auf
der bühne: ein quadrat mit 1200 sektflaschen, leer oder fast leer, fein
säuberlich aufgestellt, alle 50 zentimeter eine. die welt der promis und partys
als klaustrophobischer raum; das publikum im marstall des residenztheaters
sitzt auf allen vier seiten. zu beginn staksen die sechs schauspielerinnen noch
schön kontrolliert durch die flaschenreihen, doch schon bald – man ahnt es –
wird daraus ein schlachtfeld, ein scherbenhaufen der gefühle. „die bitteren
tränen der petra von kant“ von rainer werner fassbinder erzählt die geschichte
einer modedesignerin, die job/erfolg/geld und liebe nicht zusammenbringt. in der
inszenierung von martin kusej verausgabt sich bibiana beglau während zwei
stunden, sie terrorisiert ihre freundin, ihre mutter, ihre tochter, ihre
liebste und ihre bedienstete, sie brüllt und blutet, hat gerötete augen und
geschwollene lippen, ist heiss und eiskalt. in ihrer beziehungsunfähigkeit
lässt sie alles eskalieren bis zur explosion. als gegen ende spuren der
erkenntnis auftauchen, ist es zu spät: die sklavin hat sich erhängt, die
anderen sind weg. bibiana beglau spielt dieses beängstigende, hysterische solo
der einsamkeit und verzweiflung grandios: mein ich ist mein gefängnis. rainer
werner fassbinder war auch so einer. petra von kant ist stark autobiographisch
durchdrungen. man kann sich dieser emotionalen tortur als zuschauer nicht
entziehen, leidet bei den seelischen verletzungen, bangt wegen den scherben,
zwischen denen sich die darstellerinnen teilweise barfuss bewegen – und ist irgendwie
ganz erleichtert, als die beglau beim schlussapplaus völlig entspannt und
lachend auf die bühne kommt, als wäre grad gar nichts gewesen.
Montag, 31. Oktober 2016
Sonntag, 30. Oktober 2016
MÜNCHEN: HADJITHOMAS/JOREIGE
im
abgedunkelten treppenaufgang zur ausstellung „two suns in a sunset“ im haus der
kunst empfängt ein babylonisches stimmengewirr den gast: 20 bildschirme, 20
gesichter, 20 geschichten, die erzählt werden (es sind die erfundenen geschichten
aus betrügerischen spam-mails). vielstimmig wie dieses intro ist die ganze
ausstellung des libanesischen künstlerpaars joana hadjithomas und khalil
joreige. die beiden experimentieren mit bildern, videos, objekten,
archivmaterial. mit anderen mitteln als journalistinnen und historiker nehmen
sie eine chronistenpflicht wahr, spüren mit aussergewöhnlicher empathie den
geschichten einzelner nach und fügen sie zu einem bigger picture. oft stehen
die bilder im zentrum (prächtige schwarz-weiss-aufnahmen von phantasievollen
objekten, die sich bei genauerem hinschauen als zerbombte strassenlaternen
entpuppen), oft aber auch die abwesenheit von bildern (menschen, die ihre
lager- und foltererlebnisse während dem libanesischen bürgerkrieg 1975-1990
zaghaft in worte zu fassen versuchen). in einem 50-minuten-film reist
hadjithomas nach izmir, das ehemalige smyrna, und schaut sich die bilder dieser
reise dann gemeinsam mit der betagten malerin und dichterin etel adnan an; die
familien beider frauen waren nach dem ende des osmanischen reiches aus der
stadt vertrieben worden und sind nie wieder zurückgekehrt. diese annäherung
nach jahrzehnten ist eine behutsame etude über zugehörigkeit. so disparat all diese
zugänge zu einer chaotischen welt sind, so sehr entwickeln sie eine durchaus
nicht nur pessimistische kraft: politik und poesie schliessen sich nicht aus,
sie könnten sich bereichern.
