Mittwoch, 29. Oktober 2025

MÜNCHEN: MAKING THEATRE

was genau macht eigentlich eine dramaturgin? und was der inspizient? die ausstellung „making theatre“ im deutschen theatermuseum in münchen führt uns hinter die kulissen. auf drei etagen dokumentiert sie ebenso ausführlich wie attraktiv die entstehung der aktuellen inszenierung von „romeo und julia“ am residenztheater: wie sich das künstlerische team um regisseurin elsa-sophie jach erste gedanken zur konzeption macht und sich entscheidet, nicht die liebesgeschichte ins zentrum zu stellen, sondern den blutigen konflikt zwischen den familien, wie bühnenbildnerin marlene lockemann für diese gewaltspirale eine adäquate umsetzung in form einer drehbühne mit spiralförmigen treppen kreiert, wie komponist max kühn den sound der aggression dazuerfindet, dazu blicke in die werkstätten, in die schneiderei, in die maske und im letzten raum erlebt man auf grossen screens, wie es während der dreistündigen vorstellung auf der hinterbühne wuselt. ergänzt wird diese backstage-exkursion durch nachdenklich stimmende infos aus einer deutschlandweiten studie über „macht und struktur im theater“, über sexuelle übergriffe (die - im falle einer abweisung - rollen oder die verlängerung von engagements kosten können) und die prekäre lohnsituation (2018 sagten 51 prozent der befragten schauspielerinnen und schauspieler, dass sie von ihrem einkommen „nicht“, „kaum“ oder „gerade so“ leben können). unter dem strich aber ist diese ausstellung eine liebeserklärung ans theater – und an die teamarbeit. und ja, es lohnt sich, das ergebnis, diesen „romeo und julia“ im residenztheater dann auch von vorne anzuschauen, eine intelligente, jugendlich-fiebrige und erstklassig besetzte inszenierung. wer „making theatre“ gesehen hat, wird künftig im theater noch genauer hinschauen und -hören, wird auf ganz neue details achten und diese umfassendste und aufwändigste aller live-künste noch mehr zu schätzen wissen.

Montag, 27. Oktober 2025

MÜNCHEN: LAZARUS ODER DIE FEIER DER AUFERSTEHUNG

da liegt er, lazarus, aufgebahrt, mitten in der riesigen halle des kulturkraftwerks bergson, mit nacktem oberkörper. ist er tot? bewusstlos? auf der intensivstation? im jenseits? zwei frauen kümmern sich liebevoll um ihn, vielleicht op-schwestern, vielleicht engel. 1820 begann franz schubert die komposition seines wenig bekannten oratoriums „lazarus oder die feier der auferstehung“. lazarus ist mit sich im reinen, freut sich an dem, was war, und ist offen für das, was kommt. auferstehung muss nicht sein, auch schubert schaffte nur tod und begräbnis, das werk blieb ein fragment. studierende der bayerischen theaterakademie und die bergson artists machen daraus jetzt eine überwältigende performance aus musik, text, architektur und licht. und sie stellen lazarus, der mit seinem tod klar kommt, den kriminellen barabbas gegenüber, der auch nach seiner begnadigung absolut nicht klar kommt mit dem leben („ich bin, was ich bin: hass, brennender hass“). martina veh (inszenierung) und joachim tschiedel (musikalische leitung) verweben schuberts feinfühlige arien und chöre und das barabbas-monodrama „the blind“ von richard france zu einem gesamtkunstwerk, gesungen und gespielt wird überall in der halle des ehemaligen heizkraftwerks, auf treppen, ganz oben auf galerien, an der bar. schatten werden lebendig, die toten erheben sich. „im tod fangen wir an zu leben“, ruft einer durch den raum, andere fragen sich, wofür sie gekämpft haben, wieder andere, ob es sich gelohnt hat. ein ambitioniertes projekt, die akustik im bergson ist heikel, nicht alles ist verständlich und viele ideen werden überchoreografiert, doch dass sich hier so junge menschen über die musik so intensiv mit dem thema tod auseinandersetzen, macht den abend in zeiten von krieg und krisen zu einem nachhaltigen emotionalen erlebnis. ganz zart erklingt am ende aus der ferne das sanctus aus schuberts deutscher messe – wie ein lichtstrahl in der dunkelheit, ein funken hoffnung.

