Samstag, 21. Juni 2025

LUZERN: DAS ENDE DES THEATERS?

falls die luzerner theaterdirektorin ina karr 2027 neue generalintendantin der deutschen oper am rhein wird (düsseldorf/duisburg) – und im moment sieht es ganz danach aus –, ist das eine mittlere katastrophe. nicht für die deutsche oper am rhein und nicht für ina karr, aber für luzern. der absprung könnte das ende des luzerner theaters besiegeln. tönt dramatisch, ist es auch. warum? erstens hat ina karr hier einen bis 2031 verlängerten vertrag, den sie also vier jahre vorher kübeln möchte – womit sie dann ab sofort gedanklich am rhein wäre statt an der reuss. zweitens ist die zukunft des luzerner theaters, sowohl als bau wie als institution, im moment dermassen offen, dass die überstürzte neubesetzung der direktion energien bindet, die jetzt prioritär für architektonische und inhaltliche diskussionen gebraucht werden. drittens dürfte es für die stimmung und motivation der mannschaft in diesen ungewissen zeiten nicht eben förderlich sein, wenn kapitänin karr jetzt als erste von bord geht – zumal attacken eines übermotivierten opernliebhabers gegen operndirektorin ursula benzing für zusätzliche unruhe im haus sorgen. viertens ist es schon unter normalen umständen schwierig bis unmöglich, im komplexen theaterbetrieb innerhalb von nur zwei jahren eine neue direktion zu berufen. fünftens wird sich in der aktuellen situation kein kompetenter theatermensch auf das abenteuer luzern einlassen, wo baulich und menschlich vieles bröckelt; im besten fall wäre die übernahme dieses jobs rufschädigend, im schlechteren ein selbstmordkommando. man muss sich die ganze dramatik vor augen führen – und nicht wegschauen: das theater brennt. zuerst der negative volksentscheid zum neubau, jetzt der drohende abgang der intendantin, deutlich mehr probleme als lösungen: das luzerner theater brennt.

Freitag, 20. Juni 2025

LUZERN: AUFRUHR UND SCHÜSSE IM KKL

diese musik wühlt auf. man hört schüsse, immer wieder schüsse. die sinfonie nr. 11 von dmitri schostakowitsch beschäftigt sich mit dem 22. januar 1905 (oder 9. januar nach dem damals in russland gültigen julianischen kalender), der als petersburger blutsonntag in die geschichte einging. mehr als 30´000 arbeiter demonstrierten in der stadt. die palastwache des zaren feuerte in die menschenmenge, es gab viele tote, das brutale massaker war der beginn der russischen revolution. schostakowitsch zeichnete in seiner sinfonie 1957 ein schonungsloses bild dieser ereignisse, in g-moll, dunkel und schwer, jetzt umwerfend dargeboten vom luzerner sinfonieorchester unter seinem chefdirigenten michael sanderling: es breitet sich eine unruhe aus, der man sich nicht entziehen kann. im ersten satz wird die zunehmende anspannung auf dem palastplatz fast physisch spürbar, im zweiten satz dann die schüsse der soldaten, das orchester scheint zu explodieren, das schlagwerk kommt nicht zur ruhe, endlos kommen einem diese schüsse vor, das grauen, die panik, das chaos, eine steigerung ins unerträgliche – danach tiefe trauer und am schluss ein sturmgeläut, ein freiheitslied, hoffnung auf politische veränderung. diese sinfonie ist geschichte, politik, mahnmal und kino in einem. ganz ähnlich konzipiert auch benjamin brittens violinkonzert in d-moll, das julia fischer im ersten teil des abends interpretierte, ein virtuoses spiel zwischen bedrohlichen, verzweifelten und zuversichtlichen sequenzen. britten, der komponist und pazifist, stand damals unter dem schock des spanischen bürgerkriegs und wohl in vorahnung des zweiten weltkriegs. mit diesem konzert, düster und heftig, lieferte das luzerner sinfonieorchester einmal mehr den beweis, dass es mittlerweile zu recht zu den absoluten top-orchestern gehört, auf internationalem niveau.

Mittwoch, 18. Juni 2025

ESPOO: 1. AUGUST

interessant, wie sich ein finnischer schriftsteller den 1. august in der schweiz vorstellt: „korpelas bus samt passagieren traf am morgen des ersten august in zürich ein. in der stadt wurde gerade das kartoffelerntefest gefeiert. aus den kartoffelproduzierenden kantonen war die landbevölkerung gekommen, um ihre ernte zu feiern. diese war dem vernehmen nach hervorragend ausgefallen. der sommer war sonnig und windstill gewesen, die kartoffelfäule war den äckern ferngeblieben, und deshalb waren alle so glücklich. so mancher hält die schweizer für recht einfache vertreter der alpenrasse, aber man kann sagen, was man will, von kartoffeln verstehen sie etwas.“ der bus aus finnland fuhr dann weiter nach luzern, wo die passagiere schweigend über die alten holzbrücken schritten – und: sie „blickten nachdenklich in den türkisfarbenen schäumenden wasserfall.“ atemberaubend, der luzerner wasserfall….. die beiden sequenzen sind dem roman „der wunderbare massenselbstmord“ von arto paasilinna entnommen. er lebte in espoo-westend bei helsinki und schrieb 36 romane. da staunt man als recht einfacher vertreter der alpenrasse nicht schlecht – und freut sich bereits aufs nächste kartoffelerntefest.

Montag, 16. Juni 2025

OBERRIEDEN: STRYX

eine junge heilerin und der dorfpfarrer werden mitten in einem kleinen bauerndorf an einen pfahl gefesselt, rücken an rücken, das stroh zu ihren füssen wird angezündet, die beiden verbrennen – unter den augen der dorfbevölkerung und eines widerlichen kardinals und seiner lakaien. wir sind im jahr 1583 im italienischsprachigen teil graubündens. diese szene ist der dramatische höhe- und der inhaltliche tiefpunkt des filmprojekts „stryx“, das jetzt bei „kultur im winkel“ in oberrieden seine deutschschweizer première erlebte. 40´000 bis 60´000 menschen wurden in westeuropa zwischen dem 15. und dem 18. jahrhundert als hexen und hexer verfolgt und umgebracht, allein in der schweiz geht man von 6000 aus. dieses dunkle kapitel wollten die beiden tessiner filmemacherinnen camila koller und thania micheli, die selber die hauptrollen spielen, mit „stryx“ aufgreifen. als basis für ihre fiktive geschichte, die als webserie konzipiert ist (6 teile à 8 bis 15 minuten, jetzt auch bei play rsi und auf youtube), dienten ihnen vor allem die protokolle der hexenprozesse im puschlav. mit starken bildern und ausschliesslich tessiner darstellerinnen und darstellern gelingt es ihnen, das grauen der inquisition fassbar zu machen, die das friedliche nebeneinander unterschiedlich denkender menschen in den dörfern für immer zerstörte: spitzel wurden eingeschleust, unschuldige menschen ausgehorcht und – die parallele zur gegenwart – vor allem frauen, die mehr wussten und mehr wollten als andere, wurden zur zielscheibe. „stryx“ wurde im alten dorfteil von moghegno im maggiatal und in der kirche von giornico in der leventina gedreht und gewann beim renommierten webfest von los angeles den hauptpreis und beim webfest von new york den preis für den besten soundtrack – beachtliche auszeichnungen für eine, wie die beiden initiantinnen sagen, "zero-budget"-produktion.

Donnerstag, 12. Juni 2025

MÜNCHEN: SAUHUND

nein, dieser junge hat’s nicht leicht: er steht auf männer, er steht auf frauenkleider, er kommt vom land, er sucht in der stadt die freiheit und die lust, er hat panische angst vor aids, er heisst flori. „sauhund“ war vor zwei jahren der debütroman des 29jährigen lion christ und wird jetzt in einer bühnenfassung an den münchner kammerspielen gezeigt – ein blick zurück in die jahre, als es jimi hendrix und freddie mercury in den münchner clubs krachen liessen, als anderseits die schwulen angesichts der hiv-pandemie von der offiziellen bayerischen politik übelst stigmatisiert wurden, eine höchst ambivalente zeit. mit schwarz-weiss-bildern aus den 70ern und 80ern, videos von demos und alpin inspirierten sounds fangen florian fischer und ludwig abraham die stimmung im bayernland präzis ein, ihre inszenierung wird zum doku-drama. gespielt wird ausschliesslich auf der vorbühne, grossaufnahme sozusagen, man bleibt nah dran, vor allem an elias krischke, als flori eine top-besetzung: strohblonde stoppelfrisur, leuchtende augen, ein zarter kerl, der seinen körper liebt, er schminkt sich, wirft sich in grelle klamotten, wirft sich in die queere szene, die ihn immer wieder überfordert. wir begleiten einen sensiblen jungen mann, dem zunehmend die koordinaten abhanden kommen: „ich vermisse niemanden mehr und niemand vermisst mich.“ war das wirklich das ziel? – edmund telgenkämper spielt wunderbar wandelbar all die männer, die flori trifft, gregor, kenny, miguel, jakob, alte, junge, mal schneller sex, mal grosse liebe. und annette paulmann gibt absolut hinreissend frauen aus drei generationen: floris ausgepumpte mutter, floris aufgekratzte jugendfreundin und die alte frau eichinger, mit der er sich als zivi im pflegeheim anfreundete. mit nur drei personen auf der bühne wird „sauhund“ zum grossen gesellschaftspanorama. doch ist diese inszenierung mehr als ein schmerzhaftes, auch voyeuristisches blättern im album? ja, eine aufforderung zu mehr toleranz, mehr empathie, aktiver solidarität, echter freundschaft