Samstag, 29. Oktober 2016
MÜNCHEN: POINT OF NO RETURN
am
22.juli lähmte der 18jährige david s. mit seinem amoklauf diese stadt für eine
lange nacht. wir waren in unserer wohnung an jenem abend. wir hörten
stundenlang die polizeisirenen aus allen richtungen, waren permanent online,
hatten ein mulmiges gefühl, aber keine unmittelbare angst. anders als die
zehntausenden in der innenstadt. anders als wiebke puls, die mit ihren zwei
kindern im theater sass. anders als dejan bućin, der in der fussgängerzone socken kaufte,
als die panik um sich griff. mit diesen beiden und drei weiteren schauspielern
entwickelt yael ronen an den münchner kammerspielen die performance „point of
no return“ über die massen- und individualpsychologische dynamik nach dem
amoklauf, über horror und hysterie. ganz nach dem motto: rede drüber, es wird
dir gut tun. die bühne ist ein voll verspiegelter raum, der steil zum publikum
abfällt (wieviele arg schiefe ebenen müssen wir uns noch angucken, wenn regisseurin und bühnenbildner uns sagen wollen, wie sehr die welt doch aus den fugen ist?). hier verarbeiten die fünf, meist angeseilt, ihre erlebnisse. sie geben
ihre enttäuschung preis, dass es „nur“ ein amoklauf war und kein
terroranschlag; sie stellen in einer choreografie des grauens die opfer am
boden des olympia-einkaufszentrums nach; sie tauschen aus, wie sie selber den
tollsten theatertod starben; sie wollen von kollegin jelena kuljić wissen, wie
weit sie an jenem juli-abend von ihrem serbien-trauma eingeholt wurde; ja, und
niels bormann erzählt, wie er sich die freude an der fischsuppe in der
theaterkantine nicht nehmen liess. das ist grotesk und oft grenzwertig – und sehr
selten: berührend. ein
bunter abend, das
publikum lacht befreit und applaudiert üppig. das therapeutische ziel, immerhin, scheint also erreicht.
Freitag, 28. Oktober 2016
MÜNCHEN: TÜRKIYE RELOADED
farbig-fröhliche
schwulenparade. polizei-grosseinsatz. demo für das letzte bäumchen im
gezi-park. polizei-grosseinsatz. demo gegen die dritte bosporus-brücke.
polizei-grosseinsatz. die bilder, die jetzt im rahmen des festivals „türkiye
reloaded“ in der pasinger fabrik gezeigt werden, wiederholen sich. und
unterdessen wissen wir, dass das alles nur der anfang war. diese menschen,
tausende, zehntausende, aufgestellt, engagiert, kämpferisch – erdogan nennt sie
„outsider“ und „marginal“. wo sind sie jetzt? wie geht es ihnen? „wider die
grautöne“ nennt die kuratorin ceren erdem ihre ausstellung. sie zeigt zum
beispiel annika erikssons video über streunende strassenköter am stadtrand, die
im off philosophieren: „ich bin wie die stadt, ich war immer da und ich
überlebe, weil ich mich laufend erneuere.“ sie zeigt als riesiges wandposter
einen wander(!!)vorschlag durch die hügel im norden istanbuls. sie zeigt das
improvisationstalent der türken im alltag (fliegende händler, teeküchen,
clevere abfallentsorgung). sie zeigt menschen, die beim tanzen und beim
politisieren gute stimmung verbreiten. sie könnten die zukunft dieses landes
sein. und? wie weiter? schnell wird sich die dominanz der grautöne nicht
verflüchtigen. „in den nächsten 10 bis 15 jahren wird sich diese
lost-in-transition-befindlichkeit verfestigen“, sagt özlem topçu von der „zeit“
beim abendlichen divan-gespräch. immerhin, im internet spriessen die
oppositionellen medien. ein kleiner hoffnungsschimmer. irgendwann also doch
wieder nach istanbul.
Montag, 24. Oktober 2016
MÜNCHEN: LA JUIVE
heavy. es wimmelt von religiösen
fanatikern. mal richten sie mit erhobenen armen ihren verklärten blick gen
himmel, mal klammern sie sich übertrieben an ihren gebetbüchern fest, mal
wedeln sie scheinheilig mit ihren friedenszweigen, um kurz danach mit
denselben zweigen ihre gegner auszupeitschen und dazu hässliche parolen zu schreien. lauter eiferer und geiferer. „la juive“ von
fromental halévy (1835) spielt in konstanz zur zeit des dortigen konzils
(1414); vor dem hintergrund einer politisch und religiös schwer irritierten
zeit erzählt die oper die unmögliche liebesgeschichte zwischen der jüdin
rachel, die in wirklichkeit eine christin ist, und dem christen léopold, der
sich ihr zuliebe als jude ausgibt. missverständnisse führen zu rache, rache
führt zum tod. die gewaltige mauer quer über die ganze bühne ist keine
klagemauer und bietet keinen schutz, nein, sie wirkt in ihren metallenen farben
abweisend und bedrohlich, ein überdeutliches sinnbild für die mauern und den
hass in den köpfen. neben den beängstigenden massenszenen gelingen regisseur calixto
bieito und dirigent bertrand de billy an der bayerischen staatsoper eindrückliche
zeitlose einzelporträts – dank einem hochkarätigen ensemble: aleksandra kurzak
als rachel, zerrissen von ihren gefühlen, heimatlos in ihrem glauben; roberto
alagna als jüdischer goldschmied éléazar, warmherzig als ihr vermeintlicher
vater, unerbittlich im kampf der konfessionen; schliesslich ante jerkunica als
kardinal brogni, rachels wirklicher vater – er ist die eigentliche entdeckung
des abends, der kroate verfügt über einen bass von beeindruckender fülle und subtilität.
