in den fahl erleuchteten und garstig
möblierten sälen und hallen des círculo de bellas artes in der calle de alcalá
in madrid treffen sich künstlerinnen und künstler, spielen billard, malen
schöne nackte frauen, rauchen und debattieren. ein hässlicher ort, ein
gemütlicher ort. anna viebrock hat christoph marthaler diesen círculo auf die
bühne gebaut für „hoffmanns erzählungen“, erst im teatro real in madrid, jetzt
an der staatsoper stuttgart. einen treffenderen schauplatz kann man sich kaum
vorstellen, so wie marthaler dieses drama des erfolglosen, alternden künstlers
erzählt. im olympia-akt umgibt er ihn noch mit surrealen und extrovertierten
gestalten, frauen mit rauschebärten, kellner mit ganzkörperzuckungen,
rambazamba total. doch die figuren werden zunehmend farb- und die stimmung im
círculo trostloser – bis die verlorenheit dieses vergeblich nach glück und
erfolg suchenden den ganzen raum füllt. marc laho spielt diesen hoffmann mit
geschmeidig hellem tenor und dunklem gemüt, seine erzählungen sind anklage und
hilferuf, doch sie verhallen, derweil das immer spärlicher werdende
marthaler-personal im halbdunkel nur noch redundant rumschlurft und
choreografin altea garrido den saftlosen künstlern fernando pessoas „ultimatum“
entgegenschleudert: „schleicht euch, ameisenhaufen-giganten, ihr von eurer
originalität trunkenen bürgersöhnchen usw. usw.“ weil marthaler sich seit vier
jahrzehnten mit der situation des künstlers auseinandersetzt und dirigent
sylvain cambreling bald ebenso lang mit dieser komplexen (und unfertigen)
partitur offenbachs, ist ein grossartiger abend entstanden, ein abend von
aussergewöhnlicher dichte und berückender tiefe, regietheater im besten sinne.
Montag, 21. März 2016
Sonntag, 6. März 2016
LUZERN: 5/285
BRANDER LIVE! 5 jahre seit dem start in hamburg. 285 posts. herzlichen dank für die aufmerksamkeit. und weil sich meine lyrik schlecht verkauft, werde ich auch künftig eher bloggen.
Sonntag, 21. Februar 2016
ZÜRICH: HEXENJAGD
grobe stoffe, grobe muster: die kostüme weisen in ein vergangenes,
ländliches amerika. dieses amerika hat platz auf einem sandigen rechteck
in der zürcher schiffbauhalle; das publikum sitzt auf allen vier
seiten, dicht dran. die "hexenjagd" ist angesagt, die auf tatsächlichen
ereignissen in massachusetts im jahr 1692 basiert und von arthur miller
1953 als parabel zur zeit der grossen kommunistenhatz geschrieben wurde.
regisseur jan bosse verzichtet verdienstvollerweise auf eine
aktualisierung mit dem holzhammer, die bezüge ins jetzt stellen sich im
kopf auch so sofort ein. mädchen, die im wald nackt tanzen, bringen ein
ganzes städtchen durch- und hintereinander, keine traut keinem mehr,
denunziation und eskalation total. das hervorragende
schauspielhaus-ensemble holt sich den teufel subito in die mitte, mit
schärfe und tempo wird die hysterisierung auf die spitze getrieben, die
eigendynamik dieses alle-gegen-alle brutal ausgekostet. bis zur pause.
dann setzt bosse, der exorzismus hat's ihm zu sehr angetan, plötzlich
auf effekte en masse: birken verfärben sich blutrot, trockeneisschwaden
werden über den sand gejagt, grabkreuze unter scheinwerferblitzen in den
boden gerammt, der pastor mutiert zur pastor-karikatur - man wähnt sich
in einem musical. und das hochpräzise, detailgenaue ensemble säuft
total ab in dieser plakativen orgie, weg ist die dichte der ersten
hälfte, weg ist die dringlichkeit des stoffes. so schnell geht das.
Samstag, 13. Februar 2016
MÜNCHEN: KULTURGESCHICHTE 1880-1983
fein säuberlich klebt die dame 16 postkarten auf einen weissen karton,
vier in der höhe, vier in der breite: ansichten von stränden, palästen,
flugplätzen, bergtälern und immer wieder grossstädtischen boulevards, älteren
und neueren datums, mal passen sie thematisch oder geografisch zusammen, mal
nicht. den weissen karton mit den 16 karten fügt sie in einen schlichten
holz-passepartout. und klebt die nächsten 16 karten und wieder 16 und wieder.
hanne darboven lebte und klebte von 1941 bis 2009. es sind nicht dutzende und
auch nicht hunderte ihrer holzrahmen, die jetzt im grössten saal im haus der
kunst in münchen hängen, es sind 1590. raumfüllend. überwältigend. 1590
holzrahmen mit ansichtskarten, ab und zu auch um "spiegel"-titelbilder
drappiert ("mao ist tot - was wird aus china?") oder um
schwarz-weisse promi-porträts. so redundant die ganze installation formal
wirkt, so vielseitig und anregend ist sie im detail. man wünschte sich immer wieder eine leiter, um auch die oberen
bilderreihen zu erhaschen. der titel
"kulturgeschichte 1880-1983" ist keineswegs zu hoch
gegriffen. denn was auf den ersten blick auf archivierungswahn
hindeutet, ist in wirklichkeit ein faszinierendes jahrhundert-panorama, das die
frage ins zentrum rückt, wie geschichte, politik, kultur überliefert wird. ein
monument der erinnerung.
Donnerstag, 11. Februar 2016
MÜNCHEN: FIDELIO
wieder
einmal ist das bühnenbild eine überwältigende bühnenskulptur: rebecca ringst
hat für calixto bieitos „fidelio“-inszenierung an der bayerischen staatsoper
ein senkrechtes labyrinth aus plexiglas, stahl und neon geschaffen. es blitzt und leuchtet und spiegelt und macht als florestans kerker genauso was her wie als symbol für
die seelischen irrwege der menschen. leonore singt auf dem weg zur befreiung
des gefangenen gatten nicht nur beethoven, sie zitiert auch borges: „das
labyrinth ist eine art von furcht, weil wir darin verloren sind, aber die
hoffnung ist, dass es ein zentrum gibt.“ anja kampe gestaltet diese leonore
ergreifend als plädoyer für zivilcourage und mut, eine hin- und mitreissende
kämpferin für gerechtigkeit und freiheit – sie ist
das zentrum. zubin mehta, der mit bald 80 an das dirigentenpult zurückgekehrt
ist, wo er von 1998 bis 2006 generalmusikdirektor war (und vom münchner publikum
mit dem allerherzlichsten applaus zurückempfangen wird), lässt die utopischen
dimensionen von beethovens einziger oper breit und warm leuchten. doch
regisseur bieito betont immer wieder die fragilität dieser utopie, indem er dem
wohlklang verstörende bilder entgegensetzt: ein gefangener nimmt sich an der
bühnenrampe das leben, und der grosse wohltäter fernando tritt mit der
grimmigen joker-maske aus „the dark knight“ auf. vor dem strahlenden finale
erklingt als kontrastprogramm beethovens streichquartett op. 132 a-moll, schwerste melancholie, die vier musiker sitzen in gitterkäfigen über dem labyrinth. freiheit
ist das thema. nicht euphorie.
Dienstag, 9. Februar 2016
MÜNCHEN: LA SONNAMBULA REMIXED
bellinis
belcanto-orgien werden in der kleinen kammer 3 der münchner kammerspiele mal
von einem flügel begleitet, mal von einem keyboard, einem plattenspieler, einer
spielkonsole oder einem hammerklavier. und immer vom selben mann: daniel
dorsch, klanggestalter, der sich zwischendurch ans publikum wendet und („wo
waren wir stehen geblieben?“) in einer perfekt im dramaturgenslang getränkten
parodie die dimensionen der junggesellenmaschine und die apotheose der braut
als deren motor zu erklären versucht. dabei ist in bellinis „la sonnambula“
alles ganz einfach: amina verliert kurz vor der hochzeit ums haar den
bauernburschen elvino, weil sie – schlafwandelnd – versehentlich in den armen des
gutsbesitzers rodolfo landet; bellini braucht nur zwei akte, bis das wieder
geklärt ist. yuka yanagihara als amina verfügt über einen zauberhaften sopran, kraftvoll,
präzis und schmeichelnd bis in die vielen heiklen koloraturen – ein genuss. elvino
dagegen, eigentlich der tenor, kann hier nicht singen (es ist der schauspieler
hassan akkouch), und rodolfo, eigentlich der bariton, versucht es schon gar
nicht, sondern spielt seine arien auf der trompete (das löst der jazzer paul
brody auch im bademantel ganz meisterhaft). der ungarische regisseur david
marton verfolgt den anspruch, oper jenseits aller opernkonvention zu zeigen,
und zaubert zwischen dem original, alten callas-aufnahmen, jazz und immer wieder auch italo-pop einen höchst vergnüglichen abend, der in den grossen
musikalischen momenten überraschend stimmungsvoll gelingt. bellini remixed, er
hat´s überlebt, die traditionellen opernfans im publikum nur knapp.
