Freitag, 22. September 2023

HAMBURG: GRAU IST AUCH EINE FARBE

„ich kann über die wirklichkeit nichts deutlicheres sagen als mein verhältnis zur wirklichkeit, und das hat dann was zu tun mit unschärfe, unsicherheit, flüchtigkeit, teilweisigkeit oder was immer.“ das zitat von gerhard richter (*1932 in dresden) findet sich im katalog zu „double vision“, der doppelausstellung mit vija celmins (*1938 in riga) in der hamburger kunsthalle. gerhard richter ist nicht nur „maler, bildhauer, fotograf“, wie immer aufgelistet wird, er ist vor allem auch der philosoph unter den malern, bildhauern, fotografen. wie er über die ungewissheiten und mehrdeutigkeiten des lebens denkt und mit ihnen arbeitet, wie er mit der „teilweisigkeit“ unserer wahrnehmung umgeht, ist exemplarisch und faszinierend. oft hat er unscharf gemalt, viel nebel, viel grau. „grau ist doch auch eine farbe – und manchmal ist sie mir die wichtigste.“ widmen wir uns in diesen zeiten der zunehmenden polarisierung in gesellschaft und politik wieder vermehrt den grautönen, sie sind vielfältiger als schwarz und weiss. und wichtiger.

Montag, 18. September 2023

LUZERN: STEPHAN EICHER ROCKT DAS KKL

gut gemacht, luzern! vor 25 jahren durfte man stolz sein auf das gelungene werk. und heute darf man das immer noch, denn das gelungene werk hat sich erstens bestens bewährt und ist zweitens ohne gröbere blessuren älter geworden: 25 jahre kultur- und kongresszentrum luzern. wäre so etwas wie das kkl heute noch möglich? wäre so etwas wie das kkl in einer anderen schweizer stadt möglich? diese fragen wurden und werden rund um das jubiläum immer wieder gestellt. und immer wieder gerne vor allem in zürich… ja, es wäre. entscheidend sind weder die zeitlichen noch die örtlichen umstände, entscheidend sind die leute, die hinter und vor so einem projekt stehen: franz kurzmeyer, thomas held und jean nouvel haben damals in der stadt luzern nicht einfach ein feuer der begeisterung entfacht, sondern über jahre unermüdliche überzeugungsarbeit geleistet – bis die idee kkl ein teil der luzerner identität wurde. das gegenbeispiel: der erste anlauf für eine universität luzern (projekt alpenquai) misslang 1978 vor allem, weil regierungsrat walter gut diese idee völlig hölzern und schulmeisterlich vermittelte. 25 jahre kkl wurden am wochenende im und ums haus mit über 20 acts gefeiert und alle waren da, die klassik- und die rockfans, die jungen und die alten, die absichtlichen und die zufälligen. das kkl gehört allen. und ja, ich geb’s zu: bei der 1a-geburtstagsparty, bei der stephan eicher zusammen mit heidi happy und vielen anderen gästen während drei stunden den konzertsaal rockte, hatte ich als luzerner – glücksgefühle. „combien de temps“, eichers carcassonne-hit passte prima, „et je bois et je bois et je suis saoul de toi“. happy birthday, kkl!

