Samstag, 14. Januar 2023

LEIPZIG: OTELLO

statt "otello", nach dem von blinder eifersucht zerbissenen helden, wollte der 74jährige verdi seine zweitletzte oper zwischenzeitlich "jago" nennen, da ihn der rivale mehr interessierte, dieser eiskalte zyniker, der all die verhängnisvollen intrigen spinnt. in leipzig jetzt müsste die oper "desdemona" heissen. regisseurin monique wagemakers rückt das opfer all dieser männlichen machtphantasien und konkurrenzspiele ins zentrum. mit feuerroter mähne steht desdemona auf der dunklen bühne und noch vor dem stürmischen ersten ton werden ausschnitte aus christine brückners berühmtem feministischen monolog zugespielt ("wenn du geredet hättest, desdemona", mittlerweile auch schon 40 jahre alt). mit projektionen auf brautschleier, taschentücher und transparente vorhänge wird während den männlichen ränkespielen - und etwas gar redundant - das vor- und innenleben dieser frau illustriert: leidenschaft, lust, selbstbestimmtheit, desdemona nicht als leidende, sondern im aktivmodus. die australische sopranistin kiandra howarth wie auch xavier moreno als otello und vladislav sulimsky als jago bestechen mit fulminanten stimmen. das eigentliche ereignis des abends findet allerdings im orchestergraben statt: geradezu phänomenal entfaltet das gewandhausorchester unter christoph gedschold den farbenreichtum dieser partitur, mit lyrischer wärme und dramatischer wucht zu den seelischen katastrophen vordringend. diese musikalische höchstleistung gewährt tiefere einblicke in die figuren als dutzende von projektionen. zu verdis zarten letzten takten, nach ihrer ermordung durch otello, erhebt sich die leipziger desdemona und entfernt sich aus dieser femizid-geschichte. ein apotheotischer bogen? weil nicht sein kann, was nicht sein darf?

Montag, 9. Januar 2023

MÜNCHEN: DAS VERMÄCHTNIS

am anfang erzählt einer, wie er auf einer party meryl streeps hund vollgekotzt hat. ein anderer erzählt, wie er zu beginn der hiv-epidemie von einer beerdigung zur nächsten zog. und noch einer erzählt und noch einer. 11 darsteller spielen in matthew lopez‘ bühnenepos „das vermächtnis“ 34 männer. wir sind mittendrin in der new yorker gay-community vor und nach der wahl trumps, es geht drunter und drüber. sechs (!) stunden lang wird – drehbühne sei dank – in chicen appartements gevögelt, in tollen restaurants gegessen, in clubs rumgemacht, in kellerlöchern mit drogen gehandelt, in geschmacklosen villen bissig diskutiert, an stränden geturtelt, in einsamen landhäusern geheult: „der einzige weg, ein gebrochenes herz zu heilen, ist zu riskieren, dass es wieder bricht.“ die inszenierung von philipp stölzl am münchner residenztheater verbindet politische und persönliche episoden, amüsante und traurige, zu einem rasanten gesellschaftspanorama: ein eindrücklicher marathon durch die geschichte und die geschichten der schwulenbewegung, ein marathon zwischen überbordender lust und todesangst, nicht immer ganz kitschfrei. im zentrum stehen der introvertierte eric (thiemo strutzenberger, ein bisschen arg nuschelnd) und sein extrovertierter lebensabschnittspartner toby (moritz von treuenfels), die als paar nicht klar kommen und mit dem vermächtnis aus freiheit und schmerz, das ihnen vorherige generationen hinterlassen haben, ganz unterschiedlich umgehen. toby scheitert an dieser grossen freiheit, die da plötzlich möglich wurde, eric verzweifelt an der mangelnden solidarität in der community, dass sich aus und nach dem begehren nicht mehr entwickelt. es dreht sich viel um sex in diesem stück. und noch mehr um gefühle, echte und falsche und verpasste, um leere und um utopien. das publikum lässt sich mitreissen von diesem strom der emotionen, es verabschiedet das ensemble mit standing ovations. 

