Sonntag, 7. Oktober 2018

PARIS: ZWEI, DIE MIT 28 STARBEN

egon schiele lebte von 1890 bis 1918, jean-michel basquiat von 1960 bis 1988. beide starben mit 28, schiele an der spanischen grippe, basquiat an einer überdosis. die fondation louis vuitton im bois de boulogne in paris kombiniert das werk vom anfang und jenes vom ende des vergangenen jahrhunderts zu einer riesigen, faszinierenden schau – überbordend wie das fieberhafte künstlerleben der beiden: wiener moderne meets street art. im untergeschoss schieles grenzerfahrungen zwischen eros und tod, dazu zahl- und aufschlussreiche selbstporträts, die verdeutlichen, wie sehr der junge mann an der welt und an sich selbst litt: schiele als vitaminarmer jüngling, schiele als zynischer skeptiker, schiele als diabolisches monster. und dann, nahtlos, basquiat! auch er ein produktiv leidender! weit über 100 grossformatige (zum teil selten, zum teil nie gezeigte) werke in x räumen auf x etagen. allein diese fülle haut einen um. mit fettkreide und ölfarbe schmiert er wände und leinwände voll. alles hat er schon als jugendlicher verschlungen, anatomische und ökonomische studien, bibel und bebop, afrikanische diasporakultur und klassische literatur. und alles taucht in seinen farbigen, wilden bildern wieder auf, ebenso expressiv wie dekorativ. mit copy/paste in vollendeter form schafft er knallige, pulsierende ikonen der moderne. was für eine lebensgier vor dem viel zu frühen tod. ein einziges bild fällt völlig aus dem rahmen: nur zwei figuren, ein rotes strichmännchen auf einem knieenden skelett, viel leere graue leinwand. es könnte eine skizze von schiele sein. „riding with death“ war eines von basquiats letzten werken.

Samstag, 6. Oktober 2018

PARIS: TRISTAN UND ISOLDE

operninszenierungen mit videoeinspielungen gibt’s zuhauf, die bildspur ist meist nicht zwingendes zugemüse. die pariser oper ging für einmal den umgekehrten weg: der grosse videokünstler bill viola schuf zu wagners „tristan und isolde“ eine vierstündige bildmeditation, der sich die inszenierung von peter sellars vornehm unterordnet. für einmal steht das video prominent im zentrum: auf der bühne der bastille nichts als eine riesige leinwand, in den ersten beiden akten im querformat, im dritten akt hoch, darauf flammen und fluten und farbenspiele, rituelle waschungen, liebkosungen, spaziergänge ins blendende licht, apotheose. wagners liebesrausch-, nacht- und todesmelodien werden nicht kommentiert, sondern im rhythmus der musik visuell verstärkt, das transzendente unterstreichend, bilder nicht von dieser welt. oper, ganz im sinne des komponisten also, als rauschhaftes gesamtkunstwerk. die sängerinnen und sänger bewegen sich zwischen leinwand und rampe, vom regisseur geradezu minimalistisch choreografiert und von philippe jordan mit grossem atem dirigiert. während der sopran von martina serafins isolde von akt zu akt kantiger und schriller wird, steigert sich andreas schager als tristan grandios: ein strahlender tenor, dessen dynamische kraft nie nachlässt und sich, als das schiff mit der geliebten endlich bei dem schwer verwundeten eintrifft, zur finalen ekstase erhebt („welches sehnen! welches bangen! sie zu sehen, welch verlangen!“); lust und schmerz und todesahnung sind in dieser stimme vereint, ein überwältigender auftritt. so wie tristan und isolde im liebestod versinken, taucht der zuschauer ein in bilder, töne, teils bedrückende, teils verführerische assoziationen.

