Donnerstag, 15. August 2024

WATTWIL: DIE TOTEN OSTSCHWEIZER

„der wettermacher“ von peter weber erschien 1993. der autor war gerade mal 25 jahre alt. „furioses debut“, „brillant“, alle lobten das buch, gelesen habe ich es damals nicht. verpasst? ja, welche bücher habe ich verpasst? die schweiz-seiten der „zeit“ listeten zu beginn des sommers verdankenswerterweise 50 beispiele von schweizer literatur auf, die man keinesfalls verpasst haben sollte. darunter auch „der wettermacher“. also endlich lesen! hunderte von episoden, die sich in wattwil, lichtensteig, ebnat-kappel, alt st. johann, unterwasser zutrugen, fügt weber mit barocker sprachwucht zum umfassenden porträt seiner familie und zum umfassenden porträt des toggenburgs. in dieser kargen talschaft zwischen churfirsten und säntis lebten vor hundert jahren auch meine ahnen (was für ein zauberhaft altmodisches wort). höchste zeit also, mich meinen wurzeln anzunähern, dank weber in geradezu volkskundlicher manier, denn er beschreibt präzis bis ins detail. ja, ich habe etwas verpasst, denn jetzt kann ich sagen, dass mir das toggenburg nie näher war als in diesem buch. „der wettermacher“ strotzt vor fabulierlust und liefert ein rattenscharfes röntgenbild meiner ur-heimat, rattenscharf und erbarmungslos. am heftigsten auf seite 202: „ich hatte nur noch einen gedanken: wie lassen sich sämtliche ostschweizer dieser erde totmachen?“

Mittwoch, 14. August 2024

LUZERN: REQUIEM FOR A POET

die jugend eröffnet das lucerne festival. doch was nach aufbruch, energie, zukunft klingt, beginnt zunächst einmal schwer und traurig: das youth symphony orchestra of ukraine spielt das „requiem for a poet“, ein neues werk von evgeni orkin. der dichter, an den es erinnert, ist maksym krywzow, der im januar 2024 an der front in der ukraine starb, wenige tage vor seinem 34. geburtstag und kurz nach der veröffentlichung seines ersten gedichtbandes. per facebook bat krywzow seine leserinnen und leser, ihm eine seitenzahl und eine zeile zu nennen, er anwortete darauf mit der entsprechenden stelle aus seinem buch und seiner aktuellen stimmung. das requiem ist eine vertonung dieses letzten chats. der bariton andrei bondarenko singt mit bewegter, bebender stimme die worte des dichters, eine frauenstimme vom sampler flüstert die fragen und die kommentare. dazu eine musik, pendelnd zwischen zartem glockenspiel und abgründigen streichersequenzen, kontemplation und aufschrei gleichermassen, ein klagegesang über den schrecken des krieges. „maksym is no longer with us“, schreibt plötzlich jemand - der dichter ist tot, der chat verstummt, der bariton verstummt. oksana lyniv, die erste frau, die in bayreuth am pult stand, die erste frau, die in italien ein opernhaus leitet, dirigiert diese uraufführung ganz in schwarz mit der blau-gelben bauchbinde der ukraine. man spürt jeden augenblick, wie wichtig ihr dieses orchester, dieses werk, diese botschaft sind. danach stehen das cellokonzert von edward elgar (1919, auch dies vom krieg beeinflusst) und als bewusst gewählter kontrast (prinzip hoffnung…..) die frühlingssinfonie von robert schumann auf dem programm, von diesen jungen musikerinnen und musikern ebenfalls brillant dargeboten. im kopf indes dreht immer wieder und vor allem das tieftraurige requiem vom anfang weiter, nachhaltig und schmerzlich.

