Mittwoch, 25. Dezember 2024

ZÜRICH: PEIDEN

das täfer beige zugepinselt, eine eckbank, darüber der herrgott, auf dem tisch eine plastikdecke, ein buffet mit uraltem tv-apparat und – ein paar versteckte ginflaschen: das war die stube der mutter von bruno cathomas in peiden im lugnez. cathomas (59) ist der aktuell herausragendste schweizer schauspieler, er war in basel, dann in berlin, in köln und neu ist er am burgtheater in wien engagiert. die stube seiner mutter steht jetzt auf der bühne des zürcher schauspielhauses und cathomas erzählt darin – in einem 85-minuten-parforce-solo – zwei geschichten: die seines dorfes und die seiner flucht aus diesem dorf. peiden wurde innert kurzer zeit zwei mal ein raub der flammen und wenig später begann der hang und mit ihm das ganze dorf zu rutschen. diese geschichte berichtet cathomas wie ein sorgfältiger dorfchronist auf rätoromanisch. die problematische geologie, die spalten und risse und die damit verbundene unsicherheit werden zur metapher für cathomas´ jugend. wenn er da in der stube seiner mutter rumwuselt, erliegt man sofort seiner fabulierlust, jetzt schweizerdeutsch, seinem humor, seinen anekdoten – von seiner schlosserlehre, von seinem gastspiel in der fünften fussball-liga, vom veräppeln des dorfpolizisten. doch immer wird deutlich, wie das grobe dieser welt zu viel wurde für diesen kerl. cathomas ist ein brocken, aber ein sanfter, verletzlicher, beweglicher. der ruppige vater, die ausgestossene mutter, der verbreitete mangel an empathie, die enge der gedanken – das alles wurde ihm unerträglich, immer wieder atmet er schwer und schwitzt beim erinnern. er musste weg, er ging weg, wurde zum grossen theaterberserker, wild und sensibel, und vermisste lange nichts. kurz vor der première von „peiden“ kehrte bruno cathomas nach peiden zurück. das erste mal seit über 30 jahren. sein solo hat etwas versöhnliches.

Montag, 23. Dezember 2024

GENÈVE: COUP FATAL

vergnügt spielt der mann aus kinshasa hinten auf der bühne auf seinem balafon. vier weitere knien vor ihm und scheinen mit weit ausholenden armbewegungen den klang richtung saal zu schaufeln, die töne mit den händen gleichsam ins publikum zu werfen. ein faszinierender moment, weil er eine uns ungewohnte musik mit einem ungewöhnlichen, sehr stimmigen bild illustriert. „coup fatal“ führt elemente afrikanischer und europäischer kulturen zusammen, barockarien von monteverdi, händel und gluck verschmelzen mit kongolesischem rumba. das projekt – eine ebenso mutige wie gelungene mischung aus konzert, oper und tanztheater – entstand 2014 für die wiener festwochen, worauf eine zweijährige höchst erfolgreiche tournee folgte. und jetzt haben die musiker fabrizio cassol und rodriguez vangama und der choreograf alain platel „coup fatal“ im auftrag der comédie de genève wiederbelebt. mit unerschöpflicher vitalität spielen, tanzen und singen sich der countertenor coco díaz, elf kongolesische musiker und eine musikerin durch dieses interkontinentale crossover, mokieren sich auch mal über typische klischees der anderen kultur, sind pausenlos in bewegung, ein energetischer strudel sondergleichen. es dauert allerdings ein weilchen, bis der funke auf das traditionell reformiert-reservierte genfer publikum überspringt. doch die wilde bande auf der bühne schafft es, die kostüme werden immer bunter, die performance immer ausgelassener, bis zur finalen ekstase, wo der tenor das unvermeidliche „lascia ch´io pianga“ aus händels „rinaldo“ anstimmt und ein kongolese wieder und wieder „open your heart“ dazwischensingt, eindringlich zum publikum gewandt, „open your heart“. eine extra-portion afrikanisches selbstbewusstsein.

Dienstag, 17. Dezember 2024

ROTKREUZ: EIN BLICK HINTER DIE FASSADEN

hotel bauernhof! was man da aus dem zug von zürich nach luzern immer wieder erblickt, mutet an wie ein kleiner scherz: hotel bauernhof, inmitten all der betonkolosse in rotkreuz. das war einmal, rotkreuz als bauerndorf. im verlauf der letzten 14 jahre entstand entlang des gleisfelds – und dank gütiger mithilfe von novartis, amgen, hochschule luzern usw. – jener unansehnliche mix aus überdimensionierten stahl-, glas- und betonfassaden, wie er mittlerweile alle bahnhofeinfahrten von münchen bis basel und von neuchâtel bis köln prägt. die zürcher europaallee mag als vorbild gedient haben, es gibt leider auch schlechte vorbilder. diese total wuchtige, total monotone und total anonyme baumasse wirkt in den grossstädten durchs band hässlich und abweisend, in einer kleinen gemeinde wie rotkreuz wirkt sie auch noch lächerlich. doch jetzt kommt´s: in rotkreuz lohnt sich ein blick, respektive ein bummel in die zweite reihe. den tipp habe ich der architekturzeitschrift „karton“ zu verdanken, sie hat mir diesen stopover empfohlen und die augen geöffnet für das gleichzeitig konzipierte quartier hinter dem massiven gebäuderiegel beim bahnhof. das sogenannte suurstoffi-areal (der name kommt vom ehemaligen sauer- und wasserstoffwerk) besticht heute durch nicht zu hohe, sehr heterogen und sorgfältig gestaltete wohnblocks und eine eigentliche gartenlandschaft. zwischen gebüschen, viel schilf, hecken, spielplätzen, rasen-, wasser- und kiesflächen bewegt man sich auf grosszügig gewundenen wegen. auch wer nicht hier wohnt, fühlt sich hier wohl: viel luft, viel licht und alles verkehrsfrei. es lohnt sich – nicht nur in rotkreuz – immer wieder hinter die fassade zu blicken.

Mittwoch, 11. Dezember 2024

MÜNCHEN: JUGENDSTIL MADE IN MUNICH

zwei dunkelhaarige schönheiten in luftigen kleidern werfen mit einem weissen laken einen älteren herrn (typ professor unrat) in die luft, er versucht sich festzuklammern, doch keine chance, die energie der jungen damen hat´s in sich. was die „jugend“, die münchner illustrierte für kunst und leben, am 4. juni 1898 auf ihrer titelseite zeigte, kann man als symbol für die ganze epoche sehen: das alte wird mit schwung entsorgt. in der grossen ausstellung „jugendstil made in munich“ zeigen das stadtmuseum und die kunsthalle gemeinsam, wie münchens ruf als weltoffene metropole gegen ende des 19. jahrhunderts kunstschaffende aus ganz europa anzog. in diesem für innovationen offenen klima wollten sie sich nicht länger an den stilen der vergangenheit orientieren, sondern neues schaffen, das weit über die kunst hinausging: einen gerechteren und nachhaltigeren lebensstil. die gleichstellung der geschlechter war schon damals ein zentrales postulat, ebenso ein gesundes leben im einklang mit der natur. beispielsweise gab´s in münchen schon kurz nach 1900 das erste vegetarische restaurant, bezeichnenderweise mit dem namen „ethos“. der jugendstil, das präsentiert die ausstellung mit einer beeindruckenden fülle von exponaten, erfasste das gesamte spektrum des täglichen lebens: möbel, textilien, geschirr und andere gebrauchsgegenstände, grafik – überall schlugen sich die weichen formen der natur nieder, blumenornamente, girlanden, geschöpfe aus den tiefen des meeres. was zu kurz kommt in der schau: die architektur des jugendstils. auch dafür ist münchen ein mekka. reicht für mehrere streifzüge durch die stadt.

Montag, 9. Dezember 2024

LUZERN: SPIRIT OF LIFE

diese gesichter überall. man stelle sich in diesen november- und dezembertagen auf einen beliebigen bahnsteig oder setze sich in einen beliebigen bus – und was sieht man? überall regungslose, griesgrämige, zerknitterte, abgelöschte gesichter, tristester alltag. all diese depresso-visagen sind schwerer zu ertragen als das nasskalte, dauergraue wetter. als kontrastprogramm empfiehlt sich ein konzert des zentralschweizer gospelchors „feel the spirit“ unter der leitung von ueli reinhard, zum beispiel in der restlos ausverkauften kirche st. anton in luzern. da blickt man in über 80 aufgestellte gesichter (darunter, achtung transparenzhinweis, eine junge dame namens seline brander…..), man blickt in strahlende augen, vereinzelte verklärt leuchtende hat´s auch dabei. „spirit of life“ lautet das motto dieses jahr, geboten werden einerseits – pflichtprogramm für einen gospelchor – lebensfreude und lebenshilfe („i am not alone“, „hope has come“), andererseits beschwingte melodien aus filmen („the greatest showman“) und musicals („lion king“), mit „africa“ eine beinahe zur musikalischen orgie ausartende elefantennummer und ein sehr berührendes „baba yetu“, das vater unser auf suaheli. die top-solistinnen und -solisten sind alles „eigengewächse“ aus dem chor, ausgesprochen überzeugend, eine cellistin und ein saxofonist erweitern den sound der kleinen band um zusätzliche emotionale farben. alles in allem eine energiegeladene sache auf hohem niveau, viel feuer, viel spirit, pure leidenschaft – und als zugabe, besser kann man´s nicht zusammenfassen: „you made this night delight“. eineinhalb stunden mit diesem chor sind eine art akustische lichttherapie.

 

Freitag, 6. Dezember 2024

LUZERN: GNATTALI? GNATTALI!

ein düsterer donnerstagabend im dezember - was tun: samichlaus? weihnachtseinkäufe? winterwunderwelt? glühweinschwaden? nichts von alledem. nein, wieder einmal erliegen wir dem charme, der von kleinen und kleinsten kulturveranstaltungen quasi um die ecke ausgeht. gemeinsam luden die società dante alighieri luzern und das bücherparadies terranova zum konzert in die himmelrich-überbauung. im intimen rahmen des salon himmelblau liefern emma biglioli (cello) und jacopo figini (gitarre), ein ausgesprochen sympathisches junges paar aus la spezia, den beweis, dass man das motto des abends - „italia in musica“ - nicht zu eng sehen darf und soll. im ersten teil barockmusik, von italienern in italien komponiert, gabrielli, scarlatti, vivaldi. im zweiten teil die berühmte sonate a-moll für arpeggione von franz schubert, gewiss kein italiener, aber vom zu unrecht verrufenen antonio salieri als knabensopran entdeckt, dann nachhaltig gefördert und unterrichtet. italienisches temperament schliesslich auch im dritten teil mit der sonate für gitarre und cello von radamés gnattali. gnattali? ja, auch noch nie gehört, auch wieder so eine bildungslücke, die das junge paar jetzt aufs erfreulichste geschlossen hat. gnattali (1906-1988) war der sohn nach brasilien emigrierter italienischer musiker, ein secondo, der über 300 werke komponierte. seine sonate ist ein kleines feuerwerk, lateinamerikanische rhythmen und italienische emotionen durchdringen sich in rasantem tempo, eine echte entdeckung. und eine wahre freude, wie biglioli und figini sich quer durch die epochen und weltgegenden spielen und dabei grösste professionalität mit grösster hingabe verbinden. viva la musica.

Sonntag, 1. Dezember 2024

CHARKIW: GEDICHTE AUS DEM KRIEG

wer spräche in solchen zeiten
über angst,
wer schämte sich dieser tage nicht,
sich zu fürchten?
wir sind zu viele für die angst,
uns wurde viel zu viel
geschenkt,
als dass wir nicht wüssten,
dass von uns etwas
bleiben wird.
        aus "chronik des eigenen atems", dem neuen gedichtband von serhij zhadan (edition suhrkamp). der ukrainische schriftsteller und musiker erhielt 2022 den friedenspreis des deutschen buchhandels. im april 2024 trat er freiwillig der ukrainischen armee bei und hat dort einen radiosender mit aufgebaut. zhadan ist überzeugt, "dass die sprache stärker ist als die angst des schweigens".

Freitag, 29. November 2024

LUZERN: DER RICHTER UND SEIN HENKER

am luzerner theater spielt mozarts „idomeneo“ in einem ballsaal in versailles statt auf kreta, „die fledermaus“ von johann strauss auf der titanic statt in wiener villen, „der richter und sein henker“ von friedrich dürrenmatt mitten in einer potthässlichen plattenbausiedlung statt im berner jura: das theater überbietet sich derzeit mit der verlegung bekannter stoffe an nicht zwingende schauplätze. gelegentlich mögen solche dislozierungen durchaus hilfreich sein, um neue perspektiven auf ein stück zu eröffnen. sieht man den richter und seinen henker jetzt also anders, wenn sie zwischen diesen grauen hochhausfassaden rumturnen statt in der twannschlucht? nein. versteht man die lebenslängliche wette über das perfekte verbrechen, die die beiden als junger polizist und junger gangster abgeschlossen haben, besser, wenn sie von frauen gespielt werden? „diese irritation führt dazu, dass die mechanismen der macht und manipulation viel genauer betrachtet werden können“, steht dazu im programmheft. stimmt nur leider nicht. und warum zeigen sich in der inszenierung von ronny jakubaschk alle mit grün-schwarzen globihosen und finsteren joker-fratzen? vermutlich sollte diese ganz und gar groteske geschichte, mit der dürrenmatt die mauscheleien in politik, wirtschaft, justiz und polizei schonungslos und genussvoll ausbreitet, hier einfach ins noch groteskere gesteigert werden. mit dem resultat, dass sie jetzt wie ein musical ohne musik daherkommt, leicht und bekömmlich für gymi-klassen, und mit gelegentlich einem stich ins infantile. doch dürrenmatt ist stark und übersteht das – und wir auch. und als nächstes wird dann wohl verdis „luisa miller“ von den tiroler bergen in elon musks space x verlegt. oder so.    

Montag, 25. November 2024

FRANKFURT: SO BAUT MAN THEATER

theater sind spiegel der gesellschaftlichen zustände und inspiration zur optimierung derselben. höchst erfreulich also, dass immer wieder neue theater gebaut und alte saniert werden, in frankfurt, in mannheim, in luzern, wo altes und neues sogar kombiniert werden sollen. als luzerner besucht man die aktuelle ausstellung im deutschen architekturmuseum in frankfurt mit entsprechend grossem interesse: „ganz grosse oper – bühnenbauten im europäischen vergleich“. was auffällt: dort, wo die substanz erhalten und auf den neusten stand gebracht wird, laufen termine und kosten oft massiv aus dem ruder, es wird dann nicht teuer, sondern sauteuer. 2011 wurden für die sanierung von oper und schauspiel köln 253 millionen euro budgetiert, wiedereröffnung sollte 2015 sein. mittlerweile rechnet die stadt mit gegen einer milliarde – und ein eröffnungstermin steht noch nicht fest, weil immer noch viel zu viele am projekt rumfummeln. als gegenbeispiel und best practice wird der neubau des münchner volkstheaters aufgeführt, wo der auftrag zu einem festpreis an einen generalunternehmer ging: budget eingehalten, zeitplan eingehalten, die stadt, das theater und das publikum sind gleichermassen glücklich. bei den neubauten zeigt sich durchs band der einbezug der stadtbevölkerung als zentrales element, also auch des theaterfernen publikums: bei der oper in oslo ist das dach als öffentlicher stadtplatz gestaltet, beim schauspielhaus in kopenhagen gibt’s auf dem vorplatz bühnen und buden für open-air-veranstaltungen, das musiktheater linz ist mit direktem zugang zum volksgarten als „erweitertes wohnzimmer“ für die bevölkerung konzipiert. wenn das luzerner stadtparlament diese woche dem projektierungskredit fürs neue theater zustimmt, wird diesem aspekt anschliessend ganz besondere aufmerksamkeit zu widmen sein.

Sonntag, 24. November 2024

FRANKFURT: AIDA IM BUNKER DER DESPOTEN

wir sitzen im dunkeln, über tausend menschen im zuschauerraum der frankfurter oper, ohrenbetäubender lärm, dann schlagen bomben ein, überall kracht’s, immer noch alles dunkel, die wände zittern, minutenlang – es herrscht krieg, krasse erfahrung. und dann, nahtlos: der triumphmarsch, grande fiesta auf der bühne, bunte scheinwerfer, champagner, partyhütchen. doch diese sieger sind schwer angeschlagen, gehen an stöcken, sitzen im rollstuhl, die feierlaune wirkt aufgesetzt. ihre opfer quälen sie mit fiesen spielchen bis aufs blut, es ist eine von a bis z perverse party. regisseurin lydia steier (die mal kurzzeitig co-operndirektorin war in luzern) nimmt den krieg und die damit verbundenen menschlichen verwerfungen sehr ernst: ihre inszenierung von giuseppe verdis „aida“ schlägt aufs gemüt. genau das will sie in diesen zeiten. steier verlegt das drama vom heerführer, der die tochter des feindlichen herrschers liebt, vom nil in einen hässlichen despotenbunker, der mit weissen kacheln und jugendstilleuchten luxus vorgaukeln soll. radamès (stefano la colla, mit nicht schwindelfreier intonation und die spitzentöne zu oft forcierend) ist hier ein argloser poolboy, der wider willen in den krieg geschickt wird, aida mehr stubenmädchen als sklavin (christina nilsson, zarte person, zarte stimme) und ihre rivalin amneris ein marilyn-monroe-verschnitt (silvia beltrami, mit dramatischem mezzosopran) – sie sind ein ungleiches und gerade dadurch spannungsgeladenes trio. weil die première schon elf monate zurückliegt, weil krankheitsbedingt nebenrollen kurzfristig umbesetzt werden mussten und weil der junge dirigent giuseppe mentuccia nicht eben ein meister feiner zwischentöne zu sein scheint, wirkt jetzt vieles, was von der regie wohl subtil angedacht war, doch recht aufgedreht und plakativ. was bleibt, und da ist die inszenierung ganz bei verdi: im krieg gibt es nur verlierer. pace heisst das letzte wort in dieser oper, frieden, hier verzweifelt hingehaucht im verlies.