Sonntag, 15. September 2024

LUZERN: HERZWÄRTS MIT YLFETE FANAJ

„lassen sie sich berühren. lassen sie sich auch von den geschichten und dingen berühren, die sie nicht ändern können.“ ylfete fanaj tritt anlässlich des eidgenössischen dank-, buss- und bettages in der kirche st. johannes auf. „herzwärts“ lautet dieses jahr das motto. die luzerner sp-regierungsrätin predigt nicht, sondern lädt ein zu empathie und engagement: „lassen sie sich berühren.“

Freitag, 13. September 2024

ZÜRICH: FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA

die alte frau yamamoto (nikola weisse, lebensklug und rührend) möchte ihre wohnungstür immer einen spalt weit offen lassen, um sich nicht so allein zu fühlen. doch die menschen in ihrem treppenhaus reden und leben aneinander vorbei. einer dichtet haikus für eine heike, die´s gar nicht gibt. eine glaubt, die probleme wären gelöst, wenn alle eine waffe hätten. einer möchte die betagte nachbarin keinesfalls einladen, weil er befürchtet, dass er sie nicht mehr los wird. distanz allenthalben, vereinzelung, vereinsamung – ganz grosses thema. „ich eigne mich nicht für die wirklichkeit“, sagt einer. auch andere denken so. die uraufführung von „frau yamamoto ist noch da“ von dea loher findet in tokio und zürich gleichzeitig statt. auf der bühne des schauspielhauses schieben sich permanent rote, blaue und gelbe plexiglasscheiben zwischen diese menschen: sie sehen sich, sie hören sich und bleiben doch immer gefangen, isoliert in ihrer eigenen welt. in diesem transparenten labyrinth von florian lösche und zu suggestivem sound von mark badur und the notwist arrangiert regisseurin jette steckel mit einem top-ensemble eine oft tragische, gelegentlich komische und immer wieder ins absurde kippende choreografie der einsamkeit. es ist ein ausufernder reigen loser szenen, dem ein paar striche gut getan hätten. dicht und überzeugend ist dea lohers vorlage, wo sie sich an den individuellen neurosen ihrer figuren abarbeitet und sich kleine utopien ausmalt, doch verliert sie diesen fokus immer wieder und packt alle dramen dieser welt dazu, krieg und börsenkurse und fischsterben und robotik. frau yamamoto stirbt mitten im stück, durchaus zufrieden. sie hat spuren hinterlassen in ihrer umgebung, ihr umgang mit schicksalsschlägen war vorbildlich und auch inspirierend, das merken viele erst spät. ihre seele, die bleibt als summe aller erinnerungen an sie, sie lebt weiter, sie ist noch da. 

 

Dienstag, 10. September 2024

MÜNCHEN: DER TROST DER DINGE

wie entstehen romane? aufgrund einer beobachtung, eines traums, einer plauderei, einer mission, durch brain storming, in einem writers room oder mit hilfe künstlicher intelligenz. alles denkbar, alles möglich. im münchner lenbachhaus lässt sich jetzt nachvollziehen, wie die romane von orhan pamuk entstehen, der 2006 als erster türke mit dem literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. „der trost der dinge“ heisst die ausstellung, sie zeigt die werkstatt eines schriftstellers. es sind also vor allem dinge für pamuk die auslöser: gegenstände führen ihn zu gedanken, gedanken festigen sich zu geschichten. in einer der vielen dutzend vitrinen stehen sich zwei porzellanhunde gegenüber, ein chinesischer aus der dresdener porzellansammlung und ein westlicher. darüber hat sich pamuk einen kleinen seiltänzer gebastelt, der „ständig zwischen den beiden welten hin- und herlaufen und mit einer stange namens romankunst das gleichgewicht halten muss“. so läuft das bei pamuk, geistreich, humorvoll, immer auch zuversichtlich. das düstere bild „das grosse maul“ von alfred kubin beispielsweise, auf dem menschen scharenweise in die hölle marschieren, kehrt pamuk in einem diorama kurzerhand um: dutzende kommen uns, in form winziger fotografien, aus dem maul entgegen, es sind „die menschen, die mich mein leben lang am meisten durch ihre intelligenz und kreativität beeindruckt haben“. auf schritt und tritt wird man daran erinnert, dass pamuk ursprünglich maler werden wollte: skizzenbücher, tagebücher, er zeichnet in kneipen, tusche, aquarelle, er blickt stundenlang aus fenstern, fotografien, kleiner krimskrams. alles ist jetzt da, es ist das museum eines scharfsinnigen mannes. man trifft auf einen faszinierenden fundus, nein, eine flut von gedanken, gegenständen, geschichten – als würde man durch einen dicken roman wandern.