Freitag, 30. Dezember 2022

OSTERMUNDIGEN: VON DER BLUTBUCHE LERNEN

das buch des jahres – ja, ganz gewiss ist „blutbuch“, das zuerst mit dem deutschen und gleich anschliessend mit dem schweizer buchpreis geadelt wurde, das buch des jahres – dieses buch also soll jetzt auch den übergang ins neue jahr geistig beflügeln. kim de l´horizons grosser wurf ist sprachmächtig, phantastisch, politisch, persönlich, intim, wild – und phänomenal anregend von der ersten bis zur letzten seite: die verzweifelte suche nach einer identität, die macht der vergangenheit, der siegeszug der blutbuche durch europas vorgärten, neo-materialismus, geschlechterperformance, alles drin. und die grosse frage dabei, die de l´horizon dem baum, in dessen schatten die kindheit vorüberzog, in jedem alter immer wieder neu stellt, stellen muss:  „wie wird mensch eine blutbuche? wie wird mensch so gross und stark wie du?“ dies hier ist keine rezension, sondern eine einladung: machen wir das buch des jahres auch zum buch des nächsten jahres. lassen wir uns beim gross-und-stark-werden und -bleiben inspirieren von dieser blutbuche in ostermundigen: „die lektionen der blutbuche waren: dastehn. das laub abwerfen. ausharren. an neuem laub arbeiten. ausschlagen. verwandeln.“

Sonntag, 18. Dezember 2022

LUZERN: WAS FÜR EIN THEATER?!?!

nein. bitte nicht. bitte nicht dieses theater, das jetzt den architekturwettbewerb für den dringend notwendigen neubau in luzern gewann. eine riesige doppelscheune mit mehrheitlich fensterlosen fassaden will das architekturbüro ilg santer an die reuss stellen. das alte theater lassen die projektverfasser stehen, nicht weil sie es toll finden („für uns ist es nicht in erster linie ein baudenkmal, sondern vor allem ein teil von luzerns kollektivem gedächtnis“), sondern weil sie vermutlich ihre chancen im wettbewerb vermehren wollten. mit grösstem erfolg, wie man sieht. mit ihrer wuchtigkeit ist die doppelscheune von ilg santer eine städtebauliche faust aufs auge, sie erschlägt den alten theaterbau von oben und die jesuitenkirche von der seite. so weit, so unerfreulich. der blick ins innere und auf die pläne macht allerdings auch nicht glücklicher. vermutlich haben diese architekten schon einige mehrzweckhallen entworfen, aber noch nie ein theater. der grosse saal mit 600 plätzen strahlt eine geradezu abweisende nüchternheit und kälte aus. und der bisherige zuschauerraum im altbau, dessen hässlichkeit im halbdunkel der aufführungen ja kaum auffällt, wird zum mehrstöckigen foyer; die hässlichkeit wird so mit mehr licht voll zur geltung kommen. das restaurant schliesslich, das ein treffpunkt für die stadt sein müsste, wird im bisherigen bühnenhimmel versteckt. bestimmt werden vereinzelte hartnäckige den komplizierten weg dorthin finden. das ganze ist ziemlich mutlos (altbau als mitgift) und ziemlich mutig (doppelscheune als monolith an der reuss), kurz: ein flickwerk. ich kann die euphorie der städtischen behörden (oder ist es nur der stadtpräsident?) und der stiftung luzerner theater nicht nachvollziehen.  