Donnerstag, 4. Oktober 2018

PARIS: BÉRÉNICE, EIN ALBTRAUM

„nous séparer?“ bérénice kann es nicht fassen. sie liebt titus und titus liebt sie. und doch macht er schluss, weil ihm die macht wichtiger ist als die frau: ein römischer kaiser und eine syrische königin sind ein no-go. bérénice verliert den boden unter den füssen, windet sich auf einem stuhl, spielt mit einem brautschleier, den sie nie tragen wird. barbara hannigan zeigt im palais garnier alle facetten dieser frau – verzweiflung, zorn, einsamkeit – indem sie gesanglich und darstellerisch bis zum äussersten geht, phänomenal. im auftrag der opéra national de paris hat der genfer komponist michael jarrell (*1958) aus jean racines handlungsarmer tragödie „bérénice“ eine oper geschaffen – oder sich vielmehr zu einer oper gezwungen, denn im programmheft erläutert er ausführlich, wie schwer er sich mit den figuren tat und wie wenig er von gesungenem französisch hält. fürs orchester gelingen ihm zwar immer wieder suggestive sequenzen, dunkle klangwelten, doch mit den stimmen bleibt er nahe am sprechgesang, virtuose gesangslinien sind seine sache definitiv nicht. dem dirigenten philippe jordan und vor allem dem regisseur claus guth ist es zu verdanken, dass die eineinhalb stunden trotzdem ein erfolg werden: sie verdichten die künstliche sprache (alexandriner), den monotonen gesang und rätselhafte bilder zu einem fortwährenden albtraum. neben hannigan irren bo skovhus (auch er ein theatertier) als titus und ivan ludlow als sein freund und nebenbuhler antiochus durch drei nebeneinander liegende hohe klassizistische räume, die mehr und mehr zum gefängnis ihrer gefühle werden. drei räume, drei menschen, die trennung als albtraum. von diesem abend bleiben die bilder haften, nicht die musik.

Dienstag, 2. Oktober 2018

PARIS: LES HUGUENOTS

paris, 23.mai 2063, aus dem tagebuch eines unbekannten soldaten: "nous, la fière jeunesse de la république, sommes appelés par dieu et par le peuple, à anéantir et à brûler dans le jardin terrestre de dieu tout ce qui ne relève pas de la vrai foi." religiösen fanatismus wird es immer geben, deshalb stellt regisseur andreas kriegenburg dieses fiktive zitat aus der zukunft als klammer über seine inszenierung von giacomo meyerbeers "les huguenots" an der pariser bastille. diese oper über die tödlichen glaubenskriege rund um die bartholomäusnacht 1572 und damit verbundene private intrigen und schicksale aus der zeit zu lösen, ist eine plausible idee. doch kriegenburg scheitert: er arrangiert viereinhalb stunden lang erlesene tableaux vivants; menschen in kostümen aus sündhaft teuren stoffen bevölkern blendend weisse räume, die in verführerisch schönes licht getaucht werden. trotz vereinzelten blutspuren landet das ganze immer wieder ungebremst in der kitschfalle, der hochpolitische stoff wird hochästhetischen bildern geopfert. das ist opern-kulinarik von ihrer üblen seite. dafür ist der lange abend musikalisch ein ereignis. die frauen, die die streitenden parteien versöhnen wollen, tun dies mit betörenden stimmen: lisette oropesa als marguerite de valois mit in allen farben funkelnden koloraturen, ermonela jaho als ihre vertraute valentine mit dramatischer wucht. der italienische dirigent michele mariotti arbeitet den reichtum von meyerbeers melodien in jedem einzelnen takt heraus, mit grossem gespür für die massenszenen dieser grand opéra genauso wie für intime, kammermusikalische momente. das ist opern-kulinarik von ihrer besten seite.

Sonntag, 30. September 2018

LUZERN: MOZART IST NICHT MEIN NIVEAU

ein in die jahre gekommener hamburger punkrocker versucht sich auffällig lustvoll an türk pop, tänzer von der côte d’ivoire hämmern afro-beats in den saal, der wildgewordene conférencier faselt von seinem coming-out und der darauffolgenden 20jährigen psychoanalyse, das sinfonieorchester macht sich an den pet shop boys zu schaffen und in der reihe vor uns ist ein kaum einjähriges mädchen an der brust seines vaters voll dabei, mit grossen augen und ersten klatschversuchen. wo sind wir? im luzerner theater. bei mozart. bei mozart? seine mädchenräuber-story „die entführung aus dem serail“ wird vom performancekollektiv gintersdorfer/klassen und dem luzerner intendanten benedikt von peter bis zur unkenntlichkeit entstellt und neu montiert. die produktion, ursprünglich fürs theater bremen, hinterfragt radikal alles, was mozart hergibt: den dialog der kulturen, den sieg der wahren liebe, die edlen absichten der aufklärung und überhaupt sinn und unsinn des opernbetriebs, vor allem dies. unmotiviert fiedle das orchester doch oft das ganze zeug runter, ein rein maschineller vorgang. ja! man sieht sich die musikerinnen und musiker genauer an, denn sie spielen diesmal auf der bühne, und nur wenige lassen sich anstecken vom feuer, vom ebenso geistreichen wie witzigen rambazamba. „les robots ne conaissent pas le blues“ heisst der abend gerade deshalb. zwischendurch gibt’s erfreulich oft aus mozarts original zu hören, vorgetragen von hervorragenden sängerinnen und sängern (darunter nicole chevalier, die legendäre luzerner „traviata“). zum grossen abschiedsduett von konstanze und belmonte tragen schliesslich alle demo-schilder auf die spielfläche. „mozart ist nicht mein niveau“ steht auf einem, von einer geradezu zärtlichen ironie, wie der ganze abend. das baby vor uns ist unterdessen eingeschlafen. reizüberflutung.

