Samstag, 16. August 2025

MÜNCHEN: TREES, TIME, ARCHITECTURE

wer in diesen hitzetagen mit dem rad von einer vierspurigen strasse mitten in einer grossstadt in eine von bäumen gesäumte seitenstrasse abbiegt oder zu fuss von einem bewaldeten seeufer in ein dahinterliegendes zuasphaltiertes und zugeparktes wohnquartier unterwegs ist, realisiert die wirkung von bäumen, wald, grün aufs klima ganz praktisch, ganz physisch: ein wohltuender temperaturunterschied von mehreren graden. sind bäume unsere rettung? die ausstellung „trees, time, architecture“ in der münchner pinakothek der moderne nimmt den kontrast zwischen der extremen langsamkeit, mit der bäume wachsen, und der hohen dringlichkeit, die grossen ökologischen und gesellschaftlichen probleme zu lösen, als ausgangspunkt. dutzende von beispielen aus unterschiedlichen epochen und diversen kulturellen und klimatischen zonen illustrieren die chancen und möglichkeiten, die das lebende baumaterial baum für architektur, landschaftsarchitektur und stadtplanung bietet: architektur auf baum (haus in baumkrone auf neuguinea), baum auf architektur (torre guinigi in lucca und bosco verticale in mailand), baum zwischen architektur (oerliker park in zürich), baum in architektur (daita2019 in tokio), baum als architektur (siej bridge in indien) – eine wundertüte voller ideen und eine wohltat fürs ökosystem. durch vielfältigen und kreativen einbezug von bäumen würden unsere umwelt gesünder und unsere direkte umgebung sinnlicher. diese ausstellung ist ein ausgesprochen inspirierendes plädoyer fürs umdenken, denn die menschheit braucht bäume. wir haben es in der hand. und wollen zu oft nicht sehen, dass wir es in der hand haben. ist leider so. ende der predigt.

Montag, 11. August 2025

LOCARNO: MEGALOPOLIS

wer will schon in zeiten von netflix-häppchen und tiktok-schnipseln einen zweieinhalbstündigen film eines 85jährigen mannes sehen? nun, wenn der mann francis ford coppola heisst („der pate“, „apocalypse now“), offensichtlich doch einige: der grosse saal im palacinema in locarno ist komplett ausgebucht, obwohl man ja reichlich gewarnt war vor „megalopolis“, diesem grössenwahnsinnigen projekt über grössenwahn und verwandte charakterzüge. coppola verquickt das alte rom mit den neuen usa („new rome“), filmt hart am rand des untergangs, zitiert immer wieder marc aurel – und eigentlich soll „megalopolis“ sein vermächtnis sein: der alte mann will von den dystopien der gegenwart wieder zu den utopien wechseln, will der jugend die idee einer besseren welt hinterlassen, seine hauptfigur (cesar catilina!!) will mit magisch-organischem material die stadt der zukunft bauen und das imperium retten, make the world great again. so weit, so nachvollziehbar. doch das moderne märchen entgleitet dem grossen regisseur: ein overkill an ideen, nebengeschichten, grauenvoll geschmacklosen interieurs (wie bei trumps zuhause), visuellen effekten, bizarren inhaltlichen sprüngen, ein zirkus des wahnsinns, amerika als albtraum. man ertrinkt als zuschauer in dieser spätrömischen dekadenz, voller korruption, voller affären, alles wirr, abstrus, chaotisch – und die bessere welt am ende ist, wen wundert´s, hochgradiger kitsch. man versteht, dass trotz der marke coppola kein studio diesen aberwitzigen film produzieren wollte. da bezahlte der alte mann die 120 millionen selber und verkaufte dafür einen teil seiner weinberge. was macht man nicht alles, wenn man eine mission hat. und doch, möglicherweise wird man diesen film in 20, in 50 jahren ganz anders anschauen, vielleicht hat er dann plötzlich kultstatus: unsinn als methode, das ultimative sittenbild der trump-ära.

