Sonntag, 13. Oktober 2024

MÜNCHEN: AMERIKA / DER VERSCHOLLENE

die freiheitsstatue dehnt und streckt sich, mustert kritisch das publikum, setzt sich dann an den flügel, der mitten auf der leeren bühne im scheinwerferlicht steht, und singt „new york, new york“ von frank sinatra. der abend beginnt sehr stimmig. miss liberty singt tschechisch, schliesslich kommt der junge mann, der gleich bei ihr eintreffen wird, aus prag. in seinem unvollendeten roman „der verschollene“, der nach seinem tod vor hundert jahren unter dem titel „amerika“ publiziert wurde, spediert franz kafka den 17jährigen karl rossmann in dieses land, das er selber nie bereiste und trotzdem minutiös und beängstigend weitsichtig beschrieb. in der inszenierung von charlotte sprenger an den münchner kammerspielen gibt katharina marie schubert diesen jüngling, keck mit baseball-cap, naiv und neugierig, immer in bewegung, ein liebenswürdiger kerl, der immer an die falschen gerät und immer tiefer in die scheisse und trotzdem weiter an das gute glaubt. doch wir sind bei kafka, der amerikanische traum wird zum albtraum. das gilt auch für alles, was sich um die famose hauptdarstellerin herum abspielt: ein zwar hochkarätiges ensemble in einer allerdings hochgradig wirren show. abraham lincoln im glitteranzug verliert sich zwischen schwingtüren, jeff bezos darf zu einer predigt ausholen, durchgeknallte perücken, peinliches rumgehüpfe, häppchenweise kritik der herrschenden verhältnisse, ein pharma-skandal, ein paar tangoschritte, ein wenig elvis, alles pulsiert und vieles läuft leider ins leere. man leidet mit karl rossmann und der grossartigen schauspielerin, die sich durch diesen ideenbombast kämpft, aber ja, so ist amerika. am ende sind (wir) alle karl rossmann und die freiheitsstatue legt ihre fackel beiseite und zieht sich um. ein abend irr wie trump. 

Donnerstag, 10. Oktober 2024

REGENSBURG: EIN MEILENSTEIN FÜR DIE UKRAINE

die ukraine fand ohne uns statt. ukrainische kultur? wer im westen hatte vor dem russischen angriffskrieg bücher von serhij zhadan („mesopotamien“) oder andrej kurkow („graue bienen“) gelesen? wer kannte sinfonien von borys ljatoschynskyi? oksana lyniv dirigierte zwar bereits grosse orchester im westen, doch wer wusste, dass sie ukrainerin ist? wer hatte schon mal vom leftbanktheater in kyjiw gehört, das in der gleichen liga spielt wie die berliner schaubühne und das zürcher schauspielhaus, und von so vielseitigen theaterleuten wie vitalina bibliv und dmytro oliinyk? der film „slovo house“ von taras tomenko, in dem dmytro oliinyk die hauptrolle spielt, zeigt eindrücklich, wie stalin vor bald 100 jahren das intellektuelle leben in charkiw zerstörte und so die wesentlichen impulse der ukrainischen kultur ausrottete. die geschichte wiederholt sich: es fallen bomben auf universitäten, theater, konservatorien. etwa 200 bibliotheken wurden bereits zerstört und im mai eine druckerei, die die wichtigsten verlage belieferte: „als ich im juni auf der buchmesse in kyjiw die verkohlten überreste dieser bücher in den händen hielt, zitterten meine hände. die geistige kraft und zugleich physische verletzlichkeit eines buches ist überwältigend.“ diese erfahrung schilderte die in wien lebende autorin tanja maljartschuk jetzt an der universität regensburg, bei der eröffnung des „denkraums ukraine“, einem zentrum für interdisziplinäre ukraine-studien. hier soll die vernachlässigte forschung über dieses land und seine kultur endlich fahrt aufnehmen. „warten sie ab“, sagte maljartschuk hoffnungsfroh, „hören sie uns zu, reden sie mit uns.“ die verdienstvolle initiative der uni regensburg dürfte in der breiten öffentlichkeit kaum registriert werden und doch ist sie ein meilenstein für die ukraine, die nicht nur ihr territorium verteidigen muss, sondern auch ihr geistesleben.