 

Mittwoch, 22. Oktober 2025

CHARKIW: AUF DAS ROSAROTE PONY WARTEN?

„wir gleiten allmählich in die dunkelheit ab. dem drachen des weltkrieges wächst bereits ein dritter kopf, aber die westliche welt schaut gleichwohl nur von der seitenlinie zu und wartet darauf, dass dieses geschwür irgendwie von selbst verschwindet, anstatt dass sie versucht, es abzuschneiden.“ der in charkiw im dritten stock eines hochhauses lebende schriftsteller sergej gerassimow (1964) blickt in einem sehr langen und sehr lesenswerten aufsatz in der „nzz“ in die zukunft. der titel „konturen eines ukrainischen sieges“ tönt zweckoptimistisch, der text bleibt düster: „es wird jahre dauern, bis die eu ihr rosarotes pony fertig trainiert hat, um gegen den russischen bären zu kämpfen, der hungrig und verzweifelt ist.“ natürlich baue das pony muskeln auf und erlerne neue tricks, „aber dennoch scheint es manchmal, dass nicht die ukraine der nato beitreten solle, sondern umgekehrt die nato der ukraine. denn die ukraine versteht viel besser zu kämpfen.“ auch sergej gerassimow zeichnet sich durch diese schier übermenschliche resilienz aus, die vielen ukrainerinnen und ukrainern auch nach dreieinhalb jahren immer noch eigen ist. wie lange noch? wie lange halten die das durch? „nach dem sieg wird auch die ukraine eines tages wiederaufgebaut und wiederhergestellt werden, aber es wird sich um eine andere ukraine handeln. wer ist daran schuld? gewiss auch jene, welche die ukraine seit dreieinhalb jahren als schutzschild zwischen sich und den russischen horden benutzen. nur als schild, nicht aber als schwert. es ist sehr schwer zu gewinnen, wenn man lediglich mit einem schild kämpft.“ man muss gerassimows sätze nicht kommentieren. doch man sollte sie immer wieder lesen.

Dienstag, 21. Oktober 2025

ZÜRICH: EIN NACKTES OHR

„ein nacktes ohr“ ist nicht der ganze titel, es folgt noch mehr: „ein nacktes ohr am hasenbein der liebe oder wie man wider willen klötze floht“. alles klar? zur abwechslung also mal kein stück, das sich an der düsteren welt und den irren, die sie dominieren, abarbeitet – sondern an uns: wir mit unseren neurosen, obsessionen, macken. die autorin rebekka kricheldorf packte sich georges feydeaus vielgespielte posse „der floh im ohr“ und beamte sie ins heute. seitensprünge, verwechslungen, verwirrungen, identitätskrisen sind ja erstens zeitlos und zweitens ein gefundenes fressen. am theater neumarkt liefert michael sauter als ouverture ein wildes schlagzeug-solo und für die nächsten zwei stunden (eineinhalb hätten auch gereicht…..) lässt es dann auch regisseur matthias huser krachen mit slapstick à discretion. schauplatz ist ein salon, bisschen marmor, abgewetzte sofas, hässliche lampenschirme, eine pop-version von michelangelos david thront über allem, nix passt zu nix, die perfekte neureiche geschmacklosigkeit. hier tummeln sich anouk barakat, lisa ursula tschanz, chady abu-nijmeh und martin butzke absolut virtuos in wechselnden rollen und permanentem gender-switch durchs chaos des lebens: die beste freundin ist dummerweise in denselben typen verknallt, da hilft auch viel wodka nicht, die leicht angejahrte und sexuell vielseitige maman will ihren verklemmten junior verkuppeln, man diskutiert im gleichen atemzug über toyboys und rousseau und gewinnmaximierung, es geht rums-bums-zack, ein wilder ritt durch die befindlichkeiten und eine pointen-attacke sondergleichen, louise verliebt sich hals über kopf und ohne ihn je getroffen zu haben in hannes schlumberger, „eine koryphäe der verhaltenspsychologie“. gutes stichwort! das zusammenspiel von reiz und reaktion wird hier perfektioniert und masslos überzeichnet, wir blicken in den spiegel - und das lachen wird bitter. das theater neumarkt war bis jetzt eher nicht als komödienstadel bekannt. aber oho.