Samstag, 17. Dezember 2022

NIEDERRICKENBACH: PFLANZPLÄTZ

zwölf verschiedene örgeli warten hübsch drappiert auf ihren einsatz, schwyzerörgeli, stöpselbassörgeli, langnauerli undundund. ein eindrückliches und vielversprechendes bild. dieses versprechen lösen thomas aeschbacher und simon dettwiler dann aufs tollste ein und bearbeiten diese zwölf örgeli eine runde stunde lang mit grösster leidenschaft und unterstützt von jürg nietlispach am bass und an der gitarre. „pflanzplätz“ nennen sich die drei, die da im rahmen der konzertreihe „a-horn“ in der kirche niederrickenbach ein durchaus atypisches adventskonzert hinlegen. atypisch und doch ausgesprochen stimmungsvoll. ihre melodien sind von fischern in der bretagne genauso inspiriert wie von frauen, die (zu) gerne kleider kaufen, vom spätherbst im emmental wie von schweden im 15. jahrhundert. mal fetzig, mal melancholisch tauchen elemente traditioneller schweizerischer volksmusik auf, dann wieder anleihen aus dem balkan oder dem maghreb. vieles kommt zusammen auf diesem pflanzplätz und alles passt. auch dass die drei nicht singen dazu, sondern ausschliesslich ihre vielen instrumente singen lassen, in allen farben und bis hin zu einem zarten maultrommel-duett als zugabe. einmal mehr hat sich der weg nach niederrickenbach gelohnt, für diese beglückende musikalische reise voller überraschungen: lüpfig, jazzig, groovig.

Freitag, 16. Dezember 2022

LUZERN: DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY

dorian! dorian!! dorian!!! dorian hier, dorian da, alle rufen ihn, alle verzehren sich nach ihm. oscar wildes kunstfigur dorian gray, der die ewige jugend sucht und nur sein bild altern lässt, ist in der inszenierung am luzerner theater kein makellos junger und schöner dandy, sondern der zeit geschuldet ein genderfluides wesen: carina thurner mit platinblondem bubikopf, in einem luftigen bodenlangen gelben kleid und ohne weitere eigenschaften, ist die perfekte projektionsfläche für (ältere) männlein und (jüngere) weiblein. sie alle bewundern diesen dorian und schon nach zehn minuten bespringen sie ihn, verschlingen und verknoten sich und verfallen ihm in einer absurden choreographie. regisseurin katrin plötner erfindet im voll verspiegelten bühnenraum (bettina pommer) und dank witzig-schrägen kostümen (johanna hlawica) immer wieder effektvolle bilder für die dekadenten vergnügungen, für die leeren träume und die schweren traumata dieser hedonistischen gesellschaft. doch wie immer, wenn ein 300-seiten-roman in eineinhalb stunden auf die bühne gewuchtet wird, muss dann alles sehr schnell gehen: figuren werden zu karikaturen und die entwicklung dorians vom wunderwesen, das alle verzaubert, zum egozentrischen, bösen kerl, den das falsche leben im richtigen paranoid werden lässt, bleibt kaum nachvollziehbar. ruckzuck und dieser dorian ist ein anderer, ein eiskalter engel in einem schauerroman. ziemlich spektakulär, das ganze, und - trotz einwänden - gerade in diesen zeiten des instagram-voyeurismus eine hübsche etude über selbstverliebtheit und selbstinszenierung.

Mittwoch, 7. Dezember 2022

LUZERN: ADVENT VOR DEM THEATER

eine stimme. in der nacht. und was für eine stimme. die brasilianische mezzosopranistin marcela rahal, warm eingepackt, schmettert spitzentöne in die stadt. es ist grau, feucht, kalt, luzern im dezember halt. und da singt sie nun, unter dem vordach beim eingang zum luzerner theater, für eine handvoll ebenfalls warm eingepackte passantinnen und passanten. begleitet von william green am e-piano stimmt sie lieder an von claude debussy und ihrem brasilianischen landsmann heitor villa-lobos, von alban berg und george gershwin und dann – „mein schönstes lied ever“ – von gustav mahler das „urlicht“ aus der zweiten sinfonie. berührend singt frau rahal das, zart und strahlend. es ist musik, die wärmt, zu dieser (un)zeit an diesem (un)ort. und tatsächlich wird das publikum grösser und grösser, die intensive stimme wirkt wie ein magnet. einige besorgen sich ein getränk an der pop-up-bar. und damit das wirklich was wird mit der wärme, legt marcela rahal dann auch noch „the girl from ipanema“ nach, rio de janeiro im sommer. dieser „adventskalender“, bei dem das luzerner theater abend für abend von halb sechs bis sechs vors haus einlädt, ist mit seinem täglich wechselnden programm eine hübsche kleine wundertüte – und eine zauberhafte alternative zu den lärmigen grossbesäufnissen an den glühwein-hotspots.