Montag, 7. Oktober 2024

INNSBRUCK: VERLANGEN

peter bringt seinen bruder simon um. sein jüngerer halbbruder eben bringt agnes um, die junge frau des alten vaters und seine geliebte, und dann sich selbst. peter ertrinkt, weil ihm geld in den fluss gefallen ist. mina, mit der fast alle ein verhältnis hatten, bringt ephraim um, den autoritären vater. ein neugeborenes wird tot im bett gefunden – und dann sagt einer: „mitgefühl ist das schlimmste aller gefühle.“ im auftrag des landestheaters innsbruck hat die junge autorin lisa wentz eugene o´neills schauspiel „desire under the elms“ (gier unter ulmen, 1924), das in der amerikanischen pampa spielt, in ihre heimat verlegt. statt also das publikum für ein stück aus einem anderen kulturkreis zu erwärmen (was in den theatern leider nicht mehr immer funktioniert), holt sie den stoff in die lebenswelt des publikums. die dysfunktionale familie haust jetzt in einem tiroler bergdorf. bereits der blick auf die riesige bühne macht jedoch klar, dass hier kein volkstheater inszeniert wird, sondern eine tragödie griechischen ausmasses: riesige weisse kuben stehen herum, vielleicht sind es berge, vielleicht ist es das eis, das sämtliche gefühle dominiert, dazwischen viel leere. in dieser leere lässt regisseurin cilli drexel die figuren fast holzschnittartig agieren. das misstrauen und die distanz aller zu allen setzt sie bildlich um, wenn sie sich anschreien, wenn sie gifteln, wenn sie sich quälen bis aufs blut, dann tun sie das alles sehr oft auf grosse distanz, denn hier ist jede und jeder allein, stur, unbarmherzig, hart. kleiner einwand deshalb: dieser streit um ein erbe, einen hof, und die gier nach geld und liebe und sex wird durch den titel „verlangen“, den lisa wentz für ihre überschreibung gewählt hat, nur unzureichend erfasst, „gier“ trifft diese emotionalen explosionen eindeutig besser. im gegensatz zur amerikanischen vorlage wertet die autorin dafür die beiden frauen auf, agnes und mina: es geht ihnen hier nicht besser, doch man versteht besser, wie schlecht es ihnen geht. eugene o’neill goes tirol – das experiment ist absolut geglückt, auch dank einem hervorragenden ensemble.

Sonntag, 6. Oktober 2024

VENEZIA: IL MIRACOLO DI HELVETIA

man stellt sich den künstler als ziemlich hippen, ziemlich wilden mann vor, der dauernd unterwegs ist, an tausend orten gleichzeitig, und ununterbrochen notizen macht (skizzenbuch? tablet?), weil ihn die ideen nur so überfallen. denn was guerreiro do divino amor (brasilianische mutter, schweizer vater) im schweizer pavillon an der biennale in venedig anrichtet, ist die attacke einer überbordenden phantasie, der helle wahnsinn. inhalt? die ganze schweiz in 19 minuten und 34 sekunden! eine rauschhafte abhandlung über unsere identität: das publikum liegt im kreis in einem planetarium, verschneite bergspitzen fliegen vorüber, das bundeshaus, eine fettleibige nackte auf einer schaukel (helvetias jüngere schwester oder heidi als erwachsene?), ein roulettetisch, sommarugas legendäre 1.august-ansprache, immer wieder banknoten, mal schleicht sich die wilhelm-tell-ouverture an. mit mitteln von telenovelas, science fiction, musicclips und viel künstlicher intelligenz stellt der künstler die nationalen mythen und klischees hemmungslos aus, hinterfragt sie tief- und abgründig und rückt sie im zweiten raum auch noch in die nähe des altrömischen grössenwahns. mit "il miracolo di helvetia" ist guerreiro do divino amor ein grosser wurf gelungen, seine opulente videoorgie hält uns den spiegel vor und enthüllt den anderen ("stranieri ovunque - foreigners everywhere" lautet das biennale-motto) unsere wahre seele. dieses helvetische panoptikum ist witzig und kritisch und kitschig - und sorgt für auffallend viel geschmunzel im publikum. "abbiamo bisogno di svizzera" flimmert's am ende quer durch den sternenhimmel. klar, es braucht sie. nur, welche schweiz?