Freitag, 8. August 2025

LOCARNO: SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN

autokennzeichen sgh - sangerhausen im südharz. ostdeutsche prärie, kohleabbau, afd. nicht auf anhieb die vorstellung, die man mit deutscher romantik verbindet. doch sangerhausen nennt sich auch rosenstadt, und dass der dichter novalis in dieser gegend lebte, nimmt julian radlmaier zum ausgangspunkt für seine komödie „sehnsucht in sangerhausen“, die jetzt beim filmfestival von locarno weltpremière hatte. ein abstecher in des frühromantikers leben führt – harter schnitt – zu zwei frauen von heute, ihren träumen, ihren sehnsüchten: ursula (clara schwinning) ist eine von der liebe enttäuschte und einigermassen orientierungslose kellnerin, neda (maral keshavarz) dreht als travel influencerin tipps für billigtrips („mit hartz im harz“). der film begleitet die beiden durch ihren freudlosen alltag, den radlmaier absolut brillant mit den grossen motiven der deutschen romantik verknüpft: der wald, der mond, das unheimliche. „sehnsucht in sangerhausen“ ist deutsche romantik reloaded, extragrosse portion. alte schlager erklingen, pralle kirschen locken, ein aufgebrezelter pudel schleicht durch die jahrhunderte, nudisten frönen der wanderlust, das kamel aus novalis‘ „der mann im brombeergestrüpp“ schaut auch mal an der kohlehalde vorbei, ein blauer stein nimmt einen wunderlichen weg durch die gedärme eines steinschluckers auf die wiesen und bahnhöfe der neuzeit. romantische rätsel, dass es eine freude ist: die vergangenheit winkt der gegenwart und würde ihr gerne was hinterlassen. alles klärt und fügt sich dann in der barbarossahöhle, doch wirklich glücklich werden die beiden frauen auf ihrer suche nicht, wirklich glücklich werden dafür die zuschauerin und der zuschauer durch all die verspielten wendungen und witzigen überraschungen, die dem tristen leben immer wieder luftig-leichte momente gönnen. international wird der film unter dem titel „phantoms of july“ anlaufen, eine abenteuerliche übersetzung für dieses famose abenteuer.  

 

Dienstag, 5. August 2025

LUZERN: UNSER NAME IST AUSLÄNDER

es beginnt wie eine kuriose performance: vier junge erwachsene schleppen einen grossen wohnzimmerteppich mitten auf einen schulhausplatz, rollen ihn aus und stellen das sofa von zuhause dazu. eine lümmelei? hêlîn, selin, firat und serhat sind geschwister, zwei schwestern und zwei brüder, kinder kurdischer eltern, aufgewachsen in lachen am oberen zürichsee. selin besili hat die anderen drei am ort ihrer kindheit zusammengetrommelt für ihren film „unser name ist ausländer“, der den innerschweizer filmpreis in der kategorie abschlussfilm gewann und jetzt – zusammen mit anderen verdienten winnern – im luzerner open-air-kino gezeigt wurde. mit ruhiger stimme erklärt selin einmal im off, wie sie sich die sprache ihrer eltern bewusst abgewöhnte, weil sie damit immer nur aneckte. andererseits wurde sie in der schule für den kleinsten deutsch-fehler ausgelacht. der tägliche kampf von kleinen secondas und secondos: die schweiz ist ihre heimat, doch diese heimat behandelt sie wie fremde, sie können sich nicht zuhause fühlen. die jungs werden aufgrund ihrer dunklen haare und augen immer wieder kontrolliert, verpassen wegen solchen polizeiinterventionen auch mal den letzten bus in der nacht. unser name ist ausländer: rassistische vorurteile und erfahrungen prägen den alltag. und unspektakuläre bilder aus diesem alltag prägen den film. das unspektakuläre ist hier das spektakuläre: die versteckte oder verdeckte ohnmacht. alle vier erzählen ihre geschichten langsam und nüchtern, ohne wut, ohne aggression, ohne rachegefühle. man merkt, allen widrigkeiten zum trotz haben sie nie aufgegeben, an ein anderes, ein besseres leben zu glauben – hier, in der schweiz, wo sie geboren wurden, wo sie hingehören. die vier tragen den teppich und das sofa dann auch mal an den see, lümmeln mit der ganzen verwandtschaft herum, musik, çai, scherze: hier sind wir! wir, an unserem see! man freut sich mit ihnen über ihr gewachsenes selbstbewusstsein.