Donnerstag, 1. Dezember 2022

MÜNCHEN: JR CHRONICLES

er tritt immer mit hut und sonnenbrille auf. deshalb kennt man das gesicht des französischen fotografen und streetart-künstlers jr (*1983) kaum und seinen blick gar nicht. für ihn zählen die mienen und die blicke der anderen. er fotografiert und lässt fotografieren, hartnäckig, unermüdlich. seit 2011 wurden 445‘000 seiner porträtposter in 138 ländern an wände geklebt. den menschen und ihren anliegen ein gesicht geben, das ist seine mission. an der grenze zwischen israel und palästina fotografierte jr menschen aus den verfeindeten gebieten, die den selben beruf ausüben, und klebte die grossformatigen paare auf beide seiten der mauer. sie lachen, sie schneiden grimassen, sie zwinkern. was ausser der grenze unterscheidet sie? an der grenze mexiko/usa montierte jr ein überdimensioniertes kind auf den martialischen zaun, das neugierig auf die andere seite blickt. unter dem titel „jr chronicles“ zeigt die kunsthalle münchen jetzt eine grosse retrospektive: riesige menschenpanoramen, fotoserien, videos, so umfassend wie beeindruckend. ein junger mann, der mit 15 in paris zu sprayen und mit 17 zu fotografieren begann, schaut immer wieder genau hin, überall in der welt, bleibt dran und ermuntert die menschen, auch dran zu bleiben, barrieren, ängste, vorurteile zu überwinden und den austausch mit den anderen zu suchen. jr will die welt verändern – und er ist zuversichtlich, dass er einen weg gefunden hat: „mir wurde klar, welche kraft kunst entfalten kann – besonders an den finstersten orten.“   

Montag, 28. November 2022

MÜNCHEN: FEELING FAUST

der alte weisse mann hat ausgedient, die jungen übernehmen. deshalb wird am münchner volkstheater jetzt nicht „faust“ gespielt, sondern „feeling faust“. das beginnt in der inszenierung von claudia bossard mit einer schrägen expertenrunde, die unter anderem den „skandal“ verhandelt, dass im september jetzt auch noch die bayern den „faust“ aus dem kanon für gymnasien entfernt haben. und dann geht’s so richtig los. goethes unkaputtbare zitate werden neu gemixt und aufgeladen, seine höhenangst wird genauso thematisiert wie seine beziehungsangst, die reclamhefte fliegen durch die lüfte, mal wird auf hohem niveau geblödelt, mal werden die verse ganz klassisch-sorgfältig gekaut, des pudels kern erschliesst sich nie ganz, doch ein pudel namens goethe taucht auf und hält das ensemble mit einer maschinenpistole in schach. what a feeling. als helena aus der tragödie zweitem teil vorbeischaut, wummert bedrohlich wagners „tristan“-vorspiel durch die hallen und insta-stories flimmern über den riesigen rundhorizont, erst die natur, dann die katastrophen: „gut und böse, licht und finsternis - die gegensätze bewirken eine spannung, die das lebendige zur steigerung anreizt.“ rüdiger safranski scheint diese inszenierung vorausgeahnt zu haben, in der die suche nach einsicht und das grosse scheitern, ganz faust, hand in hand gehen. immerhin, tonnenweise jugendliche energie im ensemble, assoziatives theater, amüsant und anregend. fährt’s gleich hoch mit uns? oder fährt’s runter? wäre schade, wenn faust nicht nur von den schulen verschwände, sondern auch noch von den bühnen. faust ist ein bergwerk. faust ist pop.