Samstag, 16. September 2023

LUZERN: ORLANDO

ein leicht lädierter, leerer bilderrahmen dominiert die bühne in der box des luzerner theaters. durch diesen rahmen steigen die vier mitwirkenden rein in die geschichte von „orlando“ und wieder raus, durch diesen rahmen blicken wir in die vergangenheit und auf diesen bildhübschen, etwas linkischen jungen mann, der mit 30 nach einem tiefschlaf als frau und in einer anderen epoche wieder erwacht. regisseurin corinna von rad packt sich die zentralen motive und zitate aus virginia woolfs phantastischem roman („in jedem menschen ereignet sich das schwanken zwischen den geschlechtern“) und zaubert daraus 100 minuten genderperformance vom allerfeinsten. der multi-musikus jürg kienberger – aus der marthaler-entourage – als conférencier, queere queen und dürrenmatt-parodie, die schauspielerin wiebke kayser, zuständig für den ernsten unterton, der schauspieler robert rožić, ein ungezähmter bewegungskünstler, und der tenor ziad nehme, der vom baritonschmelz bis in allerhöchste counterlagen absolut virtuos alles drauf hat - sie sind ein fabelhaftes quartett für dieses spiel mit identitäten und kostümen, klemmen sich in enge korsetts und paillettenkleidchen, verhandeln moralvorstellungen in victorianischen und liberaleren zeiten, werfen sich zwischendurch mal kurz in wahlweise frauen- oder männerspagat, begleitet von schepperndem piano und glasharfe swingen und singen sie sich durch die jahrhunderte, bohemian rhapsody und barockarien, russische volksweisen und ohrwürmer aus den fünfzigern. das funkt und das fegt. und es führt uns auf charmanteste weise zum kern, zum orlando in uns allen. wie schrieb virginia woolf 1928, der zeit weit voraus: „ich plädiere dafür, dass wir die schichten des ichs umarmen.“ dieser abend ist verspielt, amüsant, geistreich, ein riesenspass mit tiefgang. das publikum? pure begeisterung.

Dienstag, 29. August 2023

WIEN: BLICK AUF DIE UKRAINE

immer wieder unterdrückt. immer wieder niedergemacht. die ukraine ist schon lange ein gebeuteltes land. tanja maljartschuk hielt es nicht mehr aus, bereits vor zwölf jahren ging sie weg und lebt heute in wien. 2018 gewann sie den ingeborg-bachmann-preis. aus distanz blickt die ukrainische autorin auf ihr land, aus distanz leidet sie mit ihrer familie, ihren freundinnen, ihrem volk. und sie leidet aus distanz nicht weniger. der band „gleich geht die geschichte weiter, wir atmen nur aus“ (kiepenheuer&witsch) versammelt jetzt 21 ihrer prägnanten essays, die zwischen 2014 und 2022 erschienen. mit worten arbeitet sie sich ab an den traumata ihrer nation und findet immer wieder eine sprache für das unaussprechliche. nach der unabhängigkeit 1991 erschien ihr „die ukraine als eine einzige eklige wunde, voller gebrochener menschen, die ihre vergangenheit nicht kannten und an ihre zukunft nicht glaubten.“ ein neues vaterland? stolz? eine illusion! „die ukrainer wollten entweder keine ukrainer sein, oder sie schämten sich, ukrainer zu sein.“ auf die frage, welche fünf positiven eigenschaften die ukraine habe, würden millionen schweigen. jahrzehnte, jahrhunderte haben ihre spuren hinterlassen. maljartschuk sieht überall persönlichkeitsstörungen: in der modernen psychologie spreche man vom borderlinesyndrom; dieser begriff, normalerweise auf individuen bezogen, passe gut zu ihrem ganzen land - identitätkrisen, labilität, beziehungsstörungen. zwischendurch blitzt zwar hoffnung auf, in einem sprachkurs, beim kochen, bei demos. doch mehr als kurze blitze sind dies nicht. „für entwicklung braucht es ruhe. diese ruhe hat die ukraine nicht.“ man versteht die mentalität dieser verunsicherten und versehrten nation besser, wenn man dieses buch gelesen hat. „für mein tapferes land“ lautet die widmung auf der ersten seite.