Montag, 25. Januar 2016
MÜNCHEN: MITTELREICH
die
geschichten und die gefühle von drei generationen: in „mittelreich“ verknüpft
und verdichtet josef bierbichler meisterhaft die grossen themen und neurosen
des vergangenen jahrhunderts – hartes bauernleben, antisemitismus,
kriegstrauma, missbrauch. aus diesem grossen familienroman macht die
regisseurin anna-sophie mahler an den münchner kammerspielen ein grosses
musiktheater. die beerdigung des alten seewirts nimmt sie als ausgangspunkt, um
die reichen erzählstränge gleichsam von hinten aufzulösen, mit dem vom jungen
vokalensemble münchen gesungenen brahms-requiem als leitmotiv: selig sind, die
da leid tragen. in einem in die jahre gekommenen wirtshaussaal, der
bierbichlers „fischmeister“ in ambach nachempfunden ist, entwickelt sich ein
stimmiges und mehrstimmiges theater der assoziationen. die figuren überlagern
sich, die jahre überlagern sich, die gedanken überlagern sich. stefan merki,
steven scharf und thomas hauser teilen sich die beiden rollen des seewirts und
seines sohnes semi fliessend, erzählend, spielend, auch singend. und annette
paulmann ist sowohl die kammersängerin, die den talentierten jungen vom land
der kunst zuführen will, als auch die wirtin und mutter, die die führung
übernimmt, als ein sturm das dach und des gatten innere ruhe wegfegt. in
einfachsten konstellationen – mal sitzen alle um den einzigen tisch, mal steht
einer in der tiefe des raumes am fenster – findet bierbichlers pralle sprache
genauso platz wie die tiefe melancholie dieser grossen bayern-saga. und immer
wieder brahms: selig sind, die da leid tragen. nach den tränen die freude?
wirklich?
Sonntag, 24. Januar 2016
MÜNCHEN: WER HAT ANGST?
„es
war der rasenmähermann.“ es ist eine erotische phantasie aus längst vergangenen
tagen, die martha vor ihrem gatten und ihren gästen hervorkramt, alle
sturzbetrunken. und wie bibiana beglau für diesen rasenmähermann ihre stimme in
die tiefe kippt, ein r ums andere rollt und die silben dehnt, das hat etwas urkomisches
und beängstigendes zugleich. edward albees „wer hat angst vor virginia woolf?“
ist mittlerweile 54 jahre alt, aber als prototyp des modernen ehekriegsdramas immer noch
erstaunlich frisch. wenigstens mit der beglau als giftschlange martha, die
ihren gatten permanent erniedrigt und verletzt und das junge ehepaar, das zum
nächtlichen absacker vorbeischaut, mehr schockiert als beeindruckt. martin kušej
stellt die vier am münchner residenztheater auf einen quer über die bühne
gedehnten weissen laufsteg: hier wird gesoffen – blackout - und gesoffen und
intrigiert und – blackout – gevögelt. davor ein riesiger scherbenhaufen aus whisky-
und cognacgläsern und -flaschen, dahinter eine weisse wand. da bleibt bei
allem darstellerischen furor (neben beglau norman hacker als zynischer gatte,
nora buzalka als honey und johannes zirner als nick) wenig tiefe, optisch nicht
und psychologisch nicht. viel gepflegte flachmalerei, viel gehobener boulevard.
und wenn auf diesem schmalen und brutal ausgeleuchteten schlachtfeld der
illusionen und verpassten chancen gegen ende plötzlich doch noch echte gefühle
auftauchen, muss man nach dieser überdosis alkohol mit dieser überdosis kitsch
erst einmal fertig werden.
Freitag, 1. Januar 2016
WROCŁAW: KULTURHAUPTSTADT
wrocław/breslau. kulturhauptstadt europas. ab heute. polen. ausgerechnet jetzt. dranbleiben.
Sonntag, 20. Dezember 2015
MÜNCHEN: PHILOKTET
das
ist grosses schauspielertheater. drei männer, zwei stunden, ein konflikt. die
schlacht um troja scheint odysseus nur noch mit dem überragenden bogenschützen
philoktet für sich entscheiden zu können, doch den hat er wegen einer arg
stinkenden wunde vor jahren kaltblütig ausgesetzt. also schickt er den
unbelasteten jüngling neoptolemos vor, um den ausgesetzten für sich
zurückzugewinnen. ein verhängnisvolles dreieck, eine zeitlose konstellation:
ein machtmensch, ein aussenseiter, ein vermittler. das politische und das
private überlagern sich allgegenwärtig. worte werden hier zu waffen – das beabsichtigte
heiner müller in seiner sprachmächtigen zuspitzung von sophokles‘ „philoktet“ und
das unterstreicht der bulgarische regisseur ivan panteleev mit seiner
inszenierung am cuvilliéstheater der münchner residenz. worte sind waffen, ob
geschleudert, gefeuert oder taktisch subtil und schleimerisch eingesetzt: sie
verwunden und sie töten. shenja lacher (odysseus), aurel manthei (philoktet)
und franz pätzold (neoptolemos) sind drei energiegeladene und hochpräzise
schauspieler, die jedes wort auch körperlich umsetzen, ihm seine unmittelbare
wirkung geben und sein nachhaltiges echo lassen, was durch den wunderbar
leeren, nur mit daunenfedern bedeckten bühnenraum von johannes schütz eine
zusätzliche dimension gewinnt. es zucken die worte, es zucken die gedanken, es
zucken die gesichter. lauter monologe und dialoge und erst nach zwei stunden
dann das finale terzett, wo sich die drei im stakkato konfrontativ und
überlagernd vorhalten, was ihr jeweiliges handeln oder nicht handeln für
individuelle oder politische konsequenzen nach sich ziehen wird. ein terzett
der ohnmacht, ein terzett der ausweglosigkeit, ein terzett hin zum tod.
Freitag, 18. Dezember 2015
MÜNCHEN: DER SPIELER
vier
clevere schulkinder lesen und spielen sequenzen aus dostojewskis „der spieler“.
wie aus einer fernen, fremden welt. fünf schauspieler lesen und spielen
ebenfalls szenen aus diesem roman. wie aus einer sehr nahen, sehr vertrauten
welt, die vom geld getrieben wird und nur vom geld. was die kinder und die erwachsenen
verbindet, sind mehrere dutzend umzugskartons: das symbol des unterwegsseins,
des unbehaustseins, des suchens als bühnenbild und spielmaterial
für grosse und kleine schauspieler, die sich immer wieder begegnen und
spiegeln. christopher rüping zeigt in seiner inszenierung an den münchner
kammerspielen eine annäherung an diese russische gesellschaft, die im fiktiven
roulettenburg ultimativ dem glücksspiel verfällt und dabei geld und gefühle
gleichermassen verjubelt. thomas schmauser in der titelrolle als privatlehrer
mit casinodrang hat gefühlt alle zehn minuten eine schreiarie, einmal darf er –
durchaus beeindruckend – auch tierstimmen imitieren; der weg des spielers in
die verzweiflung und einsamkeit wird hier also permanent und penetrant
akustisch markiert. dieser abend ist alles: brülltheater, dancefloortheater, videotheater,
hüpfburgentheater. und dieser abend ist nichts: die figuren bleiben eindimensional,
der diskurs und die atmosphäre auf der strecke, dostojewski verhackstückelt, die regie findet keinen rhythmus. dieser abend
ist alles und nichts, er ist mal erheiternd, oft ernüchternd und mit vielen
längen vor allem auch sehr ermüdend. für die kinder gab´s am schluss herzlichen
beifall, fürs regieteam üppig buhs. christopher rüping ist ab nächster
spielzeit hausregisseur an den kammerspielen. mal sehen.
Mittwoch, 18. November 2015
MÜNCHEN: IVO
bastian, caroline, colin, daniel, irina, jonathan, maike, merlin, nurit, philipp. schöne
namen. vier frauen, sechs männer, zwischen 21 und 27 jahre alt. sie sind der
vierte jahrgang der otto-falckenberg-schule in münchen, abschlussklasse. sie sind die
schauspielerinnen und schauspieler von morgen. ivo ist die abkürzung des
grauens für alle schauspielschüler. ivo, intendantenvorsprechen. da sitzen sie
dann, die theaterleiter und dramaturginnen und agenten, und glotzen und mustern und entscheiden über karrieren.
die falckenberg-klasse gibt alles, poetisches und plakatives, koltès und
kroetz, hofmannsthal und tschechow, allein und zu zweit. die ganze kunst und
der ganze schweiss - wie immer beim ivo. doch etwas ist anders: die
kammerspiele und der schweizer regisseur boris nikitin haben das vorsprechen
dieses jahr zu einer öffentlichen veranstaltung gemacht, das vorsprechen findet
vier oder fünf mal statt, mit publikum. beim anschliessenden gespräch neben der bühne wird
schnell klar: dieses setting ist eine erlösung für die theaterklasse, weil der
saal atmet und reagiert; es ist eine erleichterung für die beobachtenden
profis, weil sie mit ihrer unangenehmen rolle in einer masse verschwinden
können; es ist ein gewinn fürs publikum, das einen entscheidenden moment in
einer schauspielerkarriere live miterleben kann. warum also ist dieses
öffentliche vorsprechen die ausnahme, nicht die regel? und warum heisst eine
veranstaltung, wo so viel bewegung und musik und emotion und kraft den raum
füllt, vorsprechen?
