achtung: keine
stierkampfarena, keine tabakfabrik, keine pittoresken gassen! für die neue „carmen“
am luzerner theater genügt dem bühnenbildner rainer sellmaier ein einziger
schauplatz: das hässlichste hotelzimmer von sevilla, mit hellblauem
kunstledersofa auf rosa spannteppich und ausgestopftem stier über dem
flachbildschirm. alles klar, „carmen“ wird hier als telenovela gegeben, des
spaniers liebste abendunterhaltung. regisseur tobias kratzer widmet sich also weniger
den grossen gefühlen und vielmehr den niederen instinkten. die carmen von
carolyn dobbin ist eine blondine mit verrutschter schwarzer reizwäsche unter
dem weissen bademantel, der don josé von carlo jung-heyk cho ein notgeiler,
gewalttätiger deserteur. das ist einerseits ziemlich gewöhnungsbedürftig und
andererseits bei einer oper, die man schon dutzendfach gesehen hat, ein echter
hingucker, der neue konstellationen zwischen den figuren entdecken lässt und
neue fragen aufwirft, zum beispiel immer wieder die, wer hier eigentlich wen
provoziert. man bekommt also eine ziemlich oberflächliche geschichte serviert
und blickt plötzlich tiefer als in all den handelsüblichen
carmen-inszenierungen zuvor. der chor ist auf der vorbühne platziert als soap-publikum,
das den strudel der leidenschaften mitverfolgt, mitfiebert und mitleidet - und
ganz wesentlich zur musikalischen präsenz des abends beiträgt, der von howard arman dirigiert wird. schliesslich
wirft auch das finale die alten sehgewohnheiten über den haufen: nicht don josé
bringt carmen aus eifersucht um, sondern sie selbst erschiesst sich aus
verzweiflung und innerer zerrissenheit. durchaus plausibel; hätte man auch
schon früher drauf kommen können.
Montag, 24. Februar 2014
Sonntag, 23. Februar 2014
MAINZ: MEFISTOFELE UND DER PIZZABÄCKER
josé
gallisa ist brasilianer. ein brocken von einem mann und trotzdem höchst
beweglich, eleganter dunkler teint, asymmetrische wuschelmähne mit rasta-tendenz,
dazu eine wuchtige, abgrundtiefe bassstimme. dieser josé gallisa ist die
idealbesetzung für „mefistofele“, ein glücksfall. regisseur lorenzo
fioroni verlegt arrigo boitos selten gespielte oper am staatstheater mainz in
ein überfülltes jahrmarktzelt, er holt goethes grosses ideendrama auf den boden,
welttheater als budenzauber, absolut konsequent: mefistofele ist hier der clevere
taschenspieler, der die massen mit seinem charme verzaubert und sie dann mit
seiner diabolischen undurchsichtigkeit verängstigt, ein leichtes für den bass
aus brasilien. die musikalischen durststrecken, die boitos ausgefallene
partitur durchaus auch aufweist, überspielt regisseur fioroni geschickt mit dem
visuellen schwingbesen: er arrangiert farborgien und massenauftritte
(hervorragende chöre!!) und garniert das ganze mit projektionen aus baudelaires
„fleurs du mal“. gran spettacolo, so muss es sein. allerdings hat sich das
staatstheater mainz für diese letzte vorstellung einen üblen fauxpas geleistet
und für die rolle des faust wohl kurzfristig einen italienischen plärr-tenor
eingeflogen, dessen name wir zu seinem und unserem wohle bereits erfolgreich
verdrängt haben: er kennt ganz offenkundig weder goethe noch die inszenierung
und bewegt sich also nicht als suchender, nach erkenntnis strebender gelehrter
durch die szenerie, sondern als dümmlicher dicklicher pizzabäcker, typ tänzelndes
dorforiginal, womit das spiel um gut und böse völlig aus dem gleichgewicht
gerät. bestenfalls hat man mitleid mit diesem armseligen faust, die sympathien
aber, die sind für einmal ganz und gar bei mefistofele, dem schmierigen
seelen-dealer.