 

Sonntag, 8. September 2024

MÜNCHEN: ABSCHIED VOM LEBEN, D-MOLL TOTAL

lahav shani ist 35. in zwei jahren übernimmt er die leitung der münchner philharmoniker und zum auftakt der konzertsaison steht er jetzt am pult seines künftigen orchesters: der junge mann aus tel aviv widmet sich dem alten mann aus linz, anton bruckner, dessen 200. geburtstag gerade üppig begangen wird. als er starb, war bruckner 72, gut doppelt so alt wie shani jetzt, und hinterliess seine neunte symphonie unvollendet, ein werk an der schwelle von der spätromantik zur moderne. es sei, sagte er, sein abschied vom leben und „dem lieben gott“ gewidmet. da hat er dem lieben gott schwere kost zugemutet. die neunte ist kein versöhnliches, friedliches adieu, sondern – und lahav shani kostet dies bis zur schmerzgrenze aus – ein monströses werk. zwar klingen immer wieder anmutige, fein ziselierte melodien an, doch dann kippen sie unvermittelt, in aufruhr, in krieg, in chaos. das ist d-moll total, ein zeugnis tiefster verzweiflung und existenzieller panik. ungebremst, mit voller wucht steuert der dirigent sein orchester hinein in diese hochdramatischen exzesse und eruptionen. diese junge, unbändige energie lädt die ausverkaufte isarphilharmonie auf bis zum bersten. eine endzeitvision zum auftakt, mutig. nach dem finalen ton verharrt das publikum zunächst in andacht schweigend – und dann: begeisterungsstürme. lahav shani scheint angekommen zu sein in seiner künftigen heimat. vor bruckner, im ersten teil des abends, beweist er, dass er nicht nur ein meisterhafter dirigent ist, sondern auch ein vorzüglicher pianist. nur, weshalb spielt er johann sebastian bachs cembalokonzert d-moll auf dem klavier? als ob es keine historische aufführungspraxis gäbe? das programmheft liefert keine erklärung. das bleibt also lahav shanis geheimnis. vielleicht sind es ja nicht zuletzt die kleinen geheimnisse, die das wirken grosser künstler prägen.

Donnerstag, 5. September 2024

LUZERN: BILDER DEINER GROSSEN LIEBE

seltsam, diese männer: zu knappe shorts, kurzarm-blouson, gummistiefel, alles in strahlendem weiss und nicht ganz alterskonform. einer trägt einen schafskopf, einer eine mit filzstiftfratze bemalte pappschachtel, einer hat eine regenhaube übergezogen, die er mit sprühflasche dauerbefeuchtet. oliver losehand, eher fortgeschrittenes semester, spielt sie alle: einen selbstmörder, einen ehemaligen bankräuber, einen taubstummen undundund. dieser weisse mann, das sind wir, die erwachsenen (m/w/seltener d), wie sie von einer jugendlichen wahrgenommen werden, manchmal ein bisschen und manchmal total weird. isa ist 14, aus einer psychiatrischen klinik ausgebüxt, unterwegs auf landstrassen und in wäldern, am tag und in der nacht, mit allen sinnen stolpert sie ins richtige leben. isa ist die protagonistin in wolfgang herrndorfs posthum veröffentlichtem romanfragment „bilder deiner grossen liebe“, das hannah nagel jetzt im ug des luzerner theaters inszeniert hat. und dies ausgesprochen subtil. ein klinikbett, ein schaukelpferd, eine waschmaschine, ein papagei und viel grünzeug stehen rum im tiefen raum, isas welt und isas traumwelt, dazu ein paar herrlich aufgeraute songs von zaho de sagazan und aleksandra sucur. traumwandlerisch bewegt sich amélie hug in genderfluiden schlabberklamotten durch die kurvenreiche geschichte (was ist verrückt? was ist normal?), immer wieder begegnet sie dem weissen mann – also uns! – und wundert sich, immer ist sie im zentrum, immer gönnt sie herrndorfs präziser, poetischer sprache viel platz und rhythmus, so erleben wir diese junge frau sympathisch und störrisch und schelmisch und stürmisch. am ende steht sie mit einer geklauten knarre in der hand an einem abgrund: „…..aber ich bin stärker.“ man muss sie einfach liebgewinnen, diese isa/amélie, weil sie uns so bezaubernd authentisch nahe bringt, wie verdammt anstrengend es ist, in dieser hochkomplexen welt erwachsen zu werden.

