hat er jetzt „mehr licht“ gefordert oder völlig erschöpft „mehr
nicht“ gehaucht? bis heute wird über goethes letzte worte gerätselt. nicht nur
jedem anfang, auch jedem ende wohnt ein zauber inne: der charme oder die wucht
letzter sätze. man werfe zwecks überprüfung einen blick ganz hinten in die
derzeit angesagtesten bücher:
„dann sieht sie, wie sich weit vor ihnen eine schimmernde
öffnung in der luft anzeigt, ein riss, ein spalt, ein flimmerndes, instabiles
portal.“
(dorothee elmiger, die holländerinnen - deutscher buchpreis 2025)
„gute nacht, mein allerliebster böser vater.“
(leon engler, botanik des wahnsinns)
„ein knall, glas zerbricht, wir springen auf.“
(dmitrij kapitelman, russische spezialitäten)
„auch sie wollten in die schweiz, nach zürich, wo die
schwäne weisser sein sollten als ein frisch gewaschenes leintuch.“
(nelio biedermann, lázár)
viel wird über erste
sätze nachgedacht und geschrieben. wie fesselt eine autorin ihren leser, ein
autor seine leserin? entscheiden sie mit dem ersten satz bereits alles? weitaus entscheidender
ist, wie sie und er ihn und sie am schluss entlassen. der zauber letzter sätze:
hoffnung, traum, depression, vision, utopie, dystopie, jede menge kino im kopf.
der letzte satz in „herscht 07769“, dem letzten grossen roman des diesjährigen
literaturnobelpreisträgers lászló krasznahorkai würde den rahmen dieses blogs
sprengen. denn der letzte satz ist auch der erste. krasznahorkai will es
nicht auf den punkt bringen, das ganze buch ist ein einziger satz. deshalb hier,
aus platzgründen, nur das allerletzte wort, unten auf seite 409: „…..nacht“.
flimmerndes, instabiles portal? böser vater? knall? leintuch? nacht? lektüre als labyrinth, mehr licht, mehr nicht, mehr licht.....
Freitag, 17. Oktober 2025
LUZERN: DER ZAUBER LETZTER SÄTZE
Sonntag, 12. Oktober 2025
HORW: CHLÖISU - DIE WIRKLICHKEIT IST NICHT ALLES
überall kartons, die ganze bühne in der kulturmühle horw ist vollgestellt damit, ein irrgarten aus steckkartons. dazwischen ein mann. es ist der berner schauspieler marco michel, er spielt das original chlöisu friedli, in einem eineinhalbstündigen solo. friedli lebte von 1949 bis 1981, war pianist, „brachte dem blues das berndeutsch bei“ (schöner als der flyer kann man das nicht sagen) – und er war psychisch krank. triggerwarnung, auch auf dem flyer: im stück wird suizid thematisiert. zu beginn von „chlöisu – die wirklichkeit ist nicht alles“ bewegt sich michel/friedli eine taschenlampe suchend zwischen den kartons. wann fing es an? wann begann diese angst, es komme nicht mehr gut? als bub will chlöisu unbedingt die taschenlampe in die badi mitnehmen, an einem strahlenden sommertag, „falls es plötzlich dunkel wird“. manchmal sind es nur sätze, manchmal längere episoden, die marco michel zu einem fesselnden porträt fügt, zur reise in eine innenwelt, in der es immer dunkler wurde. es ist ein aufwühlendes stück, das er aufgrund von chlöisu-zitaten und gesprächen mit angehörigen schrieb, er spielt auch den bruder, die gattin, den psychiater, alle ausgesprochen liebevoll, er switcht genial von rolle zu rolle, setzt sich ans klavier, spielt den sünneli-blues und den tscharni-blues, ein ganzes leben im eiltempo. und immer wieder diese kartons, er baut sie anders zusammen, als tisch, als mauer, dann wieder als labyrinth. dieses spiel mit den kartons lässt einen als zuschauer zunehmend nervös werden, es ist eine perfekte metapher für das zwanghafte, das unruhige seelenleben, die unordnung im kopf, in dem es immer lauter donnert. da steckt einer fest und kann nicht mehr weg. „wohäre geisch?“ wenn er das wüsste. „wohäre geisch?“ heisst chlöisu friedlis einzige cd, sein vermächtnis. wie viele originale war er ein philosoph des alltags, umwerfend träf: „schlussendlich glauben wir alle das gleiche. nämlich dass es stimmt.“ jedem seine wirklichkeit. was ist wirklich? und was bloss im kopf?
Freitag, 10. Oktober 2025
MILANO: CINEMA IMPERO
sassen sie schon einmal mit einer ihnen völlig unbekannten frau, die sich an sie anlehnte, in einem grossen, leeren, abgedunkelten kino, nur zu zweit? ich schon. dieses one-to-one-setting ist die grundlage für die performance „cinema impero“ von muna mussie im rahmen der mailänder triennale. ausgehend vom gleichnamigen art-déco-kino, das der italienische architekt mario messina während der kolonialzeit 1937 in asmara hinstellte, bewegt sich die italienisch-eritreische künstlerin mit filmischen mitteln auf den spuren ihrer doppelten identität. sie kombiniert sequenzen aus alten filmwochenschauen, als die italienischen faschisten eritrea terrorisierten und sich als erlöser feierten, mit privaten videos von ihren reisen in ihrer anderen heimat. zwischendurch spricht sie texte halblaut mit, zwischendurch schreit sie wütend der leinwand entgegen und immer wieder kommentiert eine ki-stimme die bilder. mussie arbeitet und leidet am krassen kontrast zwischen offizieller und privater geschichte, zwischen regime-propaganda und persönlicher wahrnehmung. und sie verweist mit ihrem wilden bilderreigen auf die eklatanten parallelen zwischen dem polit-marketing von einst und der künstlichen intelligenz heute: der mensch wird manipuliert, durch verfälschte geschichten und durch verfälschte bilder. als es wieder hell wird im saal, bin ich ganz allein, muna mussie sitzt nicht mehr neben mir. sucht diese frau halt in haltlosen zeiten, nähe, körperkontakt mit einem menschen mit einer ganz anderen identität? es bleibt offen – und es ist in keinem moment unangenehm oder peinlich. die mailänder triennale steht dieses jahr unter dem motto „disuguaglianze“ (ungleichheiten). muna mussies beitrag, acht mal am tag, ist ein intensives erlebnis, das den körper und den geist gleichermassen berührt.
Montag, 6. Oktober 2025
MÜNCHEN: GESTOHLENES GLÜCK
noch einmal ans ukrainische theaterfestival in der pasinger fabrik, noch einmal das zoloti-vorota-theater aus kyjiv, noch einmal der vielschichtige dmytro oliinyk in einer hauptrolle. die tonlage jetzt allerdings völlig anders: nach der schrillen völkermord-komödie "koptec" nun ein intimes kammerspiel. "gestohlenes glück" von ivan franco ist ein klassiker der ukrainischen theaterliteratur, 1893 uraufgeführt und immer noch oft auf den bühnen, denn das thema ist zeitlos: eine dreierkiste. mychajlo kehrt unerwartet aus dem krieg zurück und drängt in die ehe, die seine grosse liebe anna unterdessen mit mykola eingegangen ist. drei sind einer zu viel - diese unglückselige konstellation setzt der junge regisseur ivan uryvskyi in einem leeren, abgedunkelten raum ausgesprochen körperbetont um, seine inszenierung ist eine faszinierende choreografie der ausweglosigkeit: zuwenden, abwenden, nähe, distanz, vernaschen, verachten, ein spiel von licht und zunehmend schatten, oft ersetzen blicke und gesten die worte. einmal verknoten sich alle sechs hände in einem spinnrad, gemeinsam gefangen - das ganze verhängnis wird so in einfache, starke bilder gefasst. immer wieder bewegt sich dmytro oliinyk als mykola (der rechtschaffene und doch überflüssige ehemann) wie ein schatten seiner selbst zwischen erinnerungen, träumen und hoffnung. es ist ein tanz der emotionen und dieser tanz ist nichts anderes als ein warten auf das unausweichliche, denn drei sind einer zu viel. für glück ist hier kein platz. - im publikum überraschend viele junge. das sei, sagt man uns, in der ukraine der erfreuliche normalfall.