Sonntag, 20. November 2022

MÜNCHEN: DIE GROSSE STILLE AM #FSFMUC

als wollten sie der zunehmend komplexen und krisenanfälligen welt etwas entgegensetzen: viele der rund 50 filme, die im rahmen des 41. filmschoolfests munich (#fsfmuc) gezeigt wurden, zeichnen sich durch eine geradezu grossflächige ruhe aus. der filmnachwuchs in aller welt arbeitet mit unaufgeregter kameraführung, langen einstellungen, unspektakulären schnitten, wenigen worten, grosser ernsthaftigkeit. die geschichten, die sie erzählen, wirken dadurch umso stärker, umso intensiver. die hauptfiguren sind oft opfer angespannter politischer verhältnisse (algerien, somalia, iran, grönland) oder unter verstrickten beziehungen leidende (übergriffe, generationen-clash, end of love). sehr oft gelingt den jungfilmerinnen und jungfilmern eine eindrückliche synthese von gesellschaftlicher relevanz und filmischer poesie. „and the winner is…“: die festivaljury hat sich für den stillsten aller stillen filme entschieden. der mit 10‘000 euro dotierte young talent award des filmschoolfests geht an younès ben slimane (tunesien/frankreich) für „we knew how beautiful they were, these islands“. 20 minuten stille, 20 minuten dunkelheit, ein mann beerdigt in einer nächtlichen wüste würdevoll ihm unbekannte menschen. die persönlichen gegenstände der verstorbenen tauchen kurz auf im licht seiner stirnlampe, flüchtige erinnerungen an menschen, die unterwegs zu einem besseren leben den tod fanden. film als zeitzeugnis und meditation.

Samstag, 19. November 2022

MÜNCHEN: NEWS FROM THE PAST

1931, 1932, 1933….. was da in deutschland lief, ist bekannt. und in der ukraine? der kyiver regisseur stas zhyrkov lässt im werkraum der münchner kammerspiele zwei schauspielerinnen und zwei schauspieler aufeinander treffen, zwei aus der ukraine, zwei aus deutschland. das ziel: ein radio-feature über vergangenheit und erinnerung, gewalt und leid und die zyklische wiederkehr des grauens. „news from the past“ beginnt mit aufnahmen aus radio-archiven statisch, entwickelt dann aber sehr schnell einen enormen sog: wenn berichtet wird, wie während dem holodomor, der von russland inszenierten hungersnot in der ukraine, in den dreissiger jahren millionen menschen starben und gleichzeitig attraktive kochbücher erschienen. oder wie stalin die spannendsten intellektuellen in charkiw umbringen und die ukrainische kultur auf ländliche folklore reduzieren liess. diese hinrichtung der kultur hinterlässt spuren bis jetzt: „damals tötete man uns, die zukünftigen menschen, wir wären andere“, sagt der 32jährige schauspieler dmytro oliinyk, „wir wären andere...“ seine kollegin vitalina bibliv fasst das ukrainische trauma zusammen: „die russen töten uns seit jahrhunderten – und die ganze welt denkt nur an dostojewski und ballett.“ welt, mach eine pause. „wir sind müde geworden“, sagt vitalina, die in der ukraine eine bekannte schauspielerin ist und dieses jahr zur chefin eines luftschutzbunkers wurde. sie hat es gern gemacht, sie war nützlich, sinnvolle arbeit in einem sinnlosen krieg. der beste freund von dmytro verlor bei der annexion der krim beide beine und jetzt im krieg das leben. dmytro schreibt den namen des freundes auf einen zettel, er kniet am boden, daneben leere zettel noch ohne namen, das vakuum in seinem kopf füllt den ganzen raum. man sitzt da, zutiefst betroffen und berührt. sie weinen, sie verzweifeln, sie schreien, sie sind erschöpft. und das tröstliche an diesem abend: sie geben nicht auf, sie schauen dem monster in die augen.