Samstag, 31. August 2024

LUZERN: GIACOMO VARDEU

lucerne festival im kkl, vegan food festival auf dem inseli, pride zentralschweiz am nationalquai, theaterfest auf dem theaterplatz, strassenmusikfestival all around the city – noch was vergessen? alle beklagen den over-tourism, aber man müsste auch mal über over-eventing reden, zu deutsch: die über-bespassung. einerseits. andererseits: was gibt es schöneres als eine kleine provinzstadt, wo hinter jeder ecke musik lauert? wo man zwischen einkauf in den gassen und apero am see den tollsten musikstars begegnet, aktuellen und künftigen? giacomo vardeu zum beispiel. im programm zum strassenmusik-event des lucerne festivals wird der 18jährige organetto-spieler aus orosei in sardinien quasi als sidekick des mandoloncello-„altmeisters“ mauro palmas angekündigt. von sidekick keine spur: wohl sechs jahrzehnte trennen die beiden zwar altersmässig, doch sie spielen wie kumpels seit ewig, kommunizieren noch zu den teuflischsten tempi liebevoll per mimik und ja, spielen absolut auf augenhöhe – eine generationenübergreifende freundschaft. grossartig, wie altmeister mauro es gelassen hinnimmt, dass jungstar giacomo das publikum voll auf seiner seite hat. mit seiner kleinen harmonika spielt der sich wie in trance, kostet die melancholischen melodien genau so aus wie die höllisch schnellen passagen, alles mit virtuosester fingerfertigkeit. und irgendwann beginnt der junge kerl auch noch zu singen, ganz hoch und ganz tief: den charakteristischen obertongesang der sarden hat er ebenso drauf wie das tiefe, vom blöken der schafe inspirierte gurgeln und grummeln. das ist volksmusik und jazzfestival montreux in einem. wer diesen giacomo vardeu gehört hat, versteht sofort, weshalb es mich immer wieder nach sardinien zieht.

Montag, 26. August 2024

LUZERN: IDOMENEO

kriege, naturkatastrophen und ein alter könig, der unter druck jüngeren weichen muss (der biden-moment!) – alles drin in mozarts „idomeneo“. temperamentvoll, präzis, geradezu elektrisierend dirigiert jonathan bloxham das luzerner sinfonieorchester durch die stürme auf dem meer zwischen troja und kreta und die stürme in den herzen der menschen, die mozarts musik so plastisch zeichnet. auf der bühne ein erstklassiges solistinnenensemble, allen voran tania lorenzo castro als kriegsgefangene prinzessin ilia, völlig aufgewühlt zwischen der sehnsucht nach ihrer heimat und ihrer zuneigung zum feindlichen herrscher, und eyrún unnarsdóttir als vor rache rasende, beilschwingende elektra. ein musikalisches feuerwerk. der kampf dieser menschen um gerechtigkeit hat regisseurin anika rutkofsky an den ballhausschwur zu beginn der französischen revolution erinnert, weshalb sie die alten griechen kurzerhand in einen ballsaal in versailles um 1789 beamt. diese szenische umsetzung ist ein, gelinde gesagt, ärgerlicher rückgriff in eine längst überholte opernästhetik: die kulissenschreiner und -maler durften wieder einmal ein pseudorealistisches sperrholz-bühnenbild wie anno dunnemals basteln, dazu gibt´s eine hoffnungslos überfrachtete kostümorgie, wohl aus dem geplünderten fundus, das volk sieht man in den zahlreichen chorszenen wahlweise händeringend oder debil torkelnd (wie „les misérables“, nur schlechter) und idomeneo trägt zur krone auch mal eine signalrote trump-krawatte und mal einen selenski-overall, huch, wie originell. mozarts utopie von einer besseren welt wird von der flut der ideen und bilder zugedröhnt, die zeiten geraten zunehmend durcheinander, die einen blicken im rokoko-kostüm nach vorn, die anderen blicken im nerd-t-shirt zurück – und wir blicken angesichts dieser nicht mehr ganz taufrischen ideen immer mal wieder auf die uhr. man kann nur hoffen, dass der operndirektion auf dem weg zu einem neuen luzerner theater keine weitere derartige entgleisung passiert wie diese peinlich altbackene inszenierung. innovation geht anders.

Freitag, 23. August 2024

ZÜRICH: GLORIA, THE RIGHT TO BE DESPERATE

haben wir nicht auch das recht, einfach verzweifelt zu sein? ziemlich provokativ kreist diese frage über der neuen (englischsprachigen) produktion, die das theater neumarkt im rahmen des zürcher theaterspektakels zeigt. soll, kann, muss alles wegtherapiert werden? „gloria, the right to be desperate“ beschäftigt sich mit dem therapiewahn der heutigen gesellschaft und mit unserer voyeuristischen lust, uns via reality-shows an den krisen und therapien anderer zu ergötzen. ziemlich ambitiös für eineinhalb stunden. die polnische regisseurin gosia wdowik nimmt die „gloria“-filme (1965) als ausgangspunkt: eine geschiedene frau, in der zwickmühle zwischen ihren äusseren bedürfnissen und ihren inneren standards, liess sich in drei therapiesitzungen filmen – und was bloss als anschauungsmaterial für psychologiestudenten gedacht war, geriet in die kinos (usa halt!!), was die verzweiflung der frau klar potenzierte. der erste teil von wdowiks inszenierung ist das reenactment einer dieser therapiesessionen, mit einer wunderbar differenzierten sofia elena borsani als gloria. im zweiten teil bewegen sich zwei sprechende steine über eine abstrakte, dunkle insel (vielleicht die zwei seelen in glorias brust), ein absurd-witziger annäherungsversuch inmitten von erdlöchern und pflanzen und auf einem sphärischen klangteppich: „ich höre deinen gedanken zu.“ im dritten teil beobachten wir izabella dudziak beim versuch, auch vor publikum authentisch und empathisch zu sein, ein höchst behutsames spiel zwischen verletzlichkeit und verlegenheit. alles in allem: viele inputs, irritationen, fragen, zeit zum nachdenken – und futter für reichlich gespräche. und letztlich ist der abend vor allem ein plädoyer, ob all der selbstbeschäftigung und selbstoptimierung die anderen nicht zu vernachlässigen, dem individuellen bewusstsein nicht das kollektive zu opfern.

Donnerstag, 22. August 2024

CHICAGO: DER LAUBBLÄSER

 den muss man sich merken:
"trump ist wie ein nachbar, der seinen laubbläser 24 stunden am tag laufen lässt."
volltreffer von barack obama, bei seiner rede für kamala harris beim parteitag der us-demokraten.

Mittwoch, 21. August 2024

MARTIGNY: SUR LES TRACES DE TINTIN

tim und struppi, da hängen die beiden also, neben all den cézannes und renoirs, für die die meisten nach martigny pilgern. tim und struppi in der renommierten fondation gianadda? das ist – auch wenn man hergé, dem schöpfer der beiden, und seiner nicht ganz sauberen einstellung zu anderen kulturen und systemen aus heutiger sicht kritisch begegnen muss – eine wirklich hübsche geschichte. léonard gianadda, der 1935 geborene gründer der fondation, war seit frühester kindheit ein absoluter tim-und-struppi-fan („tintinophile“ heisst das im französischen). in den fünfziger- und sechzigerjahren reiste er als fotoreporter um die welt, exotische länder, fremde kulturen, spannende menschen überall, doch tintin, seinen helden, verlor er nie ganz aus den augen. auf dem roten platz in moskau, auf der „queen elizabeth“, in der jordanischen wüste, auf dem markt in zagreb – immer wieder schoss gianadda mit seiner rolleiflex und seiner leica schwarz-weiss-bilder, die szenen aus den „aventures de tintin“ teilweise aufs haar glichen. oft sieht man ihn an der stelle seines kleinen reporter-vorbilds. „sur les traces de tintin“ (auf den spuren…..) heisst die sympathische kleine schau in martigny, die hergés zeichnungen und gianaddas bilder jetzt zusammenbringt, wohl vier dutzend, immer paarweise, ein optischer dialog. das ist ein riesiges vergnügen, für tim-und-struppi-freaks ebenso wie für freundinnen und freunde exquisiter fotoreportagen. interessant übrigens, dass sich léonard gianadda mit 88 nicht mehr erinnern konnte, ob er diese bilder auf seinen ausgedehnten reisen damals ganz gezielt schoss oder ob da das unterbewusstsein mitspielte. beides denkbar, daran erkennt man den wahren tintinophilen.