Mittwoch, 15. Januar 2025

LUZERN: WARUM ICH JA SAGE ZUM NEUEN THEATER

man kann über das projekt fürs neue luzerner theater streiten. zu wuchtig, zu hoch, zu teuer finden es die glühendsten gegnerinnen und gegner auf ihren flyern. auch bei mir, das ist bekannt, hält sich die begeisterung für diese seltsame fusion von alter und neuer architektur in grenzen. nur geht es bei der abstimmung über den projektierungskredit in dreieinhalb wochen nicht darum, ob das vorgeschlagene projekt hochbetagten ehemaligen denkmalpflegern und der safran-zunft und der juso und frau müller und mir gefällt. architektur ist geschmackssache, persönliche vorlieben und abneigungen müssen jetzt in den hintergrund treten. denn jetzt geht es darum, ob luzern in ein paar jahren überhaupt noch ein theater haben wird. das jetzige haus genügt baulichen, feuerpolizeilichen und künstlerischen standards nicht mehr – anders ausgedrückt: es ist kurz vor dem verfalldatum. es bleibt keine zeit, noch mehr wettbewerbe durchzuführen, noch mehr experten anzuhören, noch mehr begehrlichkeiten anzumelden. und vor allem: das projekt, das allen passt, gibt es nicht. heute nicht und auch in 15 jahren nicht.  

jetzt nein zu sagen zu einem neuen theater, wäre ein fehler von historischer tragweite.

ein theater ist kein ort zur bespassung einer kleinen exklusiven elite. ein theater ist auch nicht bloss ein wirtschaftsfaktor (400 arbeitsplätze, tourismus usw.), sondern es ist ein wesentlicher beitrag zum kulturellen leben und damit zum geistigen klima einer stadt. hier liegt die historische dimension dieser abstimmung. theater – auch wenn sie nicht immer bis auf den letzten platz besetzt sind - sind orte für gesellschaftlichen dialog. theater sind begegnungsorte für menschen mit verschiedenen lebensbedingungen und ansichten. theater greifen relevante und kontroverse themen auf und regen so zum nachdenken und diskutieren an, sie schaffen raum für innovative ideen. theater ermöglichen es, in andere lebensrealitäten einzutauchen, das fördert die empathie, eine wesentliche grundlage für demokratisches zusammenleben. theater inspirieren ihr publikum und das publikum inspiriert sein weiteres umfeld. das theater einer stadt strahlt also vielfältig auch auf jene aus, die es nicht besuchen. städte in der grösse luzerns, die kein professionelles theater haben, sind provinznester, oft beschaulich und meistens etwas langweilig.

ein nein am 9. februar wäre ein ja zur geistigen verarmung luzerns.

 

Dienstag, 14. Januar 2025

LENZBURG: HAUPTSACHE GESUND

33´000 codes umfasst die icd-11, die seit 2022 gültige „internationale statistische klassifikation der krankheiten und verwandter gesundheitsprobleme“ der who, 33´000 codes in 28 kapiteln. mehrere tausend dieser arten und abarten von lebensbedrohenden leiden bis zu kleineren physischen oder psychischen gebresten füllen derzeit die schwarzen wände im stapferhaus in lenzburg. fühle sich da noch eine oder einer gesund! „hauptsache gesund“ heisst die ausgesprochen attraktive neue ausstellung. sie beginnt mit der nicht eben einfachen frage, wie ehrlich man auf „wie geht es dir?“ antwortet – und wie bereit man für ehrliche antworten anderer ist. mit entwaffnender offenheit berichten menschen, die an angststörungen, long covid, als oder alkohol leiden, von ihrem alltag. im nächsten raum kann man sich auf screens operationen anschauen, die man niemandem wünscht. die explodierenden krankenkassenprämien werden hier nicht angeprangert, sondern durch jede einzelne geschichte verständlicher gemacht. besonders deutlich wird beim rundgang, wie stark die psychischen belastungen zugenommen haben; von den erwerbstätigen in der schweiz geben 21,5 prozent an, dass sie ziemlich erschöpft sind, 8,8 prozent sehr erschöpft. entsprechend viel raum wird deshalb dann den themen psychotherapie, diät, digital detox, fitness und wellness gewidmet und, eher beiläufig: „wenn es eine pille für ein unendliches leben gäbe, würdest du sie schlucken?“ das ganze erweist sich als überaus motivierender und nie moralisierender parcours. am schluss wird die eingangsfrage nicht mehr gestellt, man stellt sie sich jetzt selber: wie geht es mir? was tut mir gut? – und wie geht es dir?

Mittwoch, 1. Januar 2025

MÜNCHEN: DIE LUFT GEHT NICHT AUS

auftakt zum jahreswechsel diesmal in der isarphilharmonie, full house, 1900 festlich gestimmte menschen im anthrazitfarbenen saal, gegen 200 weitere auf dem konzertpodium, das programm bombastisch, wenn auch nicht besonders originell: beethovens neunte, sie wissen schon, freude trinken alle wesen an den brüsten der natur….. „feuertrunken“ holt der dirigierende wirbelwind nicholas collon mit den münchner philharmonikern und dem philharmonischen chor die „götterfunken“ ins haus und „alle menschen werden brüder“, wieder mal, schön wär´s. wir bleiben dran. dann jahreswechsel, teil zwei: ziehung der (traditionellerweise feministischen) tarotkarte. die priesterin der kelche weist mir 2025 den weg, deren botschaft laut beipackzettel besagt, dass das unbewusste „die person zu sich herabzieht“. die person, also ich, macht sich auf alles gefasst, denn sie wird aufgefordert, sich „dem ozean kollektiver erinnerung und erfahrung zu überlassen, den das unbewusste darstellt, und wo bald etwas neues empfangen werden wird.“ öfter mal was neues, vieles möglich, recht so. und dann – jahreswechsel, teil drei – bei allen offenen fragen und rätseln und tauchgängen ins unbewusste doch ganz handfeste zuversicht in einem gedicht des ukrainischen poeten und soldaten serhij zhadan: „die luft geht nicht aus. (…) die luft ist da. und sie trägt uns alle.“