Samstag, 17. Oktober 2020

MÜNCHEN: EINE JUGEND IN DEUTSCHLAND

der schauspieler martin weigel sammelt die kriegsopfer zusammen. überall liegen sie, weit verstreut. weigel hängt sie sich über die schultern, bindet sie sich an arme und beine, schleppt sie mit sich herum. die toten sind hüfthohe holzpuppen von michael pietsch, und weigel ist ernst toller, er leidet unter dieser last, diesem leichenberg, bricht beinahe zusammen, physisch und psychisch. ein starkes, ein unheimliches bild. „eine jugend in deutschland“ heisst die autobiographie von ernst toller (1893-1939): kindheit im bürgerlichen elternhaus, zuerst fasziniert, dann traumatisiert vom ersten weltkrieg, linkssozialistischer revolutionär und grandios gescheitert mit dem versuch einer räterepublik. dieses leben als poet, politiker und phantast („von allem zu viel“) zeigt regisseur jan-christoph gockel an den münchner kammerspielen in form einer sechsteiligen serie, die toller immer wieder nach seiner dringlichkeit für heute abklopft: „wo ist die jugend europas?“ fragt er - ohne echo. die geschichte tollers und seiner generation bekommt hier ein gesicht, viele gesichter. ja, von allem zu viel, das gilt leider auch für diese inszenierung. leicht hektisch werden wir durch sämtliche genres gejagt, doku, napoleon-parodie, aktuelle statements und eine peinlich-zähflüssige nazi-soap, alles in allem eine wild mäandernde revue, die ihre legitimation aus tollers spiel mit verschiedenen stilen zu beziehen scheint. dabei ist regisseur gockel absolut spitze, wenn er seinen stillen, grossen ideen vertraut. wenn zum beispiel der schauspieler walter hess, der 1939 geboren wurde, im gleichen jahr wie sich toller das leben nahm, auf der bühne kauert, um der grandios gefertigten toller-marionette auf augenhöhe und geradezu zärtlich zu begegnen: krieg? demokratie? was haben wir dazugelernt? fragt dieser moment. ganz ohne worte.

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