Montag, 14. November 2022

LAUSANNE: TIME OF MY LIFE

„have you ever been at a family dinner and wondered how you are related to those people?“ es geht drunter und drüber in alan ayckbourns „time of my life“ – und die ankündigung der village players, die in lausanne seit 30 jahren das englischsprachige publikum bespassen, trifft den nerv: familie kann herausforderung und hölle sein. geburtstagsparty der mutter, der vater lädt ein, man trifft sich beim italiener, der ältere sohn mit gemahlin, der jüngere (dario brander – that’s why we were there) mit seiner neusten errungenschaft. passt diese exaltierte friseurin in die familie? schon geht's los, es wird getrunken, gelästert, gekotzt. an zwei tischen neben der bühne gibt’s rückblenden zum beginn der beziehung des jüngeren sohnes und ausblicke aufs ende der ehe des älteren. eine raffinierte übungsanlage für ein fast dreistündiges konversationsstück. in der mitte und in der gegenwart lässt ayckbourn die eltern ihre lebenslügen abarbeiten, hard work, und der kellner befeuert die intrigen. ilona horvath hat mit den sieben laien einen lockeren plauderton erarbeitet, das familiensetting wirkt dadurch ausgesprochen authentisch. im gegensatz zum autor belohnt die regie allerdings nicht alle figuren mit der gleichen empathie, einzelne wirken differenziert, andere geraten zu karikaturen. komödie oder drama, das ist hier die frage. horvath will sich nicht entscheiden; die komödie vertrüge mehr biss, das drama mehr tiefe. doch ayckbourns grosse themen bleiben auch so immer präsent: wer vermag brüche zu heilen? und wo hat sich schon wieder das verflixte glück versteckt in der beziehungskiste? der ältere sohn hat da eine vermutung: „i think we’re happy. aren’t we? who the hell ever knows when they’re happy?“ familie und glück müssen kein widerspruch sein. zum glück.

Montag, 7. November 2022

LUZERN: EUGEN ONEGIN

bettina oberli kennt man als filmregisseurin („die herbstzeitlosen“, „tannöd“, „wanda, mein wunder“), oper war bis jetzt nicht so ihr ding. ihr debut mit tschaikowskis liebesdrama „eugen onegin“ am luzerner theater darf als durchaus gelungen bezeichnet werden. in allen drei akten steht eine figur im zentrum, drei mal gelingt oberli eine eindrückliche, die musik sehr ernst nehmende psychostudie: im ersten akt verzehrt sich tatjana (eyrún unnarsdóttir mit dramatischem sopran) in ihrer von onegin unerwiderten liebe und schreibt den berühmten brief aufs höchste erregt mit kreide an die wände ihrer kammer. im zweiten akt zeigt ziad nehme mit betörendem tenor einen zutiefst verzweifelten, vor eifersucht kranken lenski, der vor dem duell mit onegin von todessehnsucht erfüllt ist. und der schlussakt wird dominiert von onegins grossem monolog über verpasste chancen, unerfüllte träume, ein nicht gelebtes leben; mit warmem bariton findet der junge jiří rajniš zur finalen melancholie. drei wirklich grosse szenen. warum kapellmeister jesse wong der kitschgefahr des tschaikowski-sounds vor allem mit lautstärke begegnet, warum kostümbildnerin laura locher einige figuren in pippi-langstrumpf- und bajazzo-kostüme steckt und warum onegin zum duell eine art biene maja als sekundanten mitbringt – das bleiben die irritierenden geheimnisse dieses abends. und vielleicht war ja alles auch ganz anders. vielleicht haben sich die beiden männer geliebt, was mit bezug auf tschaikowskis biografie nachvollziehbar wäre. diese möglichkeit wird hier nur kurz ins spiel gebracht, in einem entscheidenden augenblick allerdings: durch einen angedeuteten, dann abgebrochenen kuss zwischen lenski und onegin unmittelbar vor ihrem tödlichen duell. noch so ein intensiver moment.