was bleibt, ist der nachhall dieser schwermütigen musik und das dunkel dieser
monströsen mauer. ein mahnmal.
Freitag, 21. Oktober 2016
BEIJING: CHINA VERSTEHEN MIT ZHANG
"alles in diesem land wird tag für tag aufs neue umgewälzt. in deiner stadt, aber auch in deinem leben. das tempo hier übersteigt bei weitem das, was die seele eines normalen menschen erträgt. (...) hier ist es ständig so, als hättest du dich unter vielen qualen endlich durchgerungen, einem mädchen zu sagen, dass du sie liebst - da wendet sie dir den kopf zu und du erkennst: sie ist plötzlich eine ganz andere. dann musst du wieder von vorne anfangen: soll ich mich jetzt in die neue verlieben?" der grosse chinesische kunstmaler zhang xiaogang im gespräch mit dem korrespondenten der süddeutschen zeitung. zhang erlebte die kulturrevolution als kind in kunming und ist jetzt 58.
Montag, 17. Oktober 2016
BERLIN: IL BARBIERE DI SIVIGLIA
"wenn man mit einer sache zunächst überfordert ist, bringt einen das auf
neue ideen und provoziert in einem die kraft, diese überforderung zu
überwinden." kirill serebrennikov ist in russland ein angesagter
regisseur. jetzt hat er für die komische oper berlin mit der kraft der
überforderung aus rossinis "barbier von sevilla" eine rabenschwarze
smartphone-komödie gemacht. der figaro (dominik köninger, bravourös) ist hier ein starfriseur im
schwarzen cape, mit schwarzen ohrspreizerringen und zu viel kajal im
gesicht. dieser moderne mephisto mauschelt und mixt die gefühle seiner
kundschaft: wahre liebe scheint in zeiten der oberflächlichen
kommunikation ein ding der unmöglichkeit. sms werden zwischen den flirtenden quer über die bühne gejagt (auch eines an den dirigenten:
"gehts auch schneller?"), arien werden als schmachtfetzen-videos
gepostet, es gibt money-transfer und social disaster - heisse leitungen,
kalte welt. und rossinis musik? die macht das nicht nur mit, sondern
liefert in ihrer spritzigkeit tausend anlässe für situationskomik, alles
frisch, frech, fulminant, jede pointe sitzt - dank einem ensemble in umwerfender spiellaune.
graf almaviva tritt, um seiner angebeten rosina inkognito nahe zu sein,
mal als syrischer kämpfer auf und mal als musiklehrer im perfekten
conchita-wurst-outfit. das date kommt zustande, die liebe nicht: "omg!"
komische opern sind oft von peinlicher plattheit, ich habe sie nie
gemocht. dieser überforderte russe, der mit der musik in die tiefe
blickt, hat mich jetzt mit ihnen versöhnt. seinen namen sollte man sich
merken. serebrennikov.
Sonntag, 16. Oktober 2016
BERLIN: RUSALKA, DEUTSCH UND DEUTLICH
ihre grosse arie, das "lied an den mond", singt rusalka für einmal nicht
im silberschein am teichufer, nein, die nixe formuliert ihre amourösen
begehren sitzend auf dem parkett eines wiener salons der vorigen
jahrhundertwende. freud veröffentlichte seine traumdeutung im gleichen
jahr wie dvorak seine märchenoper "rusalka" - für barrie kosky an der
komischen oper berlin eine steilvorlage: wie die nixe aufgrund ihrer
liebe zu einem prinzen zur frau werden möchte, so habe doch jeder mensch
mal das bedürfnis, ein anderer zu sein. folgerichtig interessieren
kosky an diesem märchen vor allem die risiken und nebenwirkungen, er
denkt den romantischen zauber ins extreme weiter: aufgeschlitzte fische,
grapschende männer, blut an den prinzenhänden, eine kotzende katze, ein
diamantbehangenes skelett; der traum vom wandel wird zum albtraum.
reichlich bilder für eine nette meditation übers andersseinwollen,
danke, herr kosky. schlicht genial bewegt sich nadja mchantaf bei ihrem
rollendebut als rusalka durch diesen rabiaten rausch, mit glockenhellem
sopran in den höhen und wunderbar eingedunkelt in den tieferen lagen.
wie sie sich sehnt, ihr schuppenkleid abzustreifen, wie sie als
gewandeltes wesen die erotik erst entdecken muss, wie sie auf beinen zu
stehen und später gar zu tanzen versucht, wie sie vor verzweiflung
schliesslich irre wird, das berührt vom ersten bis zum letzten takt.
dass hier nicht wie üblich das tschechische original gesungen wird,
sondern eine zuweilen arg holprige deutsche fassung, ist ein
wermutstropfen. der einzige an diesem abend.
Samstag, 15. Oktober 2016
BOCHUM: VIEL ZEIT FÜR GROSSE STOFFE
"in den deutschen stadttheatern findet man heute eine unglaubliche betriebsamkeit. in immer kürzeren probezeiten wird immer mehr produziert. man arbeitet oft schnellebig und oberflächlich, anstatt in die vertikale zu gehen. (...) mit meinem start am schauspielhaus bochum in der spielzeit 2018/19 strebe ich eine rückkehr zur schauspielkunst und zur auseinandersetzung mit jenen grossen stoffen an, die für die bühne eine herausforderung bedeuten. um als schauspieler mit solchen texten in die tiefe gehen zu können, braucht man mindestens sieben oder acht wochen zeit. man muss sich auch getrauen, einmal drei monate zu proben, was heute so gut wie nicht mehr stattfindet. wenn in deutschland heute einmal zwei monate geprobt wird, stellt das schon eine ausnahme dar." johan simons, bis 2015 intendant der münchner kammerspiele, im "lettre international" (heft 114). ein versprechen. auf nach bochum.
Freitag, 14. Oktober 2016
MÜNCHEN: NO PLACE LIKE HOME
ein
kleines wohlfrisiertes mädchen im rosa kleidchen sitzt vor der rosa geblümten
tapete am wohnzimmertisch mit dem rosa kaffeegedeck. es hilft seiner mutter
beim knäueln der wolle. geredet wird kein wort. die stimmung mehr bleiern denn
rosa. plötzlich knallt eine unsichtbare faust auf den tisch und aus dem
kaffeekrug juckt ein schleimiger fisch. die mutter steckt den fisch zurück in
den krug. geredet wird kein wort. wieder wird geknäuelt und wieder knallt die
faust und wieder juckt der fisch – bis ihm die mutter den kopf abbeisst und ihn
roh runterwürgt. im hals stecken bleibt er auch dem zuschauer. veronika veits
fünf-minuten-video „die faust“ bringt grossartig auf den punkt, wie es unter
der gepflegten ordnung und der familiären oberfläche brodelt und juckt und
würgt und wie es durch runterschlucken entsorgt werden soll. dieser film zeigt,
wie doppeldeutig der titel der ausstellung „no place like home“ im haus der
kunst in münchen gedacht ist. die idylle ist brüchig, geheimnis und gewalt
lauern überall; die kindheit, das zuhause, sie hinterlassen tiefe und
sonderbare spuren. die 14 hier versammelten video- und filmarbeiten aus der
sammlung von ingvild goetz sind in ihrer mehrheit streng, kalt, abweisend,
rätselhaft. und allesamt höchst anregend. psychoanalyse live.
Freitag, 30. September 2016
MÜNCHEN: DER FALL MEURSAULT
moussa
heisst er. der junge araber, der bei gleissendem sonnenlicht am strand von
algier erschossen wird, von einem französischen angestellten namens meursault.
albert camus interessierte sich in „l´étranger“ nicht für das opfer, es hatte
keinen namen und kein gesicht. der algerische autor kamel daoud hat das in
seinem roman „der fall meursault – eine gegendarstellung“ nachgeholt. 70 jahre
nach camus erzählt er die geschichte aus arabischer perspektive. keine
revanche, eine replik. das opfer hat jetzt einen namen. moussa. der ganze
bühnenraum der münchner kammerspiele ist mit teppichen ausgelegt, das theater
als moschee, ein schönes bild. haroun, der jüngere bruder von moussa, ist jetzt
ein alter mann und brüllt seinen ganzen zorn auf die religiösen eiferer in
diesen raum, regt sich auf über camus´ eurozentrismus, ist enttäuscht vom
eigenen land. der zu recht international herumgereichte iranische regisseur
amir reza koohestani verdreifacht haroun in seiner inszenierung – und manchmal
ist er als kind, das den tod des bewunderten bruders nicht versteht, als junger
mann, der sich neben der verbitterten mutter im leben kaum zurechtfindet, und
als alter gleichzeitig auf der bühne. die perspektiven überlagern sich zu
mehrdimensionalen bildern. mit einfachen mitteln (neben den teppichen ein wenig
sand, eine grosse sonne, ein tisch, ein offenes grab) erweckt koohestani moussa
zum leben. wie daouds roman will auch diese inszenierung keine
postkoloniale anklage sein, sondern ein denkanstoss, ein äusserst präziser
blick auf die komplexität der verhältnisse zwischen menschen, zwischen
religionen, zwischen kontinenten. um das zu unterstreichen sprechen die
schauspielerinnen und schauspieler immer wieder auch in ihrer muttersprache,
farsi, bulgarisch, lettisch, arabisch, die welt als babylonische provokation. moussas
leiche wird nie gefunden. das grab bleibt leer. daoud und koohestani füllen es
mit worten, nachhallend und nachhaltig. das eindrückliche ende einer schwierigen geschichte: ein grab
voller worte.
Freitag, 23. September 2016
BASEL: FARINET ODER DAS FALSCHE GELD
„setz
dich doch!“ – „er hat doch grad drei jahre gesessen.“ – hahaha auf der bühne,
hahaha im publikum. das theater basel macht zum saisonauftakt auf volkstheater.
der schweizer autor reto finger hat ramuz‘ „farinet“ dramatisiert, die
geschichte vom falschmünzer im unterwallis, der gegen die obrigkeit stänkert
und handelt und dafür alle sympathien der bevölkerung auf seiner seite hat. ein
hübscher kleiner gaden steht auf der kleinen bühne, darin wird gejodelt, wie
sich die urbane jungregisseurin nora schlocker das alpenleben halt so vorstellt.
später mischt sie dann auch lateinamerikanische und fernöstliche klänge unter
die handlung, damit die alpine bevölkerung merkt, wie urbanes theater heute
geht, auch wenn es in den bergen spielt. naja. herausragend cathrin störmer als
farinets freundin joséphine; eine frau, die kämpft, für diesen mann, für seine
ideen, für ihre liebe und dann fallengelassen wird; sie ist die einzige figur
mit facetten und die einzige, die auch unter der oberfläche interessiert. und
sonst? zäh werden die episoden aus der endphase von farinets leben aneinander
gereiht, zäh versucht nicola mastroberardino die titelfigur mit bedeutung
aufzuladen: immer wenn er von freiheit spricht, holt er anlauf, betont überdeutlich,
macht überlange pausen und übergrosse augen, achtung-jetzt-wird’s-wichtig. das
ist tatsächlich: landtheater, und zwar nicht high-end. weder diese stückfassung
noch die inszenierung machen klar, warum uns dieser farinet heute noch
umtreiben soll. das grossartige literarische denkmal, das ihm ramuz setzte,
dürfte zur tendenziellen überbewertung der originalfigur beigetragen haben. wir
brauchen neue helden.
Donnerstag, 22. September 2016
ZÜRICH: FREISCHÜTZ OHNE WILDSAU
ich
war die wildsau in der wolfsschlucht. ich spielte die wichtigste rolle in der
wichtigsten szene des „freischütz“ von carl maria von weber. tief im
vergangenen jahrtausend. als junger, beweglicher statist am luzerner theater. deshalb
und wirklich nur deshalb habe ich zu dieser eigenartigen oper überhaupt eine
nähere beziehung. jägerchöre, jungfernchöre, die wolfsschlucht als
vagina-symbol, versagensängste des mannes beim schuss im dunkeln – huch, hach,
und ich war teil davon. jetzt also „der freischütz“ am opernhaus zürich, ich
kann’s nicht lassen. zur ouverture wird eine riesige zielscheibe aufs
bühnenportal projiziert, die sich neuneinhalb minuten lang in allen
psychedelischen farben verändert und bewegt, gross und klein wird und unscharf
und unförmig: die panik des max, dessen beruf und liebe einzig davon abhängen,
ob er bei diesem einen prüfungsschuss ins schwarze trifft. ein bild und alles
ist gesagt. regisseur herbert fritsch lässt den ganzen deutschen wald links und
den ganzen sigmund freud rechts liegen, die biedermeierliche lust am grauen und
die fritsch’sche lust am grotesken vermengt er gekonnt zu einem grellbunten grusical.