Samstag, 4. Oktober 2025
MÜNCHEN: KOPTEC - MADE IN UKRAINE
humor als überlebensstrategie scheint ein nicht unwesentlicher bestandteil der geradezu übermenschlichen resilienz der ukrainerinnen und ukrainer zu sein. zu erleben ist das jetzt im rahmen des ukrainischen theaterfestivals in der pasinger fabrik in münchen. das zoloti-vorota-theater aus kyjiv steuert hier „koptec“ von lena lagushonkova bei – „völkermord als komödie“, wie die darsteller ohne umschweife klar machen. völkermord als komödie? der spanier hernán cortés und seine eroberungszüge im aztekenreich dienen hier als parabel, als folie, vor der die ukrainische truppe die geschichte ihres eigenen landes kritisch reflektiert: „die töpfe sind bereit, um uns zu chili zu verarbeiten.“ es ist ein spiel auf verschiedenen ebenen: die kolonialisierung wird zu schwülstig-pathetischer musik im stil eines sandalenfilms gezeigt, die azteken machen ihren unterdrückern höflichst geschenke, absurdes verhalten – und immer wieder steigen die darsteller aus ihrer rolle und machen sich sehr ironische, bittere gedanken über das verhältnis der ukraine zu russland und über das abschütteln kolonialer prägungen: „sie bringen uns nicht um, wir ersticken an unserer eigenen unterwürfigkeit.“ dmytro oliinyk, von staatspräsident selenskyj vor kurzem als bedeutender schauspieler geadelt, hält das alles zusammen, mit grossem gespür für tempo, moves, witz, kippeffekte und ernsthaftigkeit im entscheidenden moment ist er sowohl kopf der eroberer wie kopf des ensembles. der film, den sie parodieren – achtung, zuspitzung der fiktion – sei von den fördergremien abgelehnt worden, begründung: „völkermord als komödie geht gar nicht.“ doch sie beweisen, scharf an der grenze zwischen hochstehendem klamauk und tiefschürfender provokation, zwei stunden lang das gegenteil. das mehrheitlich ukrainische publikum hat viel zu lachen. lachen befreit. und am ausgang werden t-shirts verkauft mit der aufschrift „dekolonisator/-in“.
Freitag, 3. Oktober 2025
MÜNCHEN: WENN SCHAUSPIELER SINGEN
kaum eine schauspielinszenierung ist mehr zu erleben, wo nicht nach spätestens einer stunde die handlung stoppt, eine oder einer der mitwirkenden sich ein mikrofon packt und einen song von, sagen wir, gloria gaynor, tom waits oder zaho de zagazon in den raum stellt. schauspielerinnen (w/m/d) mutieren zu schausängerinnen (w/m/d). das ist mittlerweile so vorhersehbar und originell wie früher der einsatz von trockeneis oder das zertrümmern von monoblocks. erinnern sie sich? ob shakespeare oder kroetz oder schnitzler – es ging nicht, ohne dass jemand voller zorn so einen weissen plastikstuhl zertrümmerte, in den inszenierungen von frank castorf gleich dutzendweise. und jetzt also: an passenden und unpassenden stellen gesangseinlagen, die angesichts ihrer qualität oft eher peinlich berühren. als zuschauer wird man den verdacht nicht los, dass so ein solo einzig dazu dient, den restlichen mitwirkenden eine verschnaufpause von ihren textkaskaden und bewegungsorgien zu gönnen. eine singt, ob sie’s kann oder nicht, die anderen dürfen mal durchatmen. und jetzt die gute nachricht: an den schauspielschulen werden die künftigen bühnenstars für solche einlagen mittlerweile geschult, immerhin. aufs überzeugendste beweist dies jetzt der vierte jahrgang der renommierten otto-falckenberg-schule in münchen. unter dem titel „no direction home“ bieten die sechs frauen und fünf männer, die kurz vor dem abschluss stehen, einen exquisiten liederabend: mal nicht spielen, mal wirklich nur singen. und wie! am piano fabelhaft begleitet von ihrem musikdozenten heinz-peter lange liefern sie ein differenziertes setting von franz schubert bis nancy sinatra, prächtig-runde stimmen voller dynamik, optimal vorbereitet, sowohl deutsch wie englisch perfekt artikulierend, klagend, fordernd, mal fortissimo, mal ganz intim – und einfach: schön. das kommt gut.