Montag, 5. August 2024

SEVILLA: PROFUNDIS

ein haushoher misthaufen? ein riesiger sarg? eine geheimnisvolle hütte? ein kühnes öko-projekt? jede und jeder sieht etwas anderes beim betreten der gotischen kirche der kartause von sevilla, wo die kolumbianische künstlerin delcy morelos eine fast raumfüllende installation realisiert hat. „profundis“ heisst sie und sie besteht aus erde, stroh, kokosfasern, heu, chia, tabak- und maisblättern - plus zimt und nelken, was einerseits insekten fernhält und anderseits ein sanftes aroma in den kirchenraum zaubert. das dunkle gebilde ist 18 meter lang und 6 meter hoch und innen hohl. eine schmale kluft ermöglicht dem publikum den zugang zu diesem höhlengefühl im innern. profundis, in die tiefe also will delcy morelos uns hier führen, in die tiefe unserer vorgeschichte und unserer erfahrungen. morelos ist von der inka-kultur beeinflusst, sie lädt uns ein in den schoss von mutter erde: „the earth expresses itself; it is the center and the mirror of what we are.“ so wie aussen alle etwas anderes erblicken, empfinden also auch innen alle etwas anderes: geborgenheit, dunkelheit, unsicherheit, abgeschiedenheit, hoffnung, endlose stille. die ausgesprochen sinnliche erfahrung lädt in ganz unterschiedliche gedankenwelten ein, das bewusste und das unbewusste beginnen ein spiel mit uns, faszinierend. wie diese begehbare profundis-skulptur strahlt auch das ganze areal eine grosse ruhe aus. die cartuja de santa maría de las cuevas, unmittelbar neben dem gelände der expo 92, war ursprünglich kartäuserkloster, wurde im 19. jahrhundert zur porzellanmanufaktur umfunktioniert und ist heute der sitz des centro andaluz de arte contemporáneo: viele grosszügige räume bieten einen gediegenen rahmen für mehrere umfangreiche ausstellungen gleichzeitig. eine inspiriende oase, nicht nur wenn´s draussen 39 grad warm ist.

Donnerstag, 1. August 2024

TAVIRA: HEINE, STANIŠIĆ UND ICH

die see.....

"die see duftet nach frischgebackenen kuchen."
(heinrich heine, 1830, auf helgoland)

"die see, beschloss ich, roch nicht nach kuchen, oder es war ein älterer kuchen, ein bisschen ranzig."
(saša stanišić, 2023, an helgoland denkend)

"die see riecht nicht nach frischgebackenen kuchen und auch nicht nach einem ranzigen, sondern einfach nach frischer, schäumender, wilder see, finde ich. aber ich bin ja erstens kein schriftsteller und zweitens nicht auf helgoland, sondern an portugals südküste."
(christoph brander, 2024, praia do barril)

was uns drei verbindet ist das buch "möchte die witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem grab die giesskanne mit dem ausguss nach vorne" von saša stanišić (luchterhand-verlag). hinter dem phänomenalen titel verbirgt sich die perfekte sommerlektüre, ein lesegenuss an der see, beschwingt, witzig, geistreich und mit mindestens 100 gramm liebevollster heine-verehrung. 

Sonntag, 28. Juli 2024

TAVIRA: FADO MAL ANDERSWO

fado in einer kirche? die portugiesischen weltschmerz-balladen gehören für mich in eine düstere spelunke, schnaps- und schweissgeschwängert, in einer zwielichtigen nebengasse. aber fado in einer kirche? ich liess mich dann doch überreden, denn ich mag meine vorurteile und klischeevorstellungen gerne entweder bestätigt oder widerlegt. fado also in der igreja de misericórdia, der prachtvoll überladenen renaissance-kirche von tavira an portugals südküste. fado, von der unesco 2011 zum weltkulturerbe geadelt, mal ganz ohne kneipenmief. um es kurz zu machen: es passt, wider alle erwartungen. wenn inês graça im bodenlangen roten kleid mit eindringlichem blick und noch eindringlicherer stimme loslegt mit diesen melancholischen moll-melodien und den vielen tonhöhensprüngen, wird das eh schon dramatische durch die kirchenakustik ins hochdramatische gesteigert. und wenn die fadista dann - und wie! - zu "coimbra é uma liçao..." ansetzt, dem ultimativen ohrwurm von 1947, der seither unter dem titel "april in portugal" mehr als 200 coverversionen erdulden musste (u.a. von bing crossby, julio iglesias, james last.....), dann ist das publikum nicht mehr zu halten, das mehrheitlich portugiesische, wohlgemerkt, die kirche summt mit, die kirche klatscht, die kirche stampft. fado, sagt der gitarrist einmal, erzähle ja nicht nur vom leiden am leben und an der liebe und an der welt, sondern sei auch ein ausdruck der portugiesischen gastfreundschaft: immer sei ein platz am tisch frei und immer warte man, bis jemand an die tür klopfe und sich dazusetze. kitsch? vielleicht. ein wenig kitsch gehört zum fado.

Montag, 15. Juli 2024

MÜNCHEN: PELLÉAS ET MÉLISANDE

einen verwunschenen wald braucht die holländische regisseurin jetske mijnssen nicht, um das tragische märchen von pelléas und mélisande zu erzählen, auch auf das nebelverhangene meer und die geheimnisvolle grotte verzichtet sie in ihrer inszenierung im rahmen der münchner opernfestspiele. diese üppige natursymbolik überlässt sie ganz und gar den melodien von claude debussy, einer seelenmusik mit suchtpotential, und verlegt die handlung stattdessen in einen grossbürgerlichen salon zur entstehungszeit der oper (1902), blitzblankes parkett, elegantes mobiliar – und doch: düster, drückend, eine atmosphäre zum ersticken. hier lauert überall der tod. vor diesem hintergrund seziert mijnssen die dreiecksgeschichte von den zwei brüdern, die die selbe frau lieben, bis zur kleinsten regung psychologisch perfekt. drei stunden verfolgt man drei menschen beim immer unglücklicher werden, immer wieder wird man an ingmar bergmans ehedramen erinnert. diese meisterleistung gelingt der regisseurin dank einer hochkarätigen besetzung: mélisande, die eine traumatische last mit sich schleppt („ne me touchez pas!“), ist bei sabine devieilhe eine frau von flirrender zerbrechlichkeit; christian gerhaher gestaltet ihren eifersüchtigen gatten golaud mit grandiosem bariton geradezu beängstigend, bis zur todbringenden raserei; ben bliss als sein bruder pelléas schafft mit hellem tenor das ganze spektrum von der anfänglich fast kindlichen liebe zu mélisande bis zur erotischen ekstase. hannu lintu dirigiert das bayerische staatsorchester enthusiastisch durch all die seelischen wechselbäder und katastrophen, zarte zwischenspiele, grosse gewitter, klangfarbenzauber total. diese musikalisch und szenisch so schlüssige deutung erleichtert den zugang zu dieser sperrigen oper voller rätsel und unschärfen aufs erfreulichste.

Montag, 8. Juli 2024

LUZERN: CRY ME A RIVER

ugo rondinone ist ein weltstar. schreibt die „süddeutsche zeitung“. in seiner heimat wissen das viele nicht. seine heimat ist die zentralschweiz, aufgewachsen ist rondinone (*1964) als secondo in brunnen, heute lebt er mehrheitlich in new york. jetzt kehrt er vorübergehend zurück, für eine retrospektive im luzerner kunstmuseum. um es vorwegzunehmen: man verlässt diese ausstellung ausgesprochen heiter gestimmt, beschwingt, ja beglückt. „cry me a river“ heisst sie, was einerseits der titel eines jazzklassikers ist und anderseits bezug auf die reuss nimmt, die in sichtweite des museums den see verlässt, der für rondinone heimat ist. die schönheit und die kraft der natur dominieren seine installationen in den zehn sälen, nie idyllisch, doch immer erhaben. im ersten saal sind es neongelbe verästelungen, die sich wie zuckende blitze von der decke zum boden strecken, schlicht als idee, betörend in der wirkung. ob 59 bronzevögel oder fliegende fische, ob kettenregen oder „stone figures“, ob rieselnder schnee oder ruhender vierwaldstättersee – immer wieder gelingt es rondinone, eine magische atmosphäre zu schaffen, leicht, manchmal irritierend, immer verspielt. heimat, so wird schnell klar, bedeutet für den künstler vor allem eine heitere auseinandersetzung mit den elementen. diese lust wirkt ansteckend, schärft unsere eigene sicht auf die natur, animiert die vorstellungskraft und die gedankenwelt. diese räume lassen auch uns raum. nur einer der säle ist hoffnungslos überladen: rondinone bat zentralschweizer kinder um sonnenzeichnungen, über 2000 sind es, knallig, witzig, überbordend, über 2000 individuelle blicke auf die sonne, von oben bis unten alle wände voll, so viel sonne. tut das gut.  

Sonntag, 30. Juni 2024

GISWIL: HEI SUOMI

das „obwald“ abgesagt! kein „obwald“ am samstag, „nach rücksprache mit dem wetterdienst und den kantonalen behörden“. glück hatte also, wer sich bereits am donnerstag oder freitag in der waldlichtung bei giswil einfand. wir zum beispiel. zum start bereiten auf der grossen bühne zwei finnische frohnaturen wie geübte tv-köche in einer seelenruhe paistettu kuha zu, den gebratenen zander mit viel dill und schnittlauch, timo saari knallt einen ebenso rasanten wie raumgreifenden tanz auf die bretter, als würde er vom elch verfolgt, und lauri kotamäki erzählt auch mal mitten im spiel einen finnischen witz, ohne untertitel, und kugelt sich. spontan, schräg, neu für giswil. exakt so darf man sich die stimmung beim kaustisen kansanmusiikijuhlat vorstellen, dem finnischen pendant zum „obwald“, zu dem jahr für jahr 50´000 menschen pilgern. sie mögen als wortkarg gelten, diese menschen im hohen norden, ihren emotionen lassen sie dafür umso lieber beim festen und musizieren freien lauf. das beweisen die finnischen gäste mit einer eindrücklichen musikalischen palette jetzt auch hier: venla ilona blom gestaltet allein mit ihrer stimme ein spektakuläres naturschauspiel, wald und vogelgezwitscher, wind und wellen, hanna ryynänen verzaubert mit ihrer kastenzither, dem finnischen nationalinstrument, vom mäsä duo gibt´s eine teuflisch schnelle polka („die schnellste“, klar) und die drei frauen von surento berühren mit einem tieftraurigen klagelied aus karelien, das an der grenze zu russland des öftern schwierige zeiten erlebte. die schweizer formationen, das ist konzept beim „obwald“, gesellen sich immer wieder dazu, doch sie wirken diesmal eher wie eine etwas fade beilage. die musik der gäste hat eine andere tiefe, die finnische seele ist weit wie das land und steckt voller geheimnisse. finnland, die grosse liebe meiner frühen jahre, hat mich wieder. hei suomi.

Donnerstag, 27. Juni 2024

LUZERN: UMJUBELTER KARRIERESTART

der grosse moment im grossen konzertsaal, der ganz grosse moment für marie hasoňová (violine), mariya kostenko (klavier), tereza kotlánová (sopran), filipe dandalo modafferi (kontrabass) und mikalai semiankou (violine). die fünf absolvierten an der hochschule luzern musik den master-studiengang solo performance – früher: solistinnen-diplom. und jetzt also, grande finale, das abschlusskonzert der solistinnen und solisten mit, was für eine ehre, dem luzerner sinfonieorchester unter dem ebenfalls noch jungen gabriel venzago, und das nicht irgendwo, sondern, was für eine ehre, im kkl-konzertsaal, dem sich alle fünf mit ihrer virtuosität und ihrer musikalischen leidenschaft als absolut würdig erweisen. das ist kein vorspielen, sondern fürs publikum eine entdeckungsreise auf höchstem niveau. denn neben mozart und richard strauss werden auch werke aus musikalischen nischen geboten. der brasilianer filipe dandalo modafferi zum beispiel präsentiert das praktisch unbekannte konzert für kontrabass des tschechischen komponisten františek hertl, eine trouvaille aus dem jahr 1957, die das oft in den hintergrund verdammte instrument in all seinen facetten strahlen lässt, schwelgerisch, energisch, auch witzig, vieles gemahnt an den ventilierenden soundtrack eines tschechischen zeichentrickfilms und genauso herrlich verspielt tanzen modafferis elegante finger über die saiten, während er seinen bass, den er um einiges überragt, von hinten regelrecht umarmt. freuden fürs auge, freuden fürs ohr, ausnahmslos. diese junge energie, die bereit ist für den aufbruch zur grossen, internationalen karriere, steckt sicht- und hörbar auch die musikerinnen und musiker des orchesters an, sie zieht sich durch den ganzen abend. und als dann mariya kostenko den finalen akkord des phantastisch-pompösen fis-moll-klavierkonzerts von alexander skrjabin in die tasten haut: jubel allenthalben, jubel für die vielen grossen momente.

Dienstag, 25. Juni 2024

ENGELBERG: BACKSTAGE

engelberg hat 4619 einwohnerinnen und einwohner und 77 eingeschriebene vereine. einen davon gründeten vor nicht allzu langer zeit der umtriebige zürcher galerist peter kilchmann, der seit kindsbeinen mit engelberg verbunden ist, und die kuratorin dorothea strauss. er heisst „backstage engelberg“ und verfolgt das ziel, im klosterdorf diesen sommer während acht wochen internationale kunst zu präsentieren. das ist ambitioniert in der absicht und, so lässt sich nach dem startwochenende festhalten, beachtlich im resultat. backstage heisst hier: unscheinbare oder unbekannte orte, die den touristenmassen sonst eher verschlossen bleiben, werden mit kunst neu belebt – das ehemalige schlachthaus und der historische eiskeller am bänklialpweg, der dachboden im bellevue-terminus, das billett-hüsli der alten terrace-bahn, die verlotterte kegelbahn hinter dem hotel engelberg (mit zilla leuteneggers „zillagorilla“ besonders gfürchig) und, als absolutes bijou, das kleine schuhmacherhäuschen mitten im dorf, das seit 1996 ungenutzt ist, aber immer noch vollgestopft mit den ursprünglichen utensilien. 53 künstlerinnen und künstler aus 18 nationen liessen sich von den 21 lokalitäten zu mal überschwappenden und mal minimalistischen interventionen inspirieren. wir haben in einem mehrstündigen rundgang gerade mal die hälfte geschafft, das angebot reicht also für mehr als einen engelberg-trip. „backstage engelberg“ bietet eine faszinierende entdeckungsreise im doppelten sinn, zu teilweise hochkarätiger kunst einerseits, zu versteckten winkeln anderseits. hinter den kulissen ergeben sich neue perspektiven, oder wie es backstage-kuratorin dorothea strauss bei der vernissage formulierte: „das dahinter ist das neue vorne.“

 

Donnerstag, 20. Juni 2024

MÜNCHEN: VALENTINIADE

er hat brecht beeinflusst. er hat beckett beeinflusst („warten auf godot“). karl valentin, der als einfacher volkssänger in der münchner vorstadt au begann, prägte mit seinen aberwitzigen kurzdramen einen neuen stil, der den alltag mit dem weltuntergang verband, das granteln mit der puren panik, das dadaistische mit dem utopischen. „valentiniade – sportliches singspiel mit allen mitteln“ nennen der dramatiker michel decar und die regisseurin claudia bauer, beide mit bayrischen genen, ihr karl-valentin-kaleidoskop am münchner residenztheater, grosse hommage auf der grossen bühne. ein spiel-, tanz- und singwütiges achtköpfiges ensemble und eine formidable combo im hintergrund basteln einen faszinierenden valentin-bilderbogen, tummeln sich durch szenen und assoziationen: die legendäre orchesterprobe, der flug zum mond, das klagelied einer wirtshaussemmel. einiges wird nur angetippt, anderes wird bis zum bitteren ende ausgekostet („fremd ist der fremde nur in der fremde“). michel decar hat dazu geistreiche, um nicht zu sagen kongeniale monologe geschrieben, die valentin zitieren, ihn reflektieren, ihm eine heutige stimme geben, ihn weiterdenken – sein vermächtnis als permanente einladung, die welt, wie wir sie kennen, in frage zu stellen, „der ordnung die stirn zu bieten, die realität zu verneinen“. das komische wird zur therapeutischen flucht (hat georg seesslen einmal treffend geschrieben), doch ängste und verzweiflung kann es nicht nachhaltig übertünchen. kein wunder, landet der temporeiche abend immer wieder bei valentins tieftraurigen spaziergängen am rande des weltuntergangs: „versuchen sie ihn nicht zu verhindern, sondern zu geniessen. denn sie erleben keinen zweiten.“