Samstag, 29. September 2018

BOCHUM: DIE TRÄUME DER ANDEREN

„deutschland muss weniger deutsch werden“, fordert johan simons im jahrbuch der zeitschrift „theater heute“. er meine das nicht arrogant, betont der holländer, sondern eher verführerisch. simons, der in deutschland bereits die münchner kammerspiele und die ruhrtriennale leitete, übernimmt jetzt im herbst das schauspielhaus bochum. er wird in seinem ensemble auch schauspielerinnen und schauspieler aus belgien, estland, frankreich, ghana, grossbritannien, kenia, russland, surinam und der türkei beschäftigen. denn: „wir wissen zu wenig über die träume der anderen.“ beginnen wir, mit den anderen zu träumen. wo, wenn nicht im theater?

Freitag, 28. September 2018

MÜNCHEN: MARAT/SADE

marquis de sade liegt in einer ecke, erschöpft und resigniert. charlotte schwab spielt ihn grossartig, mit unappetitlicher wampe und schütterem haar, ein alter zyniker, der für das revolutionstheater, das er mit den anderen patienten des hospizes von charenton aufführen sollte, nur noch ein kaltes grinsen übrig hat. die revolution und ihre ideale sind mausetot. die verfolgung und ermordung ihres wortführers jean paul marat schrieb peter weiss 1964 nicht als doku-drama, sondern als stück im stück, als moritat im irrenhaus, mit der für eine groteske nötigen distanz – und mit grossem internationalem erfolg. am residenztheater in münchen macht tina lanik aus „marat/sade“ eine rasante polit-revue, bissig und mit sehr viel blut in der badewanne, in der marat seine letzten stunden verbringt. dieser ist bei nils strunk ein junger feuriger idealist, verwegen und oft etwas eindimensional; der kontrast zum abgelöschten skeptiker de sade könnte grösser nicht sein, was dem disput der beiden spannung verleiht und in der aberwitzigen szene kulminiert, wo sich de sade für seine politische lethargie von marat auspeitschen lässt. zudem lässt die regie die jüngeren schauspieler immer wieder extemporieren, die ideale und ihre haltbarkeit aus heutiger sicht befragen: wenn die revolution tot ist, kann dann wenigstens die hoffnung überleben? und welches politische personal gibt zu solcher hoffnung anlass? spitz werden die bayrischen landtagswahlen in zwei wochen und der am sessel klebende innenminister eingeflochten, was nie aufgesetzt wirkt, sondern durchaus im sinne des autors sein dürfte, der zur entstehungszeit des stücks ganze notizbücher mit solchen querverbindungen füllte: „allein die gesichter all dieser staatsmänner, die brutalisierten säuglingsgesichter, und ihr gerede, zeigen dir, worum es geht. sie reden alle mit toten augen, toten mündern, reden von freiheit, und meinen macht.“ hoffnung, wo bleibst du?

Freitag, 21. September 2018

LUZERN/MÜNCHEN: MUNDEL MACHT'S

da kann man sich als langzeitluzerner und wahlmünchner nur freuen: barbara mundel soll neue intendantin der münchner kammerspiele werden. sie, die um die jahrtausendwende das luzerner theater mit viel sauerstoff vom provinzmief befreite und dem luzerner publikum auf intelligente weise beibrachte, dass theater heute mehr sein kann und muss als unterhaltung. das kam natürlich nicht immer und überall gut an, doch mundel blieb konsequent. luzern und ihre weiteren stationen lassen vermuten, dass ihr an den kammerspielen das gelingen könnte, was der unglückliche matthias lilienthal irgendwie nicht schafft: das verhältnis von theater, performance und diskurs in einem spannungsvollen gleichgewicht zu halten. barbara mundel hat das zeug für die champions league.