alles wird, auf höchstem professionellen niveau, radikal übertrieben. samiel, der teufel, eigentlich eine nebenrolle, ist hier ein dauerpräsenter, schmieriger conferencier. zur
optischen opulenz liefert marc albrecht mit der philharmonia zürich einen
reizvoll aufgerauhten romantik-sound, schaudern in fis-moll. und ja, fritsch
macht’s ganz ohne wildsau. kann man. hat wohl konzeptionelle gründe. vor allem
aber stand die idealbesetzung nicht zur verfügung, jener bewegliche luzerner
jüngling.
Freitag, 16. September 2016
LUZERN: PROMETEO
ein mutiger anfang. da kommt einer,
räumt die bühne und den zuschauerraum des luzerner theaters leer, baut sie bis
zur unkenntlichkeit um und führt in diesem von shakespeares globe inspirierten runden
raum luigi nonos „prometeo“ auf, ein werk, das sich allen gängigen erwartungen
an ein musiktheater radikal entzieht: keine figuren, keine handlung, keine
dramaturgie. der neue intendant benedikt von peter und sein musikalischer
leiter clemens heil verwickeln ihr luzerner publikum zum start in eine
zweieinhalbstündige klangskulptur, weil sie dieses publikum zum hören animieren
wollen, zum hinhören, zum genauen hören, zum entdecken, was diese
ungewöhnlichen klänge im kopf und im körper auslösen. ein mutiger anfang und
für den start in eine neue ära ein ausgesprochen kluger. das luzerner
sinfonieorchester und die gesangssolisten sind in grüppchen verteilt auf den
rängen, während das publikum unten im abgedunkelten rund sitzt, steht oder auf
matten liegt und sich diesen klangwelten in immer neuen positionen aussetzen
kann. luigi nono liess sich für seine melodienfetzen über die trümmer der
menschlichen katastrophen und das überwinden von klippen von aischylos, sophokles,
hölderlin und walter benjamins „geschichtsphilosophischen thesen“ inspirieren.
ihre texte wandern als lichtspiel immer wieder über die holzwände und die
körper des publikums. wie mit so einfachen mitteln aus einer durchaus kopfig
konzipierten komposition ein sinnliches, einlullendes, beflügelndes
musik-erlebnis entsteht, das ist das eigentlich spektakuläre dieses abends.
Montag, 5. September 2016
LUZERN: DEM ANDENKEN EINES ENGELS
alban
berg war ein zahlenfetischist. besonders die 23 hatte es ihm angetan: viele
seiner werke wurden an einem 23. vollendet, in takt 23 seines violinkonzerts
erklingt das todesmotiv, der zweite satz hat 230 takte und als tempo werden
hier immer wieder 69 schläge pro minute vorgegeben (3x23). und. so. weiter. das
konzert ist „dem andenken eines engels“ gewidmet, manon „mutzi“ gropius, der
tochter von alma mahler-werfel und walter gropius, die 18jährig an
kinderlähmung starb. dieser tod erschütterte alban berg so sehr, dass das
violinkonzert trotz seiner liebe zu zahlen keine mathematische veranstaltung
wurde, sondern ein werk von aussergewöhnlicher zartheit. anne-sophie mutter hat
dieses requiem für mutzi jetzt beim lucerne festival gespielt, als berührende, intime
reise vom diesseits ins jenseits. berührend auch deshalb, weil sie vom
orchester der lucerne festival academy begleitet wurde, lauter jungen
musikerinnen und musikern, denen der tod einer 18jährigen anders nahe geht. mit
grosser intensität liess alan gilbert dieses hochmotivierte orchester der
solistin in die überirdischen sphären folgen, mit trauer, fieber und andacht. für
anne-sophie mutter war diese annäherung an die jugend und an den himmel gleichzeitig
ihr 40-jahr-jubiläum am lucerne festival („primadonna“ lautet, passenderweise, das
motto in diesem sommer); mit 13 trat sie hier erstmals auf. ihr rezept, in all
den kompositionen nach so vielen auftritten doch immer wieder neue zugänge zu
entdecken, verrät sie im programmheft: „man braucht einfach die leidenschaft
fürs detail und ein gesundes quäntchen unzufriedenheit.“
Abonnieren
Posts (Atom)