zwei stunden igor levit, das sind zwei stunden psychomotorik in höchster vollendung: die perfekte wechselwirkung von seele und körper wird hier sicht- und hörbar. bereits die klaviersonate as-dur op. 110 von beethoven, mit der er sein luzerner klavierfest im kkl einleitet, spielt levit unter vollem körpereinsatz, alles ist in bewegung, gefühle aus dem innersten durchwandern den ganzen körper, bevor sie zu musik werden, unschuldig, verzagt, schwermütig, hoffnungsfroh. bei den vier balladen op. 10 von brahms, das volle programm von zart bis hart, scheinen dann auch gleich noch sämtliche engel und dämonen, die dem komponisten vorschwebten, mit in die tasten zu greifen. schliesslich, als höhepunkt, liszts klavierbearbeitung von beethovens siebter sinfonie – und weil es liszts reiz und anspruch war, den ganzen reichtum an klangfarben, den ein orchester zu bieten hat, auch über dieses einzige instrument zu erschliessen, wird die interpretation für einen pianisten zur ultimativen herausforderung, einkehr und energie, reflexion und rausch gleichermassen. igor neigt den kopf über die tasten, igor wirft die hände in die luft, igor schwenkt das rechte bein unvermittelt richtung publikum, igor windet sich, igor schliesst die augen – das sind keine starallüren, der kerl ist zu sympathisch, das kann nur echt sein. und wenn man auch als zuhörer vorübergehend die augen schliesst, würde man wetten, dass da auf dem podium mindestens drei oder vier flügel gleichzeitig bearbeitet werden. den letzten satz, allegro con brio, spielt levit, als stünden ihm fünf dutzend finger zur verfügung, ein spektakulärer höllengalopp. vom himmel zur hölle und wieder zurück, direkt oder auf umwegen: zwei stunden igor levit, das ist eