teil von zaha hadids maxxi in rom hängen fünf
zimmerhohe screens unregelmässig angeordnet in der schwarzen leere. darauf ein
paar vereinzelte menschen in einem einst repräsentativen, mittlerweile
heruntergekommenen festsaal, fahles licht von aussen, die offensichtliche
inszenierung einer belasteten zeit: auf einem bildschirm sitzt eine ältere frau
auf einer bettkante, ein mann wie ein beichtvater ihr gegenüber; auf einem
anderen ein jüngerer mann grübelnd an einem alten schreibtisch; stille,
schweigen, keine bewegungen. zu dieser bleiernen ereignislosigkeit lassen die
beiden albanisch-italienischen videokünstler adrian paci und roland sejko auf
der tonspur briefe lesen, briefe aus der zeit nach 1943, als über 20'000 italiener
nach der okkupation für jahre in albanien festgehalten wurden und keinen
kontakt zur heimat haben durften. es sind briefe von angehörigen, geliebten,
müttern, brüdern. zunächst überrascht, solange nichts zu hören, dann
verzweifelt, dann hoffnungslos. "dopo mesi e mesi che non ho più notizie
del tuo arrivo, non posso più nascondertelo, tuo padre è morto otto mesi
fa." und in der letzten phase versuchen sie sich mit dem unausweichlichen
zu arrangieren, weil zum beispiel entscheidungen nicht länger aufgeschoben
werden können, weil grössere ausgaben beschlossen werden müssen. es sind
briefe, die ihre empfänger nie erreichen. briefe ins leere. auch umgekehrt,
auch die post aus albanien gelangt nicht nach italien. zwei länder, keine 100
kilometer und doch durch die geschichte welten voneinander entfernt. die säcke
mit all den ungelesenen briefen wurden erst jahrzehnte später im albanischen
staatsarchiv entdeckt. jetzt liegen diese briefe im maxxi, am eingang zum
grossen dunklen saal.
Mittwoch, 1. April 2015
ROMA: LUCIA DI LAMMERMOOR
staatspräsident
sergio mattarella betritt mit entourage die königsloge. der botox-gesättigte
saal erhebt sich und applaudiert. dirigent roberto abbado setzt an, nicht zur
ouverture, sondern zur italienischen nationalhymne. der botox-gesättigte saal
erhebt sich erneut und singt ergriffen mit. eine opernpremière als staatsakt.
geehrt wird starregisseur luca ronconi, der am 21.februar 83jährig starb. er
hätte diese "lucia di lammermoor" an der opera di roma inszenieren
sollen; das konzept stand, die proben allerdings konnte er nicht mehr leiten.
seine mitarbeiter übernahmen. das resultat: zwiespältig. auf der positiven
seite die bühnengestaltung, die sich jedem realismus widersetzt und
eindrückliche psychologische räume schafft, hell und hoch und trotzdem ausweglos
wie ein kerker, ein kloster, ein kastell. hier gibt es kein entrinnen, für
lucia nicht (die aus familienräson den falschen mann heiraten muss) und ebenso
wenig für all die drahtzieher, die sie umgeben. doch dieser visuelle ansatz
findet im szenischen keine entsprechung. die protagonisten, eh schon ziemlich
steif gehalten in den kostümen aus der schaffenszeit von donizetti, werfen sich
in die konventionellsten opernposen, da entsteht keine spannung zwischen den
figuren, viel plumpes rampensingen, nix raffinierte psychologie - das kann
ronconi so nicht gewollt haben. jessica pratt (lucia), marco caria (enrico) und
stefano secco (edgardo), deren leidenschaftliche stimmen prächtig harmonieren,
verleihen dem abend immerhin eine ganze reihe vokaler glanzlichter. ein
stimmenfest für den toten regisseur.
Sonntag, 15. März 2015
ST. GALLEN: LUCREZIA BORGIA
bei der party in der gestylten weissen villa hebt einer kurz den weissen
teppich. darunter: blut, noch schön frisch. leichen pflastern den weg von
lucrezia borgia, tochter eines papstes, blutschänderin, ehebrecherin,
giftmischerin, berüchtigt, wenn auch historisch nicht einwandfrei verbürgt. in
seiner inszenierung von donizettis oper am theater st. gallen verlegt tobias
kratzer die handlung von der renaissance ins heute, mit viel attraktivem,
geschniegeltem jungvolk, was den italo-mafia-intrigantenstadel nicht weniger
nachvollziehbar macht, im gegenteil. der kontrast zwischen donizettis süffigem
belcanto und den wachsenden leichenbergen nimmt schon beinahe parodistische
dimensionen an, zumal pietro rizzo mit dem sinfonieorchester st. gallen
gelegentlich ziemlich dick aufträgt. doch die regie nimmt die figuren durchaus
ernst, allen voran jene im zentrum: katia pellegrino als lucrezia, die sich in
den eigenen unehelichen sohnemann gennaro – anicio zorzi giustiniani, so heisst
er und so singt er – in den sohnemann also verliebt und ihn versehentlich
auch vergiftet, ist nicht einfach das rachsüchtige machtweib, sondern eine von
sehnsucht, angst und verzweiflung getriebene frau. ein eindrückliches rollenporträt,
auch stimmlich, mit einem von intimen momenten hin zu dramatischen ausbrüchen
reich differenzierenden sopran. schlicht genial ihr auftritt als todesengel im kleinen
schwarzen, wenn sie im letzten akt ihren bereits am boden röchelnden giftopfern
mit stechendem blick mitteilt, dass ihre fünf särge schon bereitstehen vor der
villa. wie heisst es jeweils so schön: wenn sie krimis mögen, mögen sie auch
diese oper.
Samstag, 7. März 2015
MÜNCHEN: MEG STUART, HUNTER
eine
frau sitzt an einem tisch, schneidet konzentriert bilder aus ihrer kindheit und
jugend aus, klebt sie neu zusammen. die frau ist meg stuart, die 50jährige
tänzerin und choreografin aus den usa, die heute in brüssel und berlin arbeitet
(damaged goods). es ist ihr erster solo-abend, und die bilder-schnipselei legt
die spur: während eineinhalb stunden tanzt sich meg stuart in der spielhalle
der münchner kammerspiele durch ihre biografie. der titel des abends („hunter“)
macht deutlich, dass kein sentimentales zurückdenken angesagt ist, sondern ein
mitunter aggressives suchen nach stationen und ereignissen, die sie geprägt,
die in ihrem kopf und in ihrem nach wie vor höchst athletischen körper spuren
hinterlassen haben. eine psychische und physische erinnerungsarbeit, an der sie
das publikum teilhaben lässt. zu einer sehr suggestiven tonspur aus geräusch-,
gesprächs- und musikfetzen entstehen expressive bilder und bewegungen, berührend,
beklemmend, erschöpfend – das bild einer vielschichtigen choreografin, neu
zusammengeklebt. und bevor sie, kreisend und schreiend, zu einem höchst ironischen yoko-ono-finale
ausholt, setzt sie sich zum publikum und erzählt ein paar geschichten aus ihrem
leben, in vertraulichem ton: wie sie tänzerin wurde, weil sie sich wie eine lieblings-trickfilmfigur
zum verschwinden bringen wollte. oder wie sie sich jetzt, wo ihre grosse kollegin
trisha brown an demenz leidet, immer wieder fragt, was wir wohl träumen werden,
wenn wir uns nicht mehr erinnern.
Freitag, 6. März 2015
MÜNCHEN: SING MAL WAS AUF RUSSISCH
keine
party und kein abend mit freunden, wo genija rykova diesen satz nicht hören
muss: „sing mal was auf russisch!“ rykova ist schauspielerin am residenztheater
in münchen und hat sibirische wurzeln. jetzt erfüllt sie diesen wunsch gleich
abendfüllend, tritt im marstall mit timoschenko-frisur und im aufreizend
knappen glitterschwarzen auf, nicht als genija rykova, sondern als irina
klischevetskaja. und singt sich, nomen est omen, ironisch den ganzen klischees
entlang, singt all die volkslieder und schlager von bären und beeren und
birken am baikalsee, von aufgeschlitzten müttern und dem mann mit der axt. mit samtener
stimme kostet sie all die zisch- und schlürflaute ihrer muttersprache lustvoll
aus und die melancholie fliesst ihr literweise über die lippen. ein ganz und
gar unpolitischer abend also. begleitet wird genija/irina von einer formidablen
vierköpfigen jazzformation (die sie als ihre vier sibirischen brüder
vorstellt), was die russische folklore einerseits ganz hervorragend erträgt und
dem konzert anderseits, in raumgreifenden instrumentalsoli etwa, auch eine
zusätzliche, reiche dimension verleiht. zwischendurch werden russische gewürzgurken
durch die dichten publikumsreihen gereicht und wodka ausgeschenkt, nicht aus
der flasche, sondern gleich aus dem 20-liter-kanister. man könnte von russland
träumen. wenn man denn ausgerechnet jetzt von russland träumen wollte.
