Dienstag, 6. Juni 2023

LAUSANNE: NORMA

vollmond über dem genfersee. und ein vollmond, riesengross, zuvor auch auf der bühne der opéra de lausanne. vor diesem leuchtend weissen rund steht norma, die oberpriesterin der druiden, und singt „casta diva“, ihre grosse arie. die italienische sopranistin francesca dotto singt diese arie mit einer selten gehörten zartheit, die auf grossartige weise verdeutlicht, wie sehr diese frau beim gebet zu ihrer göttin immer auch an ihren heimlichen geliebten denkt, den feindlichen besatzer, der allerdings längst mit normas engster gefährtin rummacht. auch ihr blutrotes wallendes gewand vermag normas innere zerrissenheit nicht zu kaschieren. es sind ebenso einfache wie überwältigende bilder, mit denen stefano poda (der für regie, bühne, kostüme und choreographie in personalunion zeichnet) den tödlich endenden dreieckskonflikt illustriert. in einen kubischen weissen raum senkt sich ein riesiges wurzelwerk, wenn wir bei den galliern sind, und ein überdimensionales pantheon-modell bei den römern: ein labor der gefühle und gedanken, des unterschwelligen und unbewussten. poda macht aus dem nacht-stück ein licht-stück und entgeht dabei nicht immer der gefahr, sich in seine tollen bilder und prächtigen arrangements zu verlieben und die ästhetik höher zu gewichten als die psychologie. doch in sachen psychologie ist bellinis musik, die die dramatische kraft der rivalisierenden beziehungen schonungslos freilegt, eh nicht zu überbieten – ein soundtrack vom feinsten. wie transparent und differenziert das orchestre de chambre de lausanne unter diego fasolis diesen belcanto-reigen darbietet und die stimmen der anderen protagonisten (lucia cirillo als adalgisa, paolo fanale als pollione, nicolai elsberg als oroveso), das sind weitere höhepunkte dieses abends. diese norma endet nicht auf dem lodernden scheiterhaufen, sondern in einem gleissend-hellen, erlösenden jenseits – und mit standing ovations.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen