Montag, 15. November 2021

MÜNCHEN: DER SELBSTMÖRDER

er will sich umbringen. er liest „hamlet“, reclam-ausgabe. er will sich umbringen, nächste eskalationsstufe: er liest „werther“, reclam-ausgabe. sind ja auch so günstig, diese reclam-hefte. eigentlich müsste man den verlag wegen beihilfe zum jugendselbstmord… aber lassen wir das. semjon semjonowitsch podsekalnikow, der protagonist in nikolai erdmans bald hundertjähriger komödie „der selbstmörder“, ist ohne arbeit, ohne perspektive, ohne energie. lorenz hochhuth spielt ihn am münchner volkstheater als verwirrten, verspielten, liebenswürdigen kerl. mit seinem freitod will er endlich bedeutung erlangen, der welt eine lektion erteilen: „wenn man schon etwas hinterlassen soll, warum nicht ein schlechtes gewissen?“ die junge schweizer regisseurin claudia bossard zerrt den alten text ins heute und macht daraus eine rasante show, das schräge steigert sie ins absurde, das absurde ins groteske. semjons freundinnen und freunde erschrecken, als sie seine pläne ahnen. doch dann versprechen sie sich persönlichen gewinn von seinem tod und helfen ihm, die passende todesart zu finden (wie wär´s am wannsee, variante kleist?). schliesslich reagieren sie genervt, weil er nicht vorwärts macht. aber eben, ist halt komplex, so ein selbstmörder ohne energie, der schon mal kabelschlingen ausprobiert und mit einer pistole vor dem gesicht rumfuchtelt, aber sich partout nicht entscheiden kann, wie und ob oder vielleicht doch nicht. ein alter bmw vor einem ultrakitschigen landschaftsprospekt ist das epizentrum dieses aberwitzigen spiels, das – begleitet und gefördert durch coole songs und kammermusikalische intermezzi – zu todernsten gedanken führt: die kunst des beendens ist keine einfache kunst. wie schrieb schon der schweizer schriftsteller und selbstmörder hermann burger, der im programmheft abgedruckt ist: „es ist unbedingt unsere aufgabe, unserem abgang stilistisch gewachsen zu sein.“ semjon schafft das nicht ganz.

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