Freitag, 4. Oktober 2024

VENEZIA: WZWFFF BU BUUHH!

"tudududz tududz tudududhz....." boris, ein bärtiger älterer herr aus mariupol, wiederholt das geräusch noch einmal. es ist der sound des krieges. auf zwei grossen screens im polnischen pavillon an der biennale ahmen - in nahaufnahme gefilmt von marta czyż - auch halyna, anastasia, samir, inna, valerii und viele, viele andere die geräusche von kalaschnikows, panzern, mortar shellings, fliegerbomben nach und der text wird auch eingeblendet: "wzwfff bu buuhh!", "weee uuu mmm uuuuuu", "tududz", "bumbumbumbumbumbumbum", "sshhhhhh-s-s-s-shhh-sssh". dann wenden sie sich direkt ans publikum: "repeat after me." wiederholt das laut, damit ihr es hört, fordert boris, damit ihr es hört und nie mehr vergesst. denn unser krieg könnte auch euer krieg werden. vor den zwei screens stehen je acht mikrofone. "repeat after me." dann schweigen die ukrainerinnen und ukrainer. und kaum jemand im abgedunkelten raum wagt es, sich auf dieses karaoke des schreckens einzulassen. "this pavillon touched me the most", schrieb jemand ins gästebuch beim ausgang. ja, tatsächlich. - auf der grossen leinwand im österreichischen pavillon, nur ein paar schritte weiter, tanzen vier ukrainische ballerinen tschaikowskys "schwanensee". der lief im sowjet-tv immer, wenn die bevölkerung von heiklen politischen entwicklungen abgelenkt werden sollte. der subversive ansatz der vier ukrainerinnen: sie proben ihren "schwanensee" für den regimewechsel in moskau. im endlos-loop.

Mittwoch, 2. Oktober 2024

TRIESTE: AUF POETISCHEN PFADEN

bei den thurn und taxis auf schloss duino, einige kilometer ausserhalb von triest, gingen neben kaiser franz joseph I. und seiner sisi die grossen künstler ein und aus: victor hugo, franz liszt, mark twain, gabriele d'annunzio, richard strauss, paul valéry, rainer maria rilke. künstlerinnen? bedeutende frauen schienen eher nicht so gefragt zu sein in diesem europäischen salon. das schloss liegt spektakulär auf einem hohen felsen über der oberen adria, umgeben von prächtigen parkanlagen und terrassen mit grandiosem blick auf karst und klippen und das tiefblaue meer. ein wenig versteckt dann plötzlich ein schild: "la terrazza dove r. m. rilke ha scritto le elegie duinesi." hier also. angesichts dieser prachtskulisse schrieb rilke 1912: "das schöne ist nichts als des schrecklichen anfang." hier also kam er ins grübeln und dichten über die widersprüche des menschlichen daseins - und schuf mit diesen duineser elegien sein meisterwerk: "wer, wenn ich schriee, hörte mich...?" zu ehren des dichters wurde durch den pinienwald zwischen duino und sistiana über der 80 meter hohen küstenkante der "sentiero rilke" angelegt, ein wildromantischer pfad und eine wunderbare einladung, über diese melancholischen elegien zu meditieren, über rilkes wandeln zwischen verzweifeln und hoffen: "sollen nicht endlich uns diese ältesten schmerzen fruchtbarer werden?"

Sonntag, 22. September 2024

NIEDERRICKENBACH: HEAVY HACKBRETT

man schiebt es hinaus und hinaus, dann freut man sich, wenn die mühselige geschichte endlich abgeschlossen ist, um im nachhinein leicht verärgert zu realisieren, dass da doch das eine und andere nicht ganz stimmt: exakt so wie mit der steuererklärung verhalte es sich mit dem stimmen eines hackbretts. sagt der begnadete hackbrettspieler christoph pfändler. wer sein publikum so abholt, hat es schon im sack. im rahmen der konzertreihe a-horn rockt der 32jährige ostschweizer die kirche niederrickenbach mit einem solo-auftritt. auf der innenseite seines hackbrettkoffers kleben die porträts seiner idole und ja, bei aller liebe zu seinem instrument hat er die faszination für heavy metal nie abgelegt. wenn er dann so richtig in fahrt kommt, fürchtet man gelegentlich um sein zartes prachtsinstrument. was christoph pfändler jeweils bescheiden als das nächste stück ankündigt, erweist sich nicht selten als kleine sinfonie, in der er traditionelle volksweisen genauso anklingen lässt wie rock´n´roll und boogie woogie, federleicht lässt er die ruten über die saiten rasen, tempowechsel, stilwechsel, harte schnitte, wilde saitenritte, auch mal pizzicato, sein fideles fingerballett wird zu einem faszinierenden musikalischen feuerwerk. die stücke heissen „chatzestrick“, „vogelherd“, „sargans“, "haumesser" und begeistern restlos, weil sie ungeniert sämtliche grenzen überschreiten. heavy hackbrett, sozusagen. man ist beinahe überrascht, wenn´s mal ganz verspielt-intim wird: etwa wenn er augenzwinkernd eine melodie anstimmt, die sein vater für die appenzeller streichmusik komponiert hat, oder bei seiner liebesode für „nadja“, nicht irgendeine, sondern die nadja. alles stimmig von a bis z, das aufwändige stimmen hat sich gelohnt.

Donnerstag, 19. September 2024

LUZERN: THE TURN OF THE SCREW

an der schraube drehen. immer mehr. noch mehr. bis es weh tut. „the turn of the screw“ von benjamin britten (1954) ist die vertonung einer horrorstory von henry james. ein düsteres landhaus, zwei waisenkinder, eine alte haushälterin, eine neue gouvernante, der geist einer verstorbenen gouvernante und der geist des verstorbenen dieners peter quint - man ahnt nichts gutes. zwischen realität und spuk dreht britten an der schraube, windet seine melodien immer tiefer hinein in den grusel. unter der musikalischen leitung von clemens heil und begleitet von der jungen philharmonie zentralschweiz stürzen sich jetzt studierende der hslu-musik auf diese unheimliche oper und dies, wie die öffentliche generalprobe bewies, mit grösster hingabe. die bühne liegt wie ein catwalk schräg im raum, darauf ein tisch, ein sofa, eine schaukel, geheimnisvolle lichtwechsel. mehr braucht regisseurin regina heer nicht, um die beklemmende atmosphäre der musik aufzunehmen. dies auch dank den sechs sängerinnen und dem tenor, die sich nicht nur stimmlich top zeigen, sondern auch darstellerisch: das gespenstische wird nie ausgekostet, sondern nur angedeutet, es wirkt vor allem durch reduktion gespenstisch und durch den scharfen kontrast zu den allerliebsten kindermärchen-kostümen, die studierende der hslu-design entwarfen. hervorragend, wie es dem jungen ensemble gelingt, alle rätsel in der schwebe zu halten, wie britten dies intendierte, die deutung ganz dem publikum zu überlassen: ist der kleine miles besessen? war der tote diener übergriffig? ist alles nur eine üble phantasie der gouvernante? will sie die kinder schützen – doch wovor? ein starkes stück. und absolut sehens- und hörenswert, auf welch hohem level sich die studierenden da, ja, hineindrehen.

 

Sonntag, 15. September 2024

LUZERN: HERZWÄRTS MIT YLFETE FANAJ

„lassen sie sich berühren. lassen sie sich auch von den geschichten und dingen berühren, die sie nicht ändern können.“ ylfete fanaj tritt anlässlich des eidgenössischen dank-, buss- und bettages in der kirche st. johannes auf. „herzwärts“ lautet dieses jahr das motto. die luzerner sp-regierungsrätin predigt nicht, sondern lädt ein zu empathie und engagement: „lassen sie sich berühren.“

Freitag, 13. September 2024

ZÜRICH: FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA

die alte frau yamamoto (nikola weisse, lebensklug und rührend) möchte ihre wohnungstür immer einen spalt weit offen lassen, um sich nicht so allein zu fühlen. doch die menschen in ihrem treppenhaus reden und leben aneinander vorbei. einer dichtet haikus für eine heike, die´s gar nicht gibt. eine glaubt, die probleme wären gelöst, wenn alle eine waffe hätten. einer möchte die betagte nachbarin keinesfalls einladen, weil er befürchtet, dass er sie nicht mehr los wird. distanz allenthalben, vereinzelung, vereinsamung – ganz grosses thema. „ich eigne mich nicht für die wirklichkeit“, sagt einer. auch andere denken so. die uraufführung von „frau yamamoto ist noch da“ von dea loher findet in tokio und zürich gleichzeitig statt. auf der bühne des schauspielhauses schieben sich permanent rote, blaue und gelbe plexiglasscheiben zwischen diese menschen: sie sehen sich, sie hören sich und bleiben doch immer gefangen, isoliert in ihrer eigenen welt. in diesem transparenten labyrinth von florian lösche und zu suggestivem sound von mark badur und the notwist arrangiert regisseurin jette steckel mit einem top-ensemble eine oft tragische, gelegentlich komische und immer wieder ins absurde kippende choreografie der einsamkeit. es ist ein ausufernder reigen loser szenen, dem ein paar striche gut getan hätten. dicht und überzeugend ist dea lohers vorlage, wo sie sich an den individuellen neurosen ihrer figuren abarbeitet und sich kleine utopien ausmalt, doch verliert sie diesen fokus immer wieder und packt alle dramen dieser welt dazu, krieg und börsenkurse und fischsterben und robotik. frau yamamoto stirbt mitten im stück, durchaus zufrieden. sie hat spuren hinterlassen in ihrer umgebung, ihr umgang mit schicksalsschlägen war vorbildlich und auch inspirierend, das merken viele erst spät. ihre seele, die bleibt als summe aller erinnerungen an sie, sie lebt weiter, sie ist noch da. 

 

Dienstag, 10. September 2024

MÜNCHEN: DER TROST DER DINGE

wie entstehen romane? aufgrund einer beobachtung, eines traums, einer plauderei, einer mission, durch brain storming, in einem writers room oder mit hilfe künstlicher intelligenz. alles denkbar, alles möglich. im münchner lenbachhaus lässt sich jetzt nachvollziehen, wie die romane von orhan pamuk entstehen, der 2006 als erster türke mit dem literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. „der trost der dinge“ heisst die ausstellung, sie zeigt die werkstatt eines schriftstellers. es sind also vor allem dinge für pamuk die auslöser: gegenstände führen ihn zu gedanken, gedanken festigen sich zu geschichten. in einer der vielen dutzend vitrinen stehen sich zwei porzellanhunde gegenüber, ein chinesischer aus der dresdener porzellansammlung und ein westlicher. darüber hat sich pamuk einen kleinen seiltänzer gebastelt, der „ständig zwischen den beiden welten hin- und herlaufen und mit einer stange namens romankunst das gleichgewicht halten muss“. so läuft das bei pamuk, geistreich, humorvoll, immer auch zuversichtlich. das düstere bild „das grosse maul“ von alfred kubin beispielsweise, auf dem menschen scharenweise in die hölle marschieren, kehrt pamuk in einem diorama kurzerhand um: dutzende kommen uns, in form winziger fotografien, aus dem maul entgegen, es sind „die menschen, die mich mein leben lang am meisten durch ihre intelligenz und kreativität beeindruckt haben“. auf schritt und tritt wird man daran erinnert, dass pamuk ursprünglich maler werden wollte: skizzenbücher, tagebücher, er zeichnet in kneipen, tusche, aquarelle, er blickt stundenlang aus fenstern, fotografien, kleiner krimskrams. alles ist jetzt da, es ist das museum eines scharfsinnigen mannes. man trifft auf einen faszinierenden fundus, nein, eine flut von gedanken, gegenständen, geschichten – als würde man durch einen dicken roman wandern.