Sonntag, 16. Februar 2014
ZÜRICH: DIE PHYSIKER IN GIFTGELB
nur
schon dieses bühnenbild: der salon in der irrenanstalt von fräulein doktor
mathilde von zahnd ist hier eine grosse gummizelle, die polster an böden und wänden
könnten schweizer käse sein oder weisse schokolade, alles wird in giftgelbes licht
getaucht, manchmal auch giftgrünes, farbenpracht mit brechreizqualität, ein
optischer wahnsinn. herbert fritsch, für bühne und inszenierung zuständig,
treibt „die physiker“ von dürrenmatt am schauspielhaus zürich vom grotesken an
die grenze des sinnfrei absurden. die drei physiker, die eigentlich spione
sind, die sich als irre physiker ausgeben: monster. die drei buben von möbius: blockflötenspielende
monster, vor denen sich frankenstein fürchten würde. angetraute, krankenschwestern,
pfleger: alles monster. dürrenmatt hat sich das ja hübsch ausgedacht, wohin
irre physiker die welt führen könnten – und fritsch denkt es sich zu ende. die sätze
werden in worte zerlegt und die worte in buchstaben, dazu quält sich das
gesamte ensemble in konsequent spastischen bewegungen durch diese gummizelle; das
hat etwas tendenziell ermüdendes, man wird allerdings immer wieder belohnt
durch hochakrobatische highlights (jan bluthardt als psalmodierender missionar
rose und schwereloser oberpfleger sievers). alles ist dermassen überzeichnet und übersteuert, dass corinna
harfouch gegen ende ihre liebe mühe hat, als hochtoupiertes fräulein doktor von
zahnd die irrste der irren zu sein und die oberhoheit über den giftgelben wahnsinn
zu wahren. „ist das noch max frisch?“
fragt der hinzuerfundene feuerwehrmann einmal besorgt und verwirrt. der alte
dürrenmatt hätte wohl wohlig gegrunzt.
Samstag, 15. Februar 2014
SERNEUS: PRÄTTIGAUER PUUREZNACHT
das
erste mal haben wir dieses zünftige bauerngericht an einem klirrend kalten winterabend
in bad serneus gegessen. weil’s allen hervorragend geschmeckt hat, habe ich es
zuhause dann nachzukochen versucht, ohne rezept, und doch ist es dem original
bereits ziemlich nahe gekommen... - zutaten für vier personen: 6 grosse
kartoffeln, 500 gr spätzli, 300 gr speckwürfeli, 1 grosse zwiebel, 2 birnen,
400-500 gr bratkäse, öl, salz, pfeffer, muskat. - kartoffeln würfeln und im
salzwasser kochen, nach ca. 5 minuten spätzli beigeben, alles abtropfen und
beiseite stellen; speckwürfeli und zwiebel in ringen kurz in olivenöl
anschwitzen; dann die hälfte der kartoffel/spätzli-mischung in eine gratinform
geben, die hälfte der speckwürfeli/zwiebel und 1 birne in kleinen stückchen
beifügen, mit salz, pfeffer und muskat würzen und mit einer lage bratkäse
belegen, anschliessend das ganze mit der zweiten hälfte wiederholen und erneut
mit bratkäse belegen; in den auf 220 grad vorgeheizten ofen stellen, bis der
käse goldgelb brutzelt. weil alles so wunderbar duftet, besteht die gefahr,
dass die nachbarn klingeln.
Montag, 10. Februar 2014
WINTERTHUR: JOURNALISMUS 2014 FF.
„in
nur zehn jahren ist der boulevard-journalismus zum mainstream-journalismus
geworden“, stellt soziologie-professor kurt imhof fest und prophezeit: „in
zukunft dominiert in den medien visualisiertes human-interest-kurzfutter – anschwellende
einfalt.“ ein jung-redaktor von „blick am abend“ bemerkt: „es fehlen einfach
die fünf minuten, um mehr hintergrund zu bringen.“ die holländische
medien-dozentin hille van der kaa sagt: „die grenze zwischen journalismus und
aktivismus ist im digitalzeitalter noch stärker verschwommen.“ daniel
binswanger vom „magazin“ ist überzeugt: „die srg wird umso wichtiger, je
stärker die anderen medien personal und qualität abbauen.“ auch der
stellvertretende srf-direktor hansruedi schoch glaubt, dass qualität zunehmend
mehr zählt: „die grossen zeiten stehen bevor.“ – an der tagung der srg
deutschschweiz zur zukunft des journalismus in winterthur herrscht tiefe einigkeit,
dass der schrott auf der einen seite massiv zunehmen und die qualität auf der
anderen seite deshalb immer wichtiger wird. absolut nicht einig sind sich referentinnen
und diskussionsteilnehmer, ob auch modelle funktionieren, d.h. geschäftsfähig und
nachhaltig sind, die schrott und qualität unter einem dach/titel miteinander
kombinieren: katzenbilder neben edelfedern, politische recherchen neben
promi-quark. wir müssen huffpost, buzzfeed und watson im auge behalten.
Montag, 3. Februar 2014
MÜNCHEN: TRILOGIE DER ARBEITSLOSIGKEIT
"es braucht niemanden mehr. nicht mal einen klomann." tristesse totale. ilona hat ihren job als oberkellnerin verloren, ihr mann lauri seinen als tramfahrer. rosetta kann nicht arbeiten, weil ihre debile mutter ohne sie nicht leben kann. sue ist ebenfalls ohne arbeit und driftet ins abseits. unter dem titel "ilona. rosetta. sue." verknüpft sebastian nübling diese figuren und ihre geschichten, die auf drei filmen beruhen (kaurismäki, dardenne, kollek), an den münchner kammerspielen zu einer beunruhigenden trilogie der arbeitslosigkeit. acht werktische stehen diagonal in die tiefe des bühnenraums; sie dienen als fliessband, als bar, als notunterkunft, als schalter im arbeitsamt. diese diagonale ins dunkle ist hier die einzige perspektive. um sie herum entwickeln die schauspieler, die estnisch, französisch, deutsch, kongolesisch und englisch sprechen, dialoge ohne hoffnung und berührungen ohne wärme. es ist das ringen um die letzte würde, und es bleibt meist erfolglos. so entsteht eine in kaltes neonlicht getauchte symphonie des herausfallens aus den strukturen, die in ihrer konsequenz bis an die schmerzgrenze geht. ist, wer da zuguckt, ein sozial-voyeur? gegenfrage: ist es nicht aufgabe des theaters, solche realitäten zu vermitteln? nicht wenige verlassen die vorstellung vorzeitig; das dürfte der schlüssel zur antwort sein.
Sonntag, 2. Februar 2014
FES/PARIS: SURE 49,13
"o ihr menschen. wir machten euch zu völkern und stämmen, damit ihr einander kennenlernt." (koran, sure 49,13) der lieblingsvers des in paris lebenden marokkanischen schriftstellers tahar ben jelloun. in einer woche stimmt die schweiz über die sogenannte masseneinwanderungsinitiative ab.
Samstag, 1. Februar 2014
MÜNCHEN: FLEGELJAHRE, REVISITED
vor
der dorfschenke rechts auf der bühne singt der pfarrer mit dem landvolk
„grosser gott, wir loben dich“, derweil das bier in rauhen mengen durch die
kehlen fliesst. sympathischer einstieg, subito ins 18.jahrhundert. die
„flegeljahre“ von jean paul sind mir letztmals 1976 begegnet, maturalektüre,
560 alles in allem nicht zwingende seiten. die geschichte von den
zwillingsbrüdern vult, der sich mit 14 für eine blockflötenkarriere entscheidet
(was uns maturanden verständlicherweise masslos faszinierte), und walt, der
sich in neun berufen bewähren muss, bevor er das ihm zugedachte erbe antreten
kann, inszeniert robert gerloff im marstall des münchner residenztheaters als
heiteren komödienstadel: türen, die im falschen moment knallen, also im
richtigen, bierdosen, die im falschen moment losschäumen, also im richtigen,
matratzenberge, die im falschen moment einstürzen, also im richtigen. die zwei
jungs (franz pätzold und miguel abrantes ostrowski als kongeniales, driviges
duo) scheitern fröhlich durch leben und liebe – und die sekundärliteratur mit
all ihren kleinen und grösseren fragezeichen zu dieser parodie auf den
bildungsroman wird der einfachheit halber in witzigen extempores gleich
mitinszeniert. gewürzt mit viel live-musik, schnulzen von grieg bis simon and
garfunkel, schwingt sich der abend aufs höchstmögliche landtheater-niveau. das
macht den roman von jean paul nicht zwingender, aber doch deutlich
kurzweiliger.
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