Sonntag, 27. Juli 2025

SALZBURG: ZEUGNIS ABLEGEN UND LIEBEN

die ukraine nicht vergessen, heute nicht, morgen nicht, nie! über krieg und literatur, über das verhältnis von gewalt, leiden und sprache hat sich der ukrainische schriftsteller und musiker serhij zhadan, der freiwillig in der armee dient, gedanken gemacht – in seiner dankesrede anlässlich der verleihung des österreichischen staatspreises für europäische literatur in salzburg (abgedruckt in der aktuellen ausgabe der „wochentaz“). der krieg „ändert das gewicht des lebens, ändert das verständnis von zeit, ändert die grundlegende wahrnehmung der zukunft“.  der krieg habe der sprache – und damit auch der literatur – die leichtigkeit genommen: „wir sprechen heute die sprache von menschen, die unbedingt gehört werden wollen, die sich zu erklären versuchen. dahinter steckt kein übertriebener egozentrismus. wir schreien nicht, um die aufmerksamkeit auf uns zu lenken, (…) wir schreien für jene, die im moment nicht sprechen können, die ihrer stimme beraubt sind, die ihres herzschlags beraubt sind.“ allen grauenvollen erfahrungen zum trotz lässt sich zhadan nicht unterkriegen: „wir versuchen heute nicht nur, die überreste der wirklichkeit zu bewahren, die mit dem beginn des krieges zerbrochen ist. wir versuchen, sie, diese wirklichkeit wieder neu zusammenzusetzen, neu zu starten, neu zu erfinden, neu zu benennen.“ ein funke hoffnung, der sich an einem neuen umgang mit der sprache entzündet, an einem neuen auftrag der literatur: „zeugnis ablegen und lieben. manchmal reicht das aus, um dem bösen zu widerstehen.“ das ist kein kitsch, das ist ein kampf, ein kampf mit worten. es ist an uns, diesen kampf zu unterstützen und die ukraine nicht zu vergessen.

Dienstag, 22. Juli 2025

MÜNCHEN: MEPHISTO

chaos pur – die politischen widerwärtigkeiten der dreissiger jahre, das mitläufertum und die speichelleckereien, die ungebremste karrieregeilheit eines schauspielers plus nervöse blicke hinter die kulissen des theaterbetriebs: aus klaus manns roman „mephisto“ (1936) macht jette steckel an den münchner kammerspielen eine heftige, deftige chaos-collage. in hoher kadenz jagen sich die szenen, die den aufstieg von hendrik höfgen illustrieren, für den der schauspieler gustaf gründgens modell stand, der kulturelle repräsentant der nazis. die ganze spannung, die sein lavieren zwischen kunst und macht aufbaut, das chaos von gefühlen und bildern, das an die nieren geht, entlädt sich nach einer stunde, als sich elias krischke ans schlagzeug setzt für ein explosives solo, ein reinigendes gewitter, huch, endlich. doch weit gefehlt, nichts ist geklärt, alles eskaliert noch zwei stunden weiter, die politischen verhältnisse und die künstlerischen ambitionen, keiner in höfgens umfeld bleibt verschont: geht man mit? bremst man ihn? fulminant stürzt sich thomas schmauser in diese paraderolle, entwickelt – in seinem unverwechselbaren schmauser-stakkato und rosa adidas-höschen – diesen höfgen/gründgens vom schmierig-devoten („ich, begabt? ach, das ist ein ganz unbewiesenes gerücht“) bis zur totalen hybris („die hauptstadt kommt nicht ohne mich aus“), seine falschheit ist seine echtheit. die augenbrauen, die ihm für den grossen auftritt als mephisto geschminkt werden, deuten ein hakenkreuz an. man realisiert das erst auf den zweiten blick und erschrickt. noch vor 10, 15 jahren las man klaus manns roman als düsteres dokument vergangener zeiten, doch jetzt, wo dummes und unreflektiertes wieder massiv aufwind haben, wo die demokratie selbst in den usa und in deutschland gefährdet ist, macht er richtig schaudern.