Sonntag, 27. August 2023

LUZERN: ORESTIE

es war ein kraftakt für alle beteiligten. und es sieht super aus. eine alte mosterei aus dietwil wurde im bauch des luzerner theaters wieder aufgebaut, der offene riegelbau füllt bühne und saal, das publikum sitzt drumrum. die 150 jahre alten balken bilden den rahmen für die 2400 jahre alte geschichte von den schwer traumatisierten königskindern elektra und orest, die ihre mutter umbringen, um deren mord am vater zu rächen. wie in jedem schuppen zwischen reiden und riemenstalden hängen da rostige pfannen, ein kleiner traktor und staubige fahnen stehen rum, ein paar räucherschinken modern noch. dieses szenografische konzept von valentin köhler soll einen unmittelbaren zugang zum alten drama erzeugen und zudem lust machen auf die flexiblen möglichkeiten im angedachten theaterneubau. damit alle mal was zu sehen bekommen, wird zwischen den balken und über treppen enorm viel rumgestiegen und mit live-video an die nicht-sehenden übertragen. bisschen viel, das alles. bisschen zu viel. die beabsichtigte unmittelbarkeit und nähe wird durch das aufwändig installierte gebäude im gebäude eher behindert als gefördert. das mindert nicht die kraft der sprache; raoul schrott holt mit seiner nachdichtung euripides ins heute, mit dramatischer wucht wird die frage nach schuld und recht verhandelt. und es mindert nicht die leistung des ensembles, das die seelischen abgründe dieser blutrünstigen sippe präzis und differenziert offenlegt. die hauptrolle in dieser inszenierung von schauspielchefin katja langenbach spielt das unterbewusstsein, es flirtet um jede ecke, radikalisiert die einen und legt bei den anderen die nerven blank, albtraumhaft geistern hier auch die toten und die abwesenden durch inzest- und terrorphantasien. der familienfluch lastet gewaltig. ob man ihn je los wird? vom emotionalen chaos zum hollywoodmässigen happy-end (absolution durch die schöne helena) geht´s dann allerdings etwas gar zügig. ein spektakel also zur saisoneröffnung, mit einigen abstrichen, aber durchaus ein spektakel.

Mittwoch, 9. August 2023

LOCARNO: WANHA MARKKU

als kind hatte markus toivo immer angst vor seinem vater. nicht dass der ihn körperlich misshandelt hätte, nein, er hatte angst, weil der vater ihn, das kind, nie anschaute. markus toivo ist eines von sieben kindern. als 30jähriger hat er die beziehung zum vater jetzt filmisch verarbeitet. „wanha markku“ (der alte markus) läuft im rahmen der semaine de la critique am festival in locarno. der sohn – autor, regisseur und hauptdarsteller in personalunion – schweisst mit seinem vater ein tor für die einfahrt zum haus in der finnischen pampa und nutzt diese gelegenheit, um ihn in gespräche zu verwickeln, meistens beim handwerk, ab und zu auf zwei stühlen in auffälligem abstand. sie reden und sie schweigen, biographiearbeit, autotherapie: dieser film ist keine high-end-produktion, sondern die abbildung eines intuitiven prozesses, sehr intim, sehr berührend. der vater war in toivos kindheit vor allem abwesend: er kam von der arbeit als zahnarzt erschöpft nach hause und stürzte sich gleich in seine bastelbude, ohne mit der familie zu essen. dann war er acht jahre auf un-mission in den golanhöhen. und nach den wenigen heimatbesuchen war sich die familie einig, dass es ohne diesen vater besser lief. markus toivo war ein einsames kind, kein vater, keine freunde, er wollte nicht wachsen. und mit brutaler deutlichkeit zeigt der film, dass sich auch einsam fühlen kann, wer vier brüder und zwei schwestern hat. viel eis in dieser familie. der vater, im alter durchaus nicht unsympathisch, zitiert oft gedichte, einmal von einem jungen, der sich dem tod näher fühlt als dem leben. in diesem gedicht habe er sich wiedererkannt, sagt der alte markku - und der junge markus fühlt dasselbe. doch beide geben nicht auf: „das ziel ist lieben und geliebt werden. es braucht noch viel, bis wir am ziel sind. gibt es überhaupt ein ziel?“

Dienstag, 8. August 2023

HAMBURG: DAS KIND UND DIE FREUDE

"als kind wollte ich gerne ein kaffeebauer in brasilien werden, ich wollte es deswegen, weil alle um mich so gern kaffee tranken, ich wollte für etwas arbeiten, das freude brachte."
statt kaffeebauer in brasilien ist saša stanišić dann schriftsteller in hamburg-altona geworden. bringt anderen auch freude.