Montag, 17. Juni 2024

ZÜRICH: DOS AND DON´TS

jakob schmid heisst jakob schmid, weil sein vater, jakob schmid, verhindern wollte, dass später einmal die stempel und drucksachen für die „jakob schmid herren- und kindermoden“ geändert werden müssen. nicht mal ein „jun.“ gönnte er dem sohn. ein name als sparmassnahme. er habe deshalb, erzählt der sohn, ein halbes leben lang das gefühl gehabt, er heisse „jakob schmid herren- und kindermoden“. wie soll man da zu einer eigenständigen persönlichkeit werden, einen individuellen weg finden? zusammen mit drei weiteren ü60, annette, beatrice und fred, steht jakob auf der bühne des theaters neumarkt. im rahmen der stückentwicklung „dos and don´ts“ erinnern sie sich an die sätze, die sie geprägt haben, die einengenden gefühle ihrer kindheit und jugend, die erwartungen. es sind oft traumatisierende erfahrungen: bettnässen („das machsch mer nie meh“), blutwurstessen („mer isst, was uf de tisch chond“), hippieröcke („so gosch mer ned us em huus“). „ich brauche grenzen“, sagt annette einmal, „bei uns gab es zu viele.“ das naturgemäss laientheaterhafte dieser übungsanlage bricht regisseur ron rosenberg gekonnt immer wieder, indem er den schwarzen tänzer challenge gumbodete, ensemblemitglied am neumarkt, im hautengen schwarzen und mit hellblauen crocs durch die szene streifen lässt, wie ein geheimnisvoller zauberer, ein wichtel zwischen nähe und distanz: mal säuselt er aus der ferne eine melancholische melodie, mal zwinkert er einer der seniorinnen zu, reicht einen joint oder flüstert gedankenverloren: „can we learn to live?“ was macht die rolle, die uns zugedacht wurde, mit uns – und was machen wir aus der rolle? als man sich als zuschauer gedanklich schon von der bühne zu entfernen und der eigenen biografie zuzuwenden beginnt, gibt uns der schwarze traumtänzer noch ein zart hingehauchtes „learn to forget“ mit auf den weg.

Donnerstag, 13. Juni 2024

LUZERN: HEMMIGE

mani matter scheint eine magnetische wirkung auszuüben, nach wie vor, denn so voll erlebte ich das luzerner theater lange nicht mehr. „hemmige“ heisst der abend, den der baselbieter choreograf muhammed kaltuk mit dem tanzensemble entwickelt hat, zu einer fulminanten tonspur von gabriel mareque, der zu den ohrwürmern, die uns alle seit der jugend begleiten, harte beats und dröhnendes cello mischt, laut, knallig, mani matter goes hiphop. viele im publikum schlucken dann erst mal leer, als auf der bühne zunächst ein haufen verkrüppelter gestalten tanzt, mit mechanisch-spastischen bewegungen, trostlos, hoffnungslos, endlos („dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit“). vom verschmitzt-sympathischen in den liedern bleibt hier wenig, kaltuk und mareque arbeiten sich zum kern vor, zu mani matters messerscharfen analysen der zustände: die kluft zwischen unterschiedlichen welten pusht ihre phantasie und damit auch die des publikums. mit ungebändigter energie liefert die tanztruppe einen permanenten kampf, sie hämmert und stampft, ein kampf zwischen gruppen, zwischen einzelnen. wer ausbrechen will, wer in eine andere welt vordringen will, hat kaum eine chance, auch kafka lässt grüssen. man sieht – hochemotional und hochexplosiv – den ausgeschlossenen, den geknechteten, den leidenden, den verlorenen menschen. das ist hardcore-mani-matter, das erinnert an eine passion und endet auch so: „und we me gseht, was hütt dr mönschheit droht, so gseht me würklech schwarz, nid nume rot, und was me no cha hoffen isch alei, dass sie hemmige hei.“ alle erstarren auf der bühne, black, schluss. uff! diese drastischen, düsteren choreografien könnte man sich bestens auch zu, beispielsweise, verdis requiem vorstellen. ein aufwühlender abgesang.