Sonntag, 29. Juni 2025

WINTERTHUR: WIE BILDER VERFÜHREN

wo bleibt unser auge hängen? warum bleibt es da hängen? und wie lange? wodurch wird es wieder abgelenkt? die bilderflut, der wir in der digitalen welt ausgesetzt sind, hat ein verstörendes ausmass angenommen. bereits im ersten raum des fotomuseums winterthur werden wir, auf einem riesigen screen, mit bildern bombardiert: frauen, schmuck, promis, werbung, noch mehr frauen, alles wild, alles schnell, die wirkung schon fast hypnotisch. „the lure of the image“ heisst die ausstellung im attraktiv umgebauten und soeben wiedereröffneten museum. sie lässt uns über unser rezeptionsverhalten reflektieren, aufmerksamkeitsökonomie heisst das zauberwort: unsere aufmerksamkeit ist eine knappe ressource, also wird darum gebuhlt, wir werden geködert mit optischen reizen, bilder fesseln uns und oft täuschen sie uns ganz gezielt. viele der 14 ausstellenden künstlerinnen und künstler zeigen mit fotos, videos und installationen, wie im weiten feld zwischen selbstinszenierung und fremdbestimmung neue realitäten entstehen, das kann mal ganz unterhaltend und witzig sein (emojis mit neuer bedeutungsebene), es kann pervers sein (verniedlichung von gewaltvollen inhalten) und es wird für propagandazwecke immer wieder übelst missbraucht (gefaktes „beweismaterial“ für verschwörungstheorien). zoé aubry widmet sich in ihrem raum einem grauenvollen femizid in mexiko, wo bilder des verstümmelten opfers durch korrupte behörden in die sozialen medien gerieten. unter dem hashtag #ingridescamillavargas bildete sich dann eine initiative, deren ziel es war, diese illegalen bilder mit abertausenden fotos von sonnenuntergängen, lavendelfeldern, traumstränden aus dem netz zu schwemmen – auf dass künftige online-suchen nach ingrid nur noch mit schönen bildern verknüpft werden. widerstand im netz, auch das gibt´s erfreulicherweise. und es funktioniert.

Samstag, 28. Juni 2025

GISWIL: BODÄSTÄNDIX US KUBA

¡qué fiesta! das gastland kuba macht die 19. ausgabe des volkskulturfests obwald im wald bei giswil zur grandiosen party mit hoher glücksquote. obwohl, wir wissen es, „es gibt einfachere länder als kuba“, sagt moderatorin selma wick bei der begrüssung: stromausfälle, notstand bei lebensmitteln und benzin, tödliche folgen medizinischer unterversorgung, das land leidet enorm. doch eines lassen sich diese menschen nicht nehmen: ihre musik, ihre rhythmen, rumba und son, ihre ausgelassenen tänze und die gesänge, mit denen sie die götter immer wieder anrufen, auch wenn diese götter offensichtlich schlecht hören. musik ist für die kubaner lebenselixier und ablenkung. los cimarrones und die santiago all stars beweisen beim obwald drei stunden lang, welch befreiende kraft in dieser musik steckt, welche lebensfreude, welcher lebenswille, das bebt, das knallt, das bringt das blut zum kochen, das reisst mit. wie immer lebt das obwald auch von den kontrasten: rein optisch ist der jodlerklub luegisland aus entlebuch-ebnet der maximale gegensatz zu kuba, keine bewegung, kein augenzwinkern in dieser männerrunde – doch durchs band glasklare stimmen und naturjodel vom allerfeinsten. wie jedes jahr beobachtet man als zuschauer fasziniert, wie sich die gäste aus der ferne und die einheimischen musikerinnen und musiker dann zunehmend anfixen und hochschaukeln. plötzlich trommelt der elegante kubaner im anzug und mit hut nicht nur wild auf seinen bongos und congas, sondern auch auf vier milchkannen aus dem muotathal, und plötzlich realisiert man, wie sehr sich die erotisch-ekstatischen balztänze der jungs von bodäständix aus dem kanton schwyz und die balztänze aus havanna gleichen – und beim finale dann prompt zur weltumspannenden balzerei vermischen, zu der auch das publikum unter dem weiten zeltdach tobt. das ist obwald, so muss es sein. das herz geht auf.

Donnerstag, 26. Juni 2025

SACHSELN: МИР – ХУДОЖНЯ ВИСТАВКА

das haus der orgel- und kammermusik in dnipro in der ukraine ist ein bijou. es befindet sich in der ehemaligen orthodoxen st.nikolaikirche mit ihren verspielten kuppeln, säulen, goldenen zwiebeltürmchen. falsch: dieses haus war ein bijou, die russen haben es 2022 zerbombt. mit präzisen, hübschen kugelschreiber-zeichnungen hat daria lutsyshyna eine ganze reihe solcher ukrainischer kulturstätten festgehalten, die es unterdessen nicht mehr gibt. sie sind jetzt – zusammen mit den werken von 18 weiteren künstlerinnen und künstlern – im museum bruder klaus in sachseln zu sehen. über ihre zeichnungen lässt lutsyshyna per videoprojektion zivilflugzeuge fliegen, eine eindrückliche installation: erinnerungsarbeit und gleichzeitig hoffnung, denn die zivilflugzeuge sind ein symbol für frieden, da sie nur in einem sicheren luftraum fliegen dürfen. „frieden – мирхудожня виставка“ heisst die ausstellung, in der sich die ukrainischen künstlerinnen und künstler dem thema ganz unterschiedlich nähern. frieden? das wort löst ambivalente gefühle aus: einige haben es in früheren zeiten als von oben verordnete ruhe erlebt, stummschaltung abweichender meinungen; für andere ist es ein politisches konzept, das der utopie näher ist als der realität; wieder andere sehnen sich einfach nach stille, nach erholung von diesen unmenschlichen strapazen, nach spiritualität und innerer stärke. und immer wieder dringt die sorge durch, dass hier nicht nur sinnlos menschen sterben und quartiere zerstört werden, sondern dass irgendwann in der erschöpfung die nationale und reiche kulturelle identität der ukraine verloren geht. dieses ende wäre die tragischte form von frieden. der besuch dieser ergreifenden ausstellung ist ein zeichen der solidarität.

Samstag, 21. Juni 2025

LUZERN: DAS ENDE DES THEATERS?

falls die luzerner theaterdirektorin ina karr 2027 neue generalintendantin der deutschen oper am rhein wird (düsseldorf/duisburg) – und im moment sieht es ganz danach aus –, ist das eine mittlere katastrophe. nicht für die deutsche oper am rhein und nicht für ina karr, aber für luzern. der absprung könnte das ende des luzerner theaters besiegeln. tönt dramatisch, ist es auch. warum? erstens hat ina karr hier einen bis 2031 verlängerten vertrag, den sie also vier jahre vorher kübeln möchte – womit sie dann ab sofort gedanklich am rhein wäre statt an der reuss. zweitens ist die zukunft des luzerner theaters, sowohl als bau wie als institution, im moment dermassen offen, dass die überstürzte neubesetzung der direktion energien bindet, die jetzt prioritär für architektonische und inhaltliche diskussionen gebraucht werden. drittens dürfte es für die stimmung und motivation der mannschaft in diesen ungewissen zeiten nicht eben förderlich sein, wenn kapitänin karr jetzt als erste von bord geht – zumal attacken eines übermotivierten opernliebhabers gegen operndirektorin ursula benzing für zusätzliche unruhe im haus sorgen. viertens ist es schon unter normalen umständen schwierig bis unmöglich, im komplexen theaterbetrieb innerhalb von nur zwei jahren eine neue direktion zu berufen. fünftens wird sich in der aktuellen situation kein kompetenter theatermensch auf das abenteuer luzern einlassen, wo baulich und menschlich vieles bröckelt; im besten fall wäre die übernahme dieses jobs rufschädigend, im schlechteren ein selbstmordkommando. man muss sich die ganze dramatik vor augen führen – und nicht wegschauen: das theater brennt. zuerst der negative volksentscheid zum neubau, jetzt der drohende abgang der intendantin, deutlich mehr probleme als lösungen: das luzerner theater brennt.

Freitag, 20. Juni 2025

LUZERN: AUFRUHR UND SCHÜSSE IM KKL

diese musik wühlt auf. man hört schüsse, immer wieder schüsse. die sinfonie nr. 11 von dmitri schostakowitsch beschäftigt sich mit dem 22. januar 1905 (oder 9. januar nach dem damals in russland gültigen julianischen kalender), der als petersburger blutsonntag in die geschichte einging. mehr als 30´000 arbeiter demonstrierten in der stadt. die palastwache des zaren feuerte in die menschenmenge, es gab viele tote, das brutale massaker war der beginn der russischen revolution. schostakowitsch zeichnete in seiner sinfonie 1957 ein schonungsloses bild dieser ereignisse, in g-moll, dunkel und schwer, jetzt umwerfend dargeboten vom luzerner sinfonieorchester unter seinem chefdirigenten michael sanderling: es breitet sich eine unruhe aus, der man sich nicht entziehen kann. im ersten satz wird die zunehmende anspannung auf dem palastplatz fast physisch spürbar, im zweiten satz dann die schüsse der soldaten, das orchester scheint zu explodieren, das schlagwerk kommt nicht zur ruhe, endlos kommen einem diese schüsse vor, das grauen, die panik, das chaos, eine steigerung ins unerträgliche – danach tiefe trauer und am schluss ein sturmgeläut, ein freiheitslied, hoffnung auf politische veränderung. diese sinfonie ist geschichte, politik, mahnmal und kino in einem. ganz ähnlich konzipiert auch benjamin brittens violinkonzert in d-moll, das julia fischer im ersten teil des abends interpretierte, ein virtuoses spiel zwischen bedrohlichen, verzweifelten und zuversichtlichen sequenzen. britten, der komponist und pazifist, stand damals unter dem schock des spanischen bürgerkriegs und wohl in vorahnung des zweiten weltkriegs. mit diesem konzert, düster und heftig, lieferte das luzerner sinfonieorchester einmal mehr den beweis, dass es mittlerweile zu recht zu den absoluten top-orchestern gehört, auf internationalem niveau.

