Sonntag, 20. April 2025

MÜNCHEN: THE LOBSTER

verloren steht david zwischen kahlen baumstämmen. starr blickt er auf das spitze messer. david will sich blenden, sich gleich die augen ausstechen. mit der härte einer griechischen tragödie endet, was wie eine absurde komödie begann. frauen (alle in rosa tütüs) und männer (in senfgelben anzügen mit kurzen hosen und sockenhaltern) paaren sich in einem seltsamen hotel. 45 tage haben sie zeit, um jemanden mit einem gemeinsamen merkmal zu finden, sonst werden sie in ein tier ihrer wahl verwandelt. wenn, dann ein hummer, entscheidet sich david: „die werden 100 jahre alt und ich mag das meer.“ paulina alpen spielt ihn am münchner volkstheater mit dem mut des verzweifelten, grossartig. „the lobster“ ist ein film von yorgos lanthimos, der die welt der dating-shows und dating-apps brutal seziert. am volkstheater macht regisseurin lucia bihler daraus ein grelles grusical. die hotellobby, die ihr jessica rockstroh auf die bühne gebaut hat, ist offenkundig von edward hoppers berühmten „nighthawks“ inspiriert. findet der entwurzelte mensch in dieser abweisenden welt gemeinsamkeiten mit einem anderen? gibt es jemanden, der auch immer nasenbluten hat oder schluckauf oder immer weinen muss oder zusammenzuckt vor schreck? das wäre dann – omg – die ideale partnerin, der ideale partner. „the lobster“ bildet nicht die realität ab, sondern die schatten dahinter, den wahnsinn in unseren köpfen. das junge ensemble presst mit grösstem vergnügen den letzten saft aus dieser absurdität, sie verbiegen und verrenken sich in diesem dating-stress. so sieht komprimierte beziehungsarbeit aus: einsamkeit geht nicht, zweisamkeit auch nicht. ein weisses pony, ein weisser hase, ein hund und ein kakadu (alle echt) dürfen die symbolhaftigkeit des ganzen noch weiter eskalieren. david ist kurzsichtig. endlich lernt er eine frau kennen, die es auch ist. doch sie verliert ihr augenlicht und damit ihr gemeinsames merkmal. was nun? mit dem spitzen messer dicht vor seinen augen steht david im wald. wird er es tun? blackout. ende. wir wissen es nicht.

Donnerstag, 17. April 2025

ZÜRICH: HALLYU! THE KOREAN WAVE

sie tragen pinke perücken oder blinkende brillen, shirts mit zebrastreifen oder zartblaue vestons, fummel da, glitter dort, sie nippen an neonfarbigen drinks und performen auf extravaganten plateausneakern „gangnam style“, alles perfekt choreografiert, ein hochprofessionelles musikvideo. sie sind nicht mehr die jüngsten, sie sind: die angestellten des museums rietberg in zürich. hallyu, das sujet ihrer neusten ausstellung, hat sie dermassen gepackt, dass sie mit diesem fidelen, ironischen video selber einen beitrag leisten wollten. kulturelle aneignung!!!? aber klar doch, exakt so funktioniert popkultur in zeiten der globalisierung. hallyu ist die koreanische welle, die die welt vor rund 25 jahren zu überschwemmen begann: k-pop, k-drama, k-cinema (hallyuwood), k-fashion, k-food. das alles folgt dem gleichen schema: erst ist´s ein hit in südkorea, dann wird´s ein hype weltweit. man denke etwa an die touristenmassen, die wegen der k-erfolgsserie „crash landing on you“ den brienzersee heimsuchen. die ausstellung mit mehr als 200 exponaten, die das rietberg vom victoria and albert museum übernahm, zeichnet anschaulich nach, wie gezielt südkorea die entertainmentbranche motivierte und unterstützte. der rest ergab sich, idole, influencer, fans, trends. welterfolge lassen sich nicht programmieren, aber konsequente förderung trägt eben früchte: „parasite“, der oscar-abräumer von 2020, ist noch so ein beispiel und der originalgetreue nachbau des chaotischen badezimmers im kellerloch der filmfamilie kim ein highlight der ausstellung. hallyu, das ist fülle, farbe, humor, lebensfreude – und der besuch im rietberg also richtig gut fürs gemüt. ach ja, noch zur erinnerung: nicht nur die schrillen feiern erfolge, sondern ab und zu auch die stillen, han kang zum beispiel, die letztjährige literaturnobelpreisträgerin.

Dienstag, 15. April 2025

ZÜRICH: HEIDI

heidi. aber anders. yara bou nassar, melina pyschny, chady abu-nijmeh und challenge gumbodete versichern im theater neumarkt zu beginn glaubhaft, wieso sie die absolut falsche besetzung wären für „heidi, the one and only“ und das herzige mädchen aus den bergen also auf gar keinen fall spielen können oder wollen. alle vier sind während den folgenden 80 minuten dann doch irgendwann mal heidi, mehr oder weniger. mit riesigen tannenzweigen fächeln sie alpenluft auf die bühne, wo die berge wenigstens auf ferdinand hodlers „thunersee mit stockhornkette“ vertreten sind – und dann wird der heidi-mythos zerlegt, nicht mit beil und mistgabel, sondern subtil und witzig und mehrsprachig. das arme mädchen, von johanna spyri 1880 in die welt gesetzt, musste ja vieles erdulden, im roman und danach, es diente alten und jungen als projektionsfläche, wurde instrumentalisiert für politische zwecke, für produkt-marketing, für tourismus. lena reissner, die für text und regie verantwortlich zeichnet, veranstaltet mit dem ensemble nun quasi aufräumarbeiten wie nach einem bergsturz, zwischen all den klischees und dem kitsch dringen die vier zum kern vor: der sehnsucht nach einer vergangenheit, die es so nie gab, der sehnsucht nach einer heilen welt. die inszenierung pendelt virtuos zwischen ethnologie und schräger show: die verzückung urbaner menschen für ziegenmilch und alpkäse wird hier zur erotisch aufgeladenen orgie gesteigert, „je t’aime… moi non plus…“ mit milchkesseli und auf bauernstabellen, da wird cottagecore auf die spitze getrieben. am ende ziehen sich die vier als kleine herde auf die grüne wiese im bühnenhintergrund zurück, fressen gras, und ihr wildes ziegengemecker und das blöken der schafe wird fürs publikum freundlicherweise untertitelt: „heimat ist ein albtraum.“ „heimat ist ein echo.“ „ist heidi wirklich tot?“

Montag, 14. April 2025

LUZERN: AS LONG AS THERE IS LIGHT

“und alles sinkt, vergilbt und fällt, und zieht und winkt und modert, gärt, gefriert und glänzt als see, silbern und dunkel, ich sehe nicht mehr…“ – man kann dieses poem von michael donhauser in acht sekunden lesen. man kann sich dafür aber auch 22 minuten zeit nehmen. wie die künstlerin judith albert in einer ihrer videoarbeiten. von einer schwarz glänzenden folienfläche löst sie mit zwei nähnadeln die für uns zunächst unsichtbaren buchstaben ab, das u, das n, das d, einen nach dem anderen, mit grösster sorgfalt und geduld. die schwarzen buchstaben klebt sie auf ihre handrücken, auf der schwarzen fläche vor ihr entsteht so allmählich und in blendendem weiss der text und auf den handrücken ein buchstaben-chaos, etwas neues also, alles ist möglich. noch nie ist man so behutsam in lyrik eingetaucht, noch nie hat man sich von einem text auf diese weise, buchstabe für buchstabe, überraschen lassen. „und alles sinkt“ ist ein 22minütiges spiel mit poesie, mit text und wirkung, ein lob der langsamkeit. das video von judith albert ist jetzt zu sehen im rahmen ihrer einzelausstellung „as long as there is light“ in der galleria edizioni periferia in luzern. eintauchen und versinken, das sind ihre grossen themen, immer wieder. eintauchen ins meer, in die dunkelheit, ins licht, in farben, in wälder und moose – und die stimmungen dann, auch wenn sie unscharf oder ambivalent sein mögen, aushalten, aufsaugen, wirken lassen. das ist die einladung ans publikum, die von diesen so unterschiedlichen und vielseitigen videos und lichtzeichnungen ausgeht: visuelle poesie nicht als flucht, sondern als beglückender rhythmuswechsel im alltagsgewusel - as long as there is light.

Donnerstag, 10. April 2025

BASEL: VON SCHWINDENDEN GLETSCHERN

fels statt eis. immer wieder stiegen der foto- und videokünstler vinzenz wyser und der sounddesigner simon meyer gemeinsam zum kanderfirn hoch. und immer häufiger realisierten sie: fels statt eis. der gletscher im hinteren gasterntal schmilzt und schmilzt und schmilzt. mit ihrer imposanten rauminstallation „atrophia – von schwindenden gletschern“ zeigen wyser/meyer derzeit in der galerie durchgang in basel, wie der klimawandel - unweit von uns und trotzdem oft unbemerkt - in erschreckendem tempo spuren hinterlässt, spuren und wunden. im erdgeschoss ziehen grossformatige bilder von felsformationen den blick auf sich, faszinierend durch ihre farbige ornamentik, verstörend durch ihre nacktheit. im untergeschoss dominiert ein wandfüllendes video, das stoisch die rückbildung des kanderfirns dokumentiert, daneben eine reihe von miniaturen, die schlicht „eis“ oder „fels“ heissen. und sie heissen immer häufiger „fels“ als „eis“. atrophie steht in der medizin für verkümmerndes gewebe, den begriff nehmen die beiden künstler auf, um das verkümmern ganzer landschaften zu thematisieren, das wegschmelzen der gletscher, das auftauen des permafrosts. die tonspur zur ausstellung verdeutlicht eindrücklich, wie das tropfen eines gletschers an einem heissen sommertag zu einem sturzbach anschwellen kann. bei aller inhaltlichen dramatik hat diese rauminstallation durchaus auch etwas poetisches - und lädt gerade dadurch zum innehalten ein, zum nach- und weiterdenken. man verlässt die galerie mit dem unangenehmen gedanken, dass es gletscher in absehbarer zeit nur noch als dekorative bilder über unseren sofas geben wird und als hübsche fototapeten. leute, die lage ist ernst.

Dienstag, 8. April 2025

LUZERN: NIJINSKYS VERMÄCHTNIS

heute vor 75 jahren starb vaslav nijinsky. auf diesen gedenktag hin ist jetzt mein essay „nijinsky. oh ja.“ entstanden. nijinsky revolutionierte den tanz, er pendelte zwischen den geschlechtern, er bewegte sich zwischen genie und wahnsinn, er war ein pionier der unschärfen. „ich bin mann und frau. ich mag die frau. ich mag den mann“, schrieb er 1919 in sein tagebuch. nijinsky war der erste genderfluide weltstar. mein text schlägt einen bogen zu den nijinskys von heute, zu kim de l´horizon, nemo, božo vrećo, conchita wurst. ihnen war er mit seinen ambivalenten figurenzuschreibungen und seinem leben im dazwischen bewusst oder unbewusst ein vorbild: „ein genderfluides leben als möglichkeit, phasenweise oder permanent – das ist nijinskys vermächtnis.“ ein spielerischer umgang mit unschärfen, so lautet seine botschaft und seine einladung an junge, suchende menschen im hier und jetzt – und das fazit meines essays: „mehr nijinsky wagen also! eintauchen ins mit- und nebeneinander der unterschiedlichen inneren anteile und identitäten! es ist dies nicht die lösung aller gesellschaftlichen und individuellen fragen rund um die sexuelle orientierung und der forderungen nach geschlechtlicher selbstbestimmung. doch es kann ein hilfreicher ansatz sein zur deeskalation und entspannung – für die betroffenen, für ihr umfeld, für die gesellschaft. (…) es lebe das spiel, das nach allen seiten offen bleibt. es lebe der tanz im zwischenraum. es lebe die unschärfe zwischen den geschlechtern.“ nijinskys queeres vermächtnis ist ein prima beispiel, wie kunst das richtige leben inspirieren, bereichern, weiterbringen kann.

Montag, 31. März 2025

BERN: GÖTTERDÄMMERUNG

dieser mann ist eine warnung: nackt und blutverschmiert steht der tänzer rafał matusiak in einer glasvitrine, brutal ausgestellt auf der sonst leeren bühne des berner theaters. so also kann enden, wer nach macht und geld giert. der junge mann hatte zuvor eine unter die haut gehende performance hingelegt, als doppelgänger exzessiv das ganz und gar durcheinander geratene innenleben von siegfried illustrierend, dem tragischen helden in richard wagners vierteiligem epos „der ring des nibelungen“. der eine singt und wird gemeuchelt, der andere tanzt dazu ums leben und endet auch im blut. wie schon in den ersten drei teilen arbeiten regisseurin ewelina marciniak und choreograf mikołaj karczewski auch in der abschliessenden „götterdämmerung“ mit diesen verdoppelungen; wagners fünfstündiges opernmonstrum wird so, vor allem in den epischen zwischenspielen, auch zum tanztheater, zeitgenössisch und energiegeladen. dieser ansatz funktioniert auch deshalb hervorragend, weil die inszenierung das mythische personal und den fluch des ringes aus dem rhein, von dem sich alle gold und glück und grösse versprechen, ins heute beamt: eine orientierungslose jugend in einer orientierungslosen welt, naive influencerinnen und üble strippenzieher, die mit bewusstseinserweiternden drogen arbeiten, wagner hätte seine freude – zumal das berner symphonieorchester unter nicholas carter mittlerweile zu einem satt-süffigen wagner-klang gefunden hat. das absolute zentrum der inszenierung ist claude eichenberger als brünnhilde: die mezzosopranistin gestaltet die kräftezehrende sopranpartie mit glühender, unerschöpflicher leidenschaft. diese brünnhilde ist eine moderne frau in lack und leder, selbstbewusst und doch verletzlich, die wie niemand sonst das übermass an intrigen durchschaut – und, konsequent und selbstbestimmt, den freitod wählt. marciniaks berner „ring“ ist nicht zuletzt durch die aufwertung vieler frauenfiguren ein grosser wurf geworden. man wird sich lang und gern daran erinnern.