 

Sonntag, 8. September 2024

MÜNCHEN: ABSCHIED VOM LEBEN, D-MOLL TOTAL

lahav shani ist 35. in zwei jahren übernimmt er die leitung der münchner philharmoniker und zum auftakt der konzertsaison steht er jetzt am pult seines künftigen orchesters: der junge mann aus tel aviv widmet sich dem alten mann aus linz, anton bruckner, dessen 200. geburtstag gerade üppig begangen wird. als er starb, war bruckner 72, gut doppelt so alt wie shani jetzt, und hinterliess seine neunte symphonie unvollendet, ein werk an der schwelle von der spätromantik zur moderne. es sei, sagte er, sein abschied vom leben und „dem lieben gott“ gewidmet. da hat er dem lieben gott schwere kost zugemutet. die neunte ist kein versöhnliches, friedliches adieu, sondern – und lahav shani kostet dies bis zur schmerzgrenze aus – ein monströses werk. zwar klingen immer wieder anmutige, fein ziselierte melodien an, doch dann kippen sie unvermittelt, in aufruhr, in krieg, in chaos. das ist d-moll total, ein zeugnis tiefster verzweiflung und existenzieller panik. ungebremst, mit voller wucht steuert der dirigent sein orchester hinein in diese hochdramatischen exzesse und eruptionen. diese junge, unbändige energie lädt die ausverkaufte isarphilharmonie auf bis zum bersten. eine endzeitvision zum auftakt, mutig. nach dem finalen ton verharrt das publikum zunächst in andacht schweigend – und dann: begeisterungsstürme. lahav shani scheint angekommen zu sein in seiner künftigen heimat. vor bruckner, im ersten teil des abends, beweist er, dass er nicht nur ein meisterhafter dirigent ist, sondern auch ein vorzüglicher pianist. nur, weshalb spielt er johann sebastian bachs cembalokonzert d-moll auf dem klavier? als ob es keine historische aufführungspraxis gäbe? das programmheft liefert keine erklärung. das bleibt also lahav shanis geheimnis. vielleicht sind es ja nicht zuletzt die kleinen geheimnisse, die das wirken grosser künstler prägen.

Donnerstag, 5. September 2024

LUZERN: BILDER DEINER GROSSEN LIEBE

seltsam, diese männer: zu knappe shorts, kurzarm-blouson, gummistiefel, alles in strahlendem weiss und nicht ganz alterskonform. einer trägt einen schafskopf, einer eine mit filzstiftfratze bemalte pappschachtel, einer hat eine regenhaube übergezogen, die er mit sprühflasche dauerbefeuchtet. oliver losehand, eher fortgeschrittenes semester, spielt sie alle: einen selbstmörder, einen ehemaligen bankräuber, einen taubstummen undundund. dieser weisse mann, das sind wir, die erwachsenen (m/w/seltener d), wie sie von einer jugendlichen wahrgenommen werden, manchmal ein bisschen und manchmal total weird. isa ist 14, aus einer psychiatrischen klinik ausgebüxt, unterwegs auf landstrassen und in wäldern, am tag und in der nacht, mit allen sinnen stolpert sie ins richtige leben. isa ist die protagonistin in wolfgang herrndorfs posthum veröffentlichtem romanfragment „bilder deiner grossen liebe“, das hannah nagel jetzt im ug des luzerner theaters inszeniert hat. und dies ausgesprochen subtil. ein klinikbett, ein schaukelpferd, eine waschmaschine, ein papagei und viel grünzeug stehen rum im tiefen raum, isas welt und isas traumwelt, dazu ein paar herrlich aufgeraute songs von zaho de sagazan und aleksandra sucur. traumwandlerisch bewegt sich amélie hug in genderfluiden schlabberklamotten durch die kurvenreiche geschichte (was ist verrückt? was ist normal?), immer wieder begegnet sie dem weissen mann – also uns! – und wundert sich, immer ist sie im zentrum, immer gönnt sie herrndorfs präziser, poetischer sprache viel platz und rhythmus, so erleben wir diese junge frau sympathisch und störrisch und schelmisch und stürmisch. am ende steht sie mit einer geklauten knarre in der hand an einem abgrund: „…..aber ich bin stärker.“ man muss sie einfach liebgewinnen, diese isa/amélie, weil sie uns so bezaubernd authentisch nahe bringt, wie verdammt anstrengend es ist, in dieser hochkomplexen welt erwachsen zu werden.

Samstag, 31. August 2024

LUZERN: GIACOMO VARDEU

lucerne festival im kkl, vegan food festival auf dem inseli, pride zentralschweiz am nationalquai, theaterfest auf dem theaterplatz, strassenmusikfestival all around the city – noch was vergessen? alle beklagen den over-tourism, aber man müsste auch mal über over-eventing reden, zu deutsch: die über-bespassung. einerseits. andererseits: was gibt es schöneres als eine kleine provinzstadt, wo hinter jeder ecke musik lauert? wo man zwischen einkauf in den gassen und apero am see den tollsten musikstars begegnet, aktuellen und künftigen? giacomo vardeu zum beispiel. im programm zum strassenmusik-event des lucerne festivals wird der 18jährige organetto-spieler aus orosei in sardinien quasi als sidekick des mandoloncello-„altmeisters“ mauro palmas angekündigt. von sidekick keine spur: wohl sechs jahrzehnte trennen die beiden zwar altersmässig, doch sie spielen wie kumpels seit ewig, kommunizieren noch zu den teuflischsten tempi liebevoll per mimik und ja, spielen absolut auf augenhöhe – eine generationenübergreifende freundschaft. grossartig, wie altmeister mauro es gelassen hinnimmt, dass jungstar giacomo das publikum voll auf seiner seite hat. mit seiner kleinen harmonika spielt der sich wie in trance, kostet die melancholischen melodien genau so aus wie die höllisch schnellen passagen, alles mit virtuosester fingerfertigkeit. und irgendwann beginnt der junge kerl auch noch zu singen, ganz hoch und ganz tief: den charakteristischen obertongesang der sarden hat er ebenso drauf wie das tiefe, vom blöken der schafe inspirierte gurgeln und grummeln. das ist volksmusik und jazzfestival montreux in einem. wer diesen giacomo vardeu gehört hat, versteht sofort, weshalb es mich immer wieder nach sardinien zieht.

Montag, 26. August 2024

LUZERN: IDOMENEO

kriege, naturkatastrophen und ein alter könig, der unter druck jüngeren weichen muss (der biden-moment!) – alles drin in mozarts „idomeneo“. temperamentvoll, präzis, geradezu elektrisierend dirigiert jonathan bloxham das luzerner sinfonieorchester durch die stürme auf dem meer zwischen troja und kreta und die stürme in den herzen der menschen, die mozarts musik so plastisch zeichnet. auf der bühne ein erstklassiges solistinnenensemble, allen voran tania lorenzo castro als kriegsgefangene prinzessin ilia, völlig aufgewühlt zwischen der sehnsucht nach ihrer heimat und ihrer zuneigung zum feindlichen herrscher, und eyrún unnarsdóttir als vor rache rasende, beilschwingende elektra. ein musikalisches feuerwerk. der kampf dieser menschen um gerechtigkeit hat regisseurin anika rutkofsky an den ballhausschwur zu beginn der französischen revolution erinnert, weshalb sie die alten griechen kurzerhand in einen ballsaal in versailles um 1789 beamt. diese szenische umsetzung ist ein, gelinde gesagt, ärgerlicher rückgriff in eine längst überholte opernästhetik: die kulissenschreiner und -maler durften wieder einmal ein pseudorealistisches sperrholz-bühnenbild wie anno dunnemals basteln, dazu gibt´s eine hoffnungslos überfrachtete kostümorgie, wohl aus dem geplünderten fundus, das volk sieht man in den zahlreichen chorszenen wahlweise händeringend oder debil torkelnd (wie „les misérables“, nur schlechter) und idomeneo trägt zur krone auch mal eine signalrote trump-krawatte und mal einen selenski-overall, huch, wie originell. mozarts utopie von einer besseren welt wird von der flut der ideen und bilder zugedröhnt, die zeiten geraten zunehmend durcheinander, die einen blicken im rokoko-kostüm nach vorn, die anderen blicken im nerd-t-shirt zurück – und wir blicken angesichts dieser nicht mehr ganz taufrischen ideen immer mal wieder auf die uhr. man kann nur hoffen, dass der operndirektion auf dem weg zu einem neuen luzerner theater keine weitere derartige entgleisung passiert wie diese peinlich altbackene inszenierung. innovation geht anders.