Mittwoch, 18. Juni 2025

ESPOO: 1. AUGUST

interessant, wie sich ein finnischer schriftsteller den 1. august in der schweiz vorstellt: „korpelas bus samt passagieren traf am morgen des ersten august in zürich ein. in der stadt wurde gerade das kartoffelerntefest gefeiert. aus den kartoffelproduzierenden kantonen war die landbevölkerung gekommen, um ihre ernte zu feiern. diese war dem vernehmen nach hervorragend ausgefallen. der sommer war sonnig und windstill gewesen, die kartoffelfäule war den äckern ferngeblieben, und deshalb waren alle so glücklich. so mancher hält die schweizer für recht einfache vertreter der alpenrasse, aber man kann sagen, was man will, von kartoffeln verstehen sie etwas.“ der bus aus finnland fuhr dann weiter nach luzern, wo die passagiere schweigend über die alten holzbrücken schritten – und: sie „blickten nachdenklich in den türkisfarbenen schäumenden wasserfall.“ atemberaubend, der luzerner wasserfall….. die beiden sequenzen sind dem roman „der wunderbare massenselbstmord“ von arto paasilinna entnommen. er lebte in espoo-westend bei helsinki und schrieb 36 romane. da staunt man als recht einfacher vertreter der alpenrasse nicht schlecht – und freut sich bereits aufs nächste kartoffelerntefest.

Montag, 16. Juni 2025

OBERRIEDEN: STRYX

eine junge heilerin und der dorfpfarrer werden mitten in einem kleinen bauerndorf an einen pfahl gefesselt, rücken an rücken, das stroh zu ihren füssen wird angezündet, die beiden verbrennen – unter den augen der dorfbevölkerung und eines widerlichen kardinals und seiner lakaien. wir sind im jahr 1583 im italienischsprachigen teil graubündens. diese szene ist der dramatische höhe- und der inhaltliche tiefpunkt des filmprojekts „stryx“, das jetzt bei „kultur im winkel“ in oberrieden seine deutschschweizer première erlebte. 40´000 bis 60´000 menschen wurden in westeuropa zwischen dem 15. und dem 18. jahrhundert als hexen und hexer verfolgt und umgebracht, allein in der schweiz geht man von 6000 aus. dieses dunkle kapitel wollten die beiden tessiner filmemacherinnen camila koller und thania micheli, die selber die hauptrollen spielen, mit „stryx“ aufgreifen. als basis für ihre fiktive geschichte, die als webserie konzipiert ist (6 teile à 8 bis 15 minuten, jetzt auch bei play rsi und auf youtube), dienten ihnen vor allem die protokolle der hexenprozesse im puschlav. mit starken bildern und ausschliesslich tessiner darstellerinnen und darstellern gelingt es ihnen, das grauen der inquisition fassbar zu machen, die das friedliche nebeneinander unterschiedlich denkender menschen in den dörfern für immer zerstörte: spitzel wurden eingeschleust, unschuldige menschen ausgehorcht und – die parallele zur gegenwart – vor allem frauen, die mehr wussten und mehr wollten als andere, wurden zur zielscheibe. „stryx“ wurde im alten dorfteil von moghegno im maggiatal und in der kirche von giornico in der leventina gedreht und gewann beim renommierten webfest von los angeles den hauptpreis und beim webfest von new york den preis für den besten soundtrack – beachtliche auszeichnungen für eine, wie die beiden initiantinnen sagen, "zero-budget"-produktion.