Samstag, 5. August 2023

LOCARNO: MANGA D´TERRA

rosinha schlägt sich durch. die junge frau ist von den kapverden, wo sie ihre beiden kinder zurückliess, nach lissabon gekommen, um geld zu verdienen und das dann in die heimat zu schicken. eine zukunft sucht sie, doch in den verwinkelten gassen von reboleira findet die zukunft nicht statt. sondern gewalt, prostitution, kriminalität, polizeirazzien, hier herrschen ödnis und perpektivenlosigkeit. in „manga d`terra“, dem einzigen film eines schweizers im diesjährigen wettbewerb von locarno, erzählt basil da cunha, der filmemacher aus morges, der seit bald 15 jahren in reboleira lebt, zwei geschichten: jene einer frau, die kämpft, und jene eines quartiers, das viele aufgegeben haben. da cunha hat auch laien spielen und improvisieren lassen, keifende frauen in einem coiffeursalon, zugedröhnte jungs, was der fiktiven geschichte von rosinha einen dokumentarischen hintergrund verleiht. immer wieder blitzt in dieser trostlosigkeit auch solidarität und wärme durch. wohl deshalb gibt rosinha trotz vielen tiefschlägen (sie verliert den job, sie gerät an peinliche machos) nie auf und verfolgt ihren traum, sängerin zu werden, beharrlich weiter. eliana rosa spielt die rosinha authentisch, sympathisch und mit immer neuen frisuren, ein äusserliches zeichen für ihre emotionalen wechselbäder. und sie ist eine grosse sängerin! ihre lieder gehören zu den berührendsten und privatesten momenten in diesem film; dass da cunha sie dabei in zunehmend intensivere, bedeutungsschwangere scheinwerferfarben taucht, ritzt allerdings im übermass die grenze zur sozialromantik. rosinha besingt die bösen geister in der fremden stadt, die liebe einer mutter und am ende, in einer schäbigen taverne, umgeben von all ihren reboleiros, die mango, die frucht ihrer kapverdischen heimat (daher der filmtitel). auch sie sei eine frucht dieser insel, auch sie wachse und gedeihe auch anderswo. die hoffnung ist stärker als die realität.

Mittwoch, 2. August 2023

HELLBÜHL: ECHO VOM EIERSTOCK

jodel am 1. august. was denn sonst? allerdings ganz anders als sonst. über die landesgrenzen hinaus bekannt (zdf, hamburger abendblatt, süddeutsche zeitung) wurde die formation wohl vor allem wegen ihrem namen: echo vom eierstock! das kann man besonders originell finden oder provokativ oder geschmacklos. nun wollen wir aber nicht streiten am 1. august, nein, wir wollen sie endlich mal live hören. also auf nach tannhüsern, 30 fussminuten ausserhalb von hellbühl, ein lieblich in der luzerner landschaft liegender hof, wo sich die bauernfamilie bühler ein ausgesprochen sympathisches, kleines festival gönnt. mit – unter anderen – den eierstöcken. sie jodeln, was das zeug hält, sie packen einen subito: 30 frauen unter der leitung von simone felber, nicht in tracht und haube, sondern in sehr urbanem outfit. sie lieben die traditionelle volksmusik, aber hinterfragen und demontieren die allzu idyllischen, alltagsfernen, frauenfeindlichen texte, respektive lassen sie sich von zeitgeistigen autorinnen und autoren wie martina clavadetscher, béla rothenbühler oder jana avanzini um- oder neu schreiben. ein feministischer jodelchor – das ist natürlich eine kampfansage. also singt diese frauenschar nicht mit leidensmiene gegen zu liebe müettis und zu viel morgenrot an, sondern frisch und frech und freudvoll. alte und neue melodien, melancholisches und witziges, politisches und poetisches: feminismus macht spass, es ist eine wahre freude! in den absolut perfekt dargebotenen jodelliedern geht´s jetzt plötzlich um kinderwünsche in konfusen zeiten, mehr frauen in der politik, lohngleichheit und frauenstreik. „holleri du dödel du“ – sie jodeln, bis die frauen am ziel sind, also vermutlich noch lange.