Dienstag, 18. September 2018

ZÜRICH: LENZ

„er kann sich nicht finden.“ der schriftsteller jakob michael reinhold lenz ist auf der suche nach sich selbst, doch er kann sich nicht finden, sein geisteszustand verschlechtert sich, psychose. der schriftsteller und mediziner georg büchner hat diese suche in seiner erzählung „lenz“ mit wissenschaftlichem blick begleitet und analysiert. und der regie-altmeister werner düggelin bringt diese krankheitsgeschichte in der schiffbau-box des zürcher schauspielhauses jetzt glasklar auf die bühne. ein klinisch weisser raum, drei weisse ebenen, auf der oberen ein bett für lenz (jan bluthardt), auf der mittleren ein ohrensessel für seinen vertrauten, den pfarrer oberlin (jirka zett), auf der unteren ein tisch für den erzähler (andré jung). in dieser radikal reduzierten umgebung entsteht in einer art szenischer lesung das präzise porträt eines menschen, dessen wahrnehmung sich zunehmend von der realität löst. doch büchner schrieb nicht nur eine krankheitsgeschichte, sondern verpackte darin auch ein plädoyer für realistische statt idealistische literatur, für dokumentarische statt romantische elemente. nicht der wahnsinn am ende des weges steht in düggelins inszenierung im zentrum des interesses, sondern die absolutheit, mit der dieser lenz lebt und sucht, absoluter glaube, absolute liebe, absolute verzweiflung. wie jan bluthardt nach worten sucht, nach bildern, nach sinn vor allem, wie er die ganze  innere zerrissenheit eben nicht als irrer, sondern als rastlos reflektierender zeigt, das macht diesen bald 250 jahre alten mann zu einem sehr modernen menschen und den stoff entsprechend zeitlos: einer, der sich nicht finden kann in seiner komplexen umwelt und den versuch beginnt, damit zu leben.

Montag, 10. September 2018

MÜNCHEN: HOFESH SHECHTER, GRAND FINALE

hofesh shechter, der aus tiefer desillusionierung über sein land mittlerweile in london lebende israeli, gehört zu den aktuell angesagtesten choreographen. entsprechend hoch waren auch unsere erwartungen vor dem gastspiel seiner company jetzt in der münchner muffathalle. sie wurden nicht enttäuscht. die truppe zeigt mit „grand finale“ einen spektakulären, krassen totentanz. die bühne ist in einen steten dunst gehüllt, weshalb es keine auftritte und abgänge gibt, sondern eher erscheinungen aus dem dunkeln: ein reigen von apokalyptischen bildern wühlt die betrachterin und den betrachter zunehmend auf. immer wieder werden leichen über die bühne geschleift, mal erinnern die bildfragmente an konzentrationslager, mal an giftgasangriffe, mal an wüstenkriege oder kampfszenen aus blockbustern. mit schier endloser energie stampfen und springen die tänzerinnen und tänzer dem ende der menschheit entgegen, „grand finale“ eben, in gruppen oder einzeln, als täter oder als opfer, immer ernst, immer hoffnungslos. dazu hat hofesh shechter selber eine grandios-abgründige tonspur komponiert, mit bis an die schmerzgrenze gehenden aggressiven beats und harten schnitten, maschinengeknatter, unterwasserblubbern, fetzen von gregorianischen chorälen. diesen sehr assoziativen sound ergänzen ein paar streicher auf der bühne live – und sie pervertieren ihn zwischendurch mit lieblichem tschaikowsky- und lehar-kitsch. dieser abrupte musikalische gegenschnitt erinnert zwangsläufig an das salonorchester auf der „titanic“. ein kompromissloser abend, ein kompromissloses finale.