Dienstag, 11. Juni 2024

EINSIEDELN: BÄRFUSS´ WELTTHEATER

wo kann man sich für 135 franken wahlweise eine lungen- oder eine blasenentzündung holen? neun grad und regen versprechen die prognosen zum start des einsiedler welttheaters heute. die première findet statt. das klima auch. irgendwann wird der klimawandel vielleicht doch zu einem umdenken bei all den aufwändigen freilichtbespassungen führen, zu einer hinterfragung liebgewordener traditionen. das risiko für durchnässte, unterkühlte abende ist gross – und man hört in der ferne bereits das gejammer der veranstalter über klamme kassen. mein plan b: das welttheater, das lukas bärfuss fürs 100-jahr-jubiläum in einsiedeln verfasst hat, auf dem sofa lesen (rowohlt, 29.90). bärfuss denkt das barocke mysterienspiel von calderòn de la barca in saftiger mundart ins heute weiter; zu seiner mundart gehören auch permafrost und change management, downburst und crack. er konfrontiert zwei kinder, emanuela und pablo, mit den grossen fragen des lebens, es sind die selben wie vor 400 jahren: wer bin ich? wo gehöre ich hin? was ist meine rolle? die beiden begegnen den allegorischen figuren (vernunft, schönheit, reichtum) und die welt dreht sich um emanuela und pablo bis ihnen „ärdebodelos drümlig“ wird. der versuch, ein selbstbestimmtes leben zu führen, wird durch den lauf der dinge und seine zwänge immer wieder amputiert: „ds läbe isch nie was mir händ dänkt. und erscht wenn sie abgschpilt isch, verstönd mir eusi rolle.“ krieg und klima, ungerechtigkeit und utopie, das ganze spektrum fasst bärfuss in einen prallen und doch poetischen text, in dem – that´s real life – vieles ein mysterium bleibt: „d vernunft? die schlaft.“ nie wieder welttheater also? doch, doch. die einsiedlerinnen und einsiedler könnten ja zum beispiel statt vor auch in ihrer prächtigen kirche spielen. wäre gesünder, für sie und für uns.

Sonntag, 9. Juni 2024

LUZERN: DER CHOR TANZT MIT DEM TOD

24 menschen werden vom tod umgarnt und umarmt. im innenhof des ritterschen palastes in luzern hängt der totentanz, den – faktenlage unklar – ziemlich sicher jakob von wyl ziemlich sicher um 1610 gemalt hat, eine meisterhafte sequenz grossformatiger gemälde, öffentlich zugänglich (regierungsgebäude), doch gut versteckt in der obersten galerie. so läuft das mit dem tod, man hat ihn nicht gern vor augen. mehr darüber nachdenken, darüber reden, der konfrontation mit der endlichkeit nicht ausweichen – das ist das anliegen, das der chor luzern mit seinem neuen programm „der chor tanzt mit dem tod“ verfolgt. in unmittelbarer nähe der totentanz-bilder führen uns die 40 sängerinnen und sänger unter der leitung von daniela portmann musikalisch durch vier jahrhunderte, schütz, schumann, brahms, britten. es sind nicht einfach klagelieder, sondern bewegende zeugnisse einer intensiven auseinandersetzung mit trauer und abschied, hoffnung und zuversicht. gar mit witz nähert sich der tod den menschen im lübecker totentanz, den christov rolla zwischen den melodien geradezu schelmisch rezitiert: „heut heisst´s: nach meiner pfeife springen. (…) ich pfeif euch in gottes ewigen saal. ich pfeife so laut, dass jeder mich hört.“ schreie, ekstase und wortfetzen jagen dann in der „suite de lorca“ durch den raum, die der finnische komponist einojuhani rautavaara 1973 komponierte, zu gedichten federico garcia lorcas und inspiriert von der andalusischen volksmusik: hier wird die todesnähe durch die hallende akustik in diesem hohen innenhof beinahe physisch spürbar, es sind komplexe und expressive klangfolgen, bei denen der laienchor einmal mehr seine leidenschaft für aussergewöhnliche werke und sein absolut professionelles niveau beweist. überwältigend. eine meditation über den tod, mitten im sommer? unbedingt.