Donnerstag, 23. Dezember 2021

FRANKFURT: NORMA

bevor norma in einer heiligen zeremonie die göttin bittet, die kampfeswut ihrer leute zu besänftigen, schreitet sie deren reihen ab. den einen blickt die anführerin tief in die augen, andere umarmt sie, einigen steckt sie einen mistelzweig zu, bevor sie dann das „casta diva“ anstimmt. ich brauche euch im widerstand gegen die besatzungsmacht, heisst das, und ihr braucht mich, wir schaffen das nur gemeinsam. dass norma mit dem chef der besatzer zwei kinder hat, weiss niemand, und dass ihre gefährtin adalgisa den selben mann liebt, weiss auch norma lange nicht. es ist dieser widerspruch zwischen öffentlicher funktion und privatem glück, der vincenzo bellini 1831 zu einem ebenso ekstatischen wie berührenden melodienrausch inspirierte, hinreissende musik. regisseur christof loy ist ein meister sorgfältigster personenführung und mit dieser „norma“ gelingt ihm an der oper frankfurt, unterstützt von erik nielsen am dirigentenpult, eine perfekte psychologische studie: karger raum, schlichte kostüme – was hier zählt, ist nicht opernpomp, sondern das zwischenmenschliche, das unterbewusste, das komplexe. jedes detail ist gearbeitet, jeder blick, jede geste lädt diese dreiecksbeziehung auf bis zur explosion. ambur braid als norma verfügt nicht nur über einen hochdramatischen sopran, sie ist auch eine phänomenale darstellerin: wenn sie sich gemeinsam mit adalgisa (bianca andrew, kongenial) an die glücklichen tage ihrer liebe erinnert, wenn sie aus rache am ex (stefano la colla, solider belcanto) ihre beiden kinder umbringen will, wenn sie zum finalen kampf aufruft, kommt zur musikalischen immer auch eine physische dimension, oft sind es fieberkrämpfe, die ihren körper durchzucken. diese frau ist nahe am wahnsinn gebaut. ist es das eingeständnis einer schuld, wenn norma sich schliesslich für den scheiterhaufen entscheidet, oder ist es tiefstes unglück? am ende steht ein fragezeichen, kein ausrufezeichen. besser kann oper nicht sein. anregend, packend, sensationell.

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