Samstag, 29. Oktober 2022

ZÜRICH: DIE NZZ ALS TISCHSET

sie hat es getan. pipilotti rist hat die nzz vollgepinselt. auf fast allen seiten mit fast allen farben. wild und frech und träumerisch. auch der nzz gebührt ein kompliment für diese für ihre verhältnisse geradezu übermütige idee. in einem zweiseitigen (zwei!!) interview, das einem pipilotti rist noch sympathischer macht als sie es eh schon war, erläutert sie ihre farbenlehre auch anhand ihrer kleiderwahl: „wer bunt durch die welt geht, zeigt sich offen für gespräche auch mit unbekannten menschen. das verlange ich von mir.“ neben den bemalten newsseiten enthält das gesamtkunstwerk nzz auch neun ganzseitige pipilotti-illustrationen. vorgesehen ist deren verwendung als tischset, da re- und upcycling der künstlerin ein dringendes bedürfnis ist. die alte weisheit, wonach nichts so alt ist wie die zeitung von gestern, gilt für einmal also nicht. wohlan denn, zweitleben für die nzz. „tischset schmaus“ hat pipilotti oben auf die frontseite gekringelt, über den leitartikel von chefredaktor eric gujer. gujer und schmaus, das ist ja vielleicht mal ein ding. werde mir noch ein paar exemplare kaufen. die nzz vom 29. oktober 2022 (fr. 5.70) bringt bestimmt mehr rendite als etf-fonds. aber darum geht´s ja eben nicht. also tischsets. 

Montag, 24. Oktober 2022

MÜNCHEN: HUNGRY GHOSTS

völlig aufgelöst rennt die schauspielerin charlotte (katharina maria schubert in hochform) durch die kulissen, es klopft von allen seiten, sie reisst türen auf und schlägt sie wieder zu, kurvt über die hinterbühne, versucht dem klopfen auszuweichen, immer schneller, es klopft immer häufiger, charlotte hechelt und schwitzt. es sind die geister der vergangenheit – und der gegenwart – die da anklopfen. man wird sie nicht los, wenn man wegrennt. charlottes panischer lauf ist die dominante szene in „hungry ghosts“, das die polnisch-französische regisseurin anna smolar auf der basis eines textes von mira marcinów mit dem ensemble der münchner kammerspiele erarbeitet hat. eine frau erzählt, wie als kind ihre schwester ertrank und sie nicht zur beerdigung durfte, eine andere, wie sich ihr onkel im keller erhängte. die schatten der erinnerungen kommen ins spiel, „der ganze dreck der familie“ und „die loyalität zu den toten“. es sind bewegende zeugnisse. „das trauma will, dass du ihm eine schüssel bringst“, sagt eine mal. sie reden über ihre seelischen wunden, sie singen mal voller wut und mal voller poesie, ihre körper zucken unter den biografischen altlasten und manchmal verschwinden sie tanzend im nebel – wie die zerfaserten erinnerungen. nicht immer gelingt die überwindung des schweigens. eigentlich sollte charlotte die hauptrolle in einer boulevardkomödie spielen und, ja, türen aufreissen und wieder zuschlagen, den liebhaber verstecken und den gehörnten ehemann ablenken. mit dieser wiehernden klapperkomödie als rahmenhandlung hätte anna smolar dem grossartigen abend wohl etwas von seiner schwere nehmen wollen. keine gute idee. traumata, die sich im erbgut ablagern, und slapstick sind eine toxische mischung.