Sonntag, 2. September 2018

HAMBURG: CRYING ZONE, DREI STUNDEN WEINEN

drei stunden weinen, schluchzen, schreien, heulen. „crying zone“ heisst die performance, die die truppe von zofia komasa aus polen am mixed-abled-festival „aussicht“ im monsun-theater in hamburg zeigt, einem treffen von inklusiven theaterformationen. erster reflex: halte ich das aus? will ich das aushalten? eine feingliedrige frau mit dunklen haaren setzt sich im schwarzen raum auf einen stuhl, frontal zum publikum. sie beginnt zu heulen, mal heftiger, mal zurückhaltender, sie heult direkt vor uns. wann habe ich das letzte mal geweint? hat es mir gut getan? sie nimmt sich papiertaschentücher, rotzt sie voll, ein tänzer ganz in schwarz sammelt sie. nach 15 oder 25 (??) minuten steht sie auf, von hinten im saal kommt eine kräftige, blonde frau, setzt sich auf den stuhl und beginnt zu weinen, immer massiver; wenn die tränen nachlassen, blickt sie herausfordernd. habe ich sie provoziert? bewusst oder ohne es zu wollen? die tränen fliessen und die gedanken auch. der junge tänzer wirbelt mit den zahlreicher werdenden taschentüchern durch den raum, spielt mit ihnen wie ein kind, endlos. dann kommt eine dunkelhäutige frau, setzt sich auf den stuhl und heult herzerweichend. traumatisiert von der migration? trennungsschmerz? kulturschock? warum redet hier niemand? würde das helfen? die dunkelhäutige frau wird abgelöst von einer bleichen, blonden, deren schluchzen kaum hörbar ist. der tänzer nutzt auch ihre taschentücher für seine zarte performance. unterdessen fixiert sie mich. will sie mitleid? will sie trost? will sie ärger? sie fixiert mich immer noch, penetrant. hinschauen ist mir peinlich, wegschauen wäre noch peinlicher. oder gar verletzend? soll ich das schweigen mit worten durchbrechen? soll ich mitweinen? wann habe ich das letzte mal geweint? war es – für mich, für andere - befreiend? drei stunden weinen. das theater experimentiert. mit mir.

Freitag, 31. August 2018

HAMBURG: VIOTTI II. IN DER ELBPHILHARMONIE

marcello viotti wirkte in den neunziger jahren als chefdirigent am luzerner theater, legte dann eine internationale karriere hin und verstarb 2005 – nach einer orchesterprobe in münchen – viel zu früh. „ein verlust für die gesamte musikwelt“, schrieb der direktor der wiener staatsoper. jetzt tritt der sohn das erbe an. und wie. in der elbphilharmonie dirigiert lorenzo viotti mit gerade mal 28 jahren das von claudio abbado gegründete gustav mahler jugendorchester. er steigt ein mit einem repertoire-kracher, den andere eher als zugabe einplanen würden: die ouverture zu verdis „la forza del destino“, fortissimo und pianissimo, weich und hart, plakativ und poetisch – in nur fünf minuten schafft es viotti II., den saal bereits in all seinen facetten zum klingen zu bringen. er dirigiert auffallend wenig mit händen und armen und viel mit seinen funkelnden augen, auch mit lippen und kinn: gestaltungsfreude und gestaltungswille durch und durch. ausgehend von verdi zeigt viotti, wie die musikwelt in nur 50 jahren von der romantik in die moderne katapultiert wurde: mit dvoraks cello-konzert (und dem phänomenal-innigen solisten gautier capuçon), debussys „prélude à l’après-midi d’un faune“ und als hinreissendem höhepunkt strawinskys skandalstück „le sacre du printemps“. „it’s all about sex“, hatte leonard bernstein diese ballettmusik mal zusammengefasst. „it’s all about power“, scheint die devise bei lorenzo viotti zu lauten. wenn erotik, dann brachial-erotik. mit dissonanzen und peitschendem schlagwerk bringt er den saal zum bersten. ein entfesselter dirigent, 120 entfesselte musikerinnen und musiker, ein jugendlicher orkan. viotti I. hätte sich tierisch gefreut, sein temperament lebt im sohn weiter.