Dienstag, 17. November 2015
MÜNCHEN: ROCCO UND SEINE BRÜDER
„im
wohnzimmer der parondis“ steht in roter leuchtschrift auf halber bühnenhöhe
oder „im boxclub“ oder „auf dem dach der kirche“. der rest: eine grosse,
schwarze, meist leere bühne. der rest also: schauspielkunst – und phantasie des
zuschauers, die durch keine umbaupause belästigt wird. so einfach erzählt simon
stone, seit dieser spielzeit hausregisseur am theater basel, in den münchner
kammerspielen jetzt den neorealismo-klassiker „rocco und seine brüder“ von luchino
visconti. stone hat die geschichte der familie parondi, die aus dem armen süden
in die grosse stadt im norden zieht, überschrieben: aus italien wird irgendwo,
aus 1960 wird 2015, die fünf parondi-brüder sprechen eine sehr heutige, sehr
schnelle sprache, alles ist emotional aufgeladen, der klassenkampf kennt keine
nebensätze. trotz diesem tempo, trotz den harten schnitten gelingt es dem
regisseur, seinen figuren pralles leben mitzugeben, sie zu entwickeln bei ihrem
versuch, die vergangenheit hinter sich zu lassen. in der gegenwart dreht sich
alles nur ums boxen und um die nutte nadia (wunderbar vielschichtig: brigitte
hobmeier), die simone am schluss in seiner verzweiflung ermordet. fünf tolle
schauspieler, vier davon neu an den kammerspielen, lassen das traditionelle
familienbild und die hochtrabenden zukunftspläne sehr plastisch und sehr rasant
ins wanken geraten: „diese stadt bringt uns um.“ aus den zuzüglern wird die
neue unterschicht. die migrationsdebatte hat ihr déjà vu.
Donnerstag, 12. November 2015
MÜNCHEN: POLT, POLTER, POLTERABEND
die
nürnberger gesellschaft für konsumforschung (gfk) ermittelte die häufigsten
gründe für streit unter nachbarn in deutschland: ruhestörender lärm,
missachtete nachbarpflichten (treppenhausreinigung usw.), stinkende/dreckige/laute
haustiere, unfreundlichkeit, störende besucher, lästiger
zigarettenrauch, verdreckte gemeinschaftsräume. welches gewicht dieser
kleinkrieg im alltag der deutschen hat, welche bedeutung für die befindlichkeit
dieser nation, wird erst dadurch vollumfänglich klar, dass gerhard polt ihm ein
abendfüllendes programm widmet! zweieinhalb stunden über
nachbarschaftsstreitereien!! an den münchner kammerspielen, dem theater der
ganz grossen themen und konzepte!!! „ekzem homo“ heisst die veranstaltung, der
mensch als plage. kulminationspunkt der poltschen volkskunde ist der satz: „um
einen anderen umzubringen, muss man ja nicht zwangsläufig religiös sein.“
vereint mit seinen nach wie vor brillanten musikantenkumpeln, den well-brüdern
aus dem biermoos, kämpft sich polt durch laubbläser- und grillrauchattacken,
die kleingeistigkeit der ortsfeuerwehr bekommt ihr fett ab, die
kleingeistigkeit der laientheatergruppe, die kleingeistigkeit der csu und die
kleingeistigkeit der katholischen kirche. immer auch liebevoll augenzwinkernd,
immer auch mit hundert gramm philosophie, wobei ihm der gute alte nestroy pate
stand: der mensch an und für sich ist gut, aber die leut´ sind ein gesindel.
die zahl der nachbarschaftsverfahren vor deutschen gerichten wächst. mag sein,
dass man als nicht-deutscher die ultimative brisanz der thematik nicht wirklich
nachvollziehen kann oder will, doch auch die scharfe beobachtung des
rest-publikums lässt kaum zweifel an der gesamtbilanz: der polt war auch schon
polter.
Dienstag, 10. November 2015
MÜNCHEN: MÜNCHEN!
"solange die eltern am leben sind, sollst du keine weiten reisen unternehmen." (konfuzius)
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