Donnerstag, 5. März 2015
OUARZAZATE: LAMM-EINTOPF
„la
caravane des épices“ – was für ein märchenhafter name für einen laden in einer
unscheinbaren seitenstrasse in einem unscheinbaren aussenquartier von
ouarzazate. aber „la caravane des épices“ ist eben nicht einfach eine unscheinbare
gewürz-boutique, sondern eine akkurat eingerichtete apotheke, die neben
sandelholzölen und arganölen und anderen köstlichen essenzen auch erlesene gewürze
verkauft. in diesem kleinen paradies haben wir im herbst unser ras el hanout
erstanden, den duft marokkos: eine mischung aus über 25 gewürzen, darunter
koriander, kurkuma, paprika, muskat, anis, chili, kardamom, lavendel, rosenblätter.
und mit diesem gedicht von gewürz bereiten wir seither unseren lamm-eintopf zu,
kein original marokkanischer, sondern ein marokkanisch inspirierter. wer´s auch
probieren will, braucht dazu: 800 gramm lammschulter, 1 grosse zwiebel, ½ rande,
½ sellerie, 6 kartoffeln, 2 rüebli, ½ quitte, 15 dörraprikosen, rotwein,
bratensauce, ras el hanout, geröstete mandeln, kümel, sesam, frischer koriander. – rande
und quitte mit etwas rotwein in einem separaten topf knackig kochen und später
unters hauptgericht mischen. fleisch und zwiebel würfeln, würzen und anbraten,
auf kleinem feuer garen, später gemüse und früchte beigeben, am schluss mandeln,
sesam und koriander. und schon macht die caravane des épices auch in
mitteleuropa halt.
Montag, 16. Februar 2015
MÜNCHEN: MARIA STUART
„aha“,
sagt sie trocken, als man ihr kundtut, dass sich auch ihr letzter
vermeintlicher vertrauter abgesetzt hat („der lord lässt sich entschuldigen, er
ist zu schiff nach frankreich“). aha. dann bricht bei königin elisabeth von
england die ganze einsamkeit und verzweiflung durch, in die sie sich mit dem
todesurteil gegen maria stuart manövriert hat, die königin von schottland, ihre
cousine und rivalin. fassungslos und bleich steht sie allein auf der bühne der
münchner kammerspiele, ein unkontrolliertes zucken überwältigt ihr gesicht,
minutenlang und immer heftiger, bis sich der eiserne vorhang vor ihr senkt. ein
letzter grossartiger auftritt von annette paulmann, deren elisabeth nur
vordergründig eine starke und mächtige frau ist; hinter der fassade bewegt sie
sich unsicher und kommt im netz aus eifersucht, intrigen und demütigungen kaum
mehr zu luft – ihr enggeschnürtes, hochgeschlossenes, schrecklich gelbes
königinnenkleid ist mehr korsett als prunk. mit brigitte hobmeier ist auch die
stuart erstklassig besetzt, dünnhäutig und schwach und doch bis zur letzten
minute ihres lebens von einer moralischen energie beseelt, die sie nicht
triumphieren, aber doch immer wieder an menschen glauben lässt. regisseur
andreas kriegenburg sperrt die beiden gegenspielerinnen und das männliche
personal in einen bunker aus betonwürfeln, einzig die sprache sorgt für dynamik
zwischen den figuren. die sprache so sehr im zentrum, ein mutiger entscheid, da
sich ganz offenkundig auch grosse schauspieler in schillers komplex
gedrechselten versen nicht mehr einfach heimisch fühlen. aha.
Sonntag, 15. Februar 2015
MÜNCHEN: ERFOLG
bauen,
brauen, sauen – das sei das leitmotiv gewesen, damals in münchen, als lion feuchtwanger
1930 seinen roman „erfolg“ veröffentlichte – ein gewaltiges panorama der
abgründe in bayerns seele und in bayerns politik. diesem 750-seiten-buch und
seinem autor widmete das münchner literaturhaus jetzt eine exzellente
ausstellung: das personal des romans wird hier lebendig, das in jeder beziehung
wilde leben der zwanziger jahre und nicht zuletzt auch die situation des
jüdischen schriftstellers in diesem zunehmend schwierigeren umfeld. in seiner
autobiografie notierte er in der ihm eigenen mischung aus bitterkeit und
sarkasmus: „die stadt zählte im letzten jahr, das der schriftsteller l.f. in
ihr verbrachte, 137 begabte, 1012 über mittelmass, 9002 normal, 537´284
unternormal veranlagte und 122´963 voll-antisemiten. es beweist die
ungewöhnliche vitalität des schriftstellers l.f., dass er in der luft dieser
stadt 407´263´054 atemzüge tun konnte, ohne an seiner geistigen gesundheit
erkennbaren schaden zu nehmen.“ was für ein erfolg.
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