Montag, 27. August 2018

FOROGLIO: LA RIEFENSTAHL

wandern auf den spuren von leni riefenstahl? nein, natürlich nicht. aber schön der reihe nach. in foroglio, wo das val calnègia ins val bavona mündet, also eigentlich am ende der welt, bietet sich uns eine atemberaubende kulisse: ein 110 meter hoher wasserfall. wir kannten ihn nicht, doch die tessiner sagen, er sei ihr spektakulärster. oben, wo der bach aus dem seitental seinen auftritt hat, scheint er ein schmales wässerchen zu sein, doch mit dem abrupten sturz in die tiefe wird er breiter, wuchtiger, zischender, bevor die wasserkraft unten hinter einem gewaltigen felsbrocken aufschlägt und in abermillionen tropfen und tröpfchen wieder gegen den himmel stiebt. von diesem naturschauspiel muss auch – jetzt kommt’s und das wussten wir nicht – leni riefenstahl im fernen berlin gehört haben, die hier zentrale szenen ihres spielfilmdebuts „das blaue licht“ drehte und auch gleich die hauptrolle spielte: die raubtierhafte aussenseiterin, die im kleinen bergdorf die männer verhext, die dann in den vollmondnächten auf der suche nach dem blauen licht die felswände hochklettern und abstürzen (irene bignardi von der „repubblica“ beschreibt das für die foroglio-besucherinnen und -besucher ausgesprochen anschaulich). dieser kitsch-as-kitsch-can-streifen hat es auf der internationalen filmausstellung 1932 in berlin dann hitler angetan, der die riefenstahl in der folge zur offiziellen dokumentarfilmerin des naziregimes machte, was ihr den bekannten zweifelhaften weltruhm bescherte. dort, wo die equipe um „la riefenstahl“ jeweils stundenlang auf die perfekten lichtverhältnisse für den dreh wartete, findet sich heute die osteria la froda, die sich aller abgeschiedenheit zum trotz zu einem treffpunkt von (durchaus auch weniger umstrittenen) künstlerinnen und künstlern entwickelt hat. und die mit vorzüglichen gerichten aus der archaischen bergwelt aufwartet.

Samstag, 11. August 2018

BASEL: MARIA LASSNIG, MAL GANZ LEISE

die nackte alte, mürrisch auf dem motorrad. die nackte alte, eine knarre an der schläfe, eine zweite auf den betrachter gerichtet. die nackte alte, die mit dem tod tango tanzt. das sind die grellen, schreienden bilder, die wir von maria lassnig (1919-2014) kennen, provokative selbstporträts. das kunstmuseum basel zeigt jetzt eine andere seite der österreichischen ausnahmekünstlerin: zeichnungen und aquarelle aus stilleren zeiten. ganz behutsam scheint sie da ihren körper zum mittelpunkt ihrer kunst zu machen, weniger schrill, aber durchaus experimentierfreudig. der körper als würfel, der körper als käse, der körper als – immer wieder neuer anlass für empfindungen, für ein wechselspiel von innen und aussen, mal kubistisch, mal durchaus konkret, fast immer verspielt. man schaut sich das bekannte werk von lassnig ganz anders an, wenn man dieses unbekannte auch kennt. auf eines der letzten blätter im letzten raum hat sie die maxime ihrer körper- und wahrnehmungsstudien hingekritzelt: „jeder strich zählt. jeder strich hat eine lautstärke. gegensätze werden fruchtbar.“ heute ist unser hochzeitstag, da könnte man sich kein passenderes leitmotiv vorstellen.

Donnerstag, 2. August 2018

GREINA: NATUR UND NICHTS, RAUSCHEN UND RAUNEN

keine strassen, keine autos, keine pop-up-bar, keine landschaftskunst, keine kneipen, keine biker, keine luftseilbahnen, keine häuser, kein openairkino, kein zirkus, keine feuerstelle der "schweizer familie". einfach nur natur. einfach nur ein grossartiges nichts. karge bergwiesen, mäandernde bäche, so weit das auge reicht. wandern in der weiten greina-hochebene, die von der surselva und vom bleniotal nur zu fuss über pässe oder durch enge schluchten erreichbar ist, bedeutet: das gefühl für distanz und zeit geht verloren, die festplatte leert sich, die gedanken werden auf 2200 metern über meer luftiger und leichter, man schaltet ab und schaltet anders wieder ein. „wenn eine unschuldige seele das, was man von hier aus sieht, mit unparteiischem gemüte betrachtet und überlegt und vorzüglich die zahme weide mit der wildheit der gebirge vergleicht, so wird er ungern diese stelle verlassen“, notierte – nein, nicht goethe auf seiner reise nach italien – der benediktinerpater placidus a spescha 1820. und leo tuor, schafhirt und poet, schrieb klartext, als elektrizitätskonzerne die greina in der zweiten hälfte des vergangenen jahrhunderts in einem stausee ersäufen wollten: „stört meine tiere nicht, die ihre pfade ziehen und euch nichts zuleide getan haben. lasst der erde ihren frieden und dem tal sein rauschen und raunen. verschwindet, woher ihr gekommen seid!“ der widerstand wurde breiter und breiter und er fruchtete. keine staumauer, keine strommasten, keine panzer. geht doch. geht sogar mitten in der kleinen schweiz. alles weglassen, wirklich alles weglassen, das ist hohe kunst. die greina bleibt deshalb, in einem, kulisse und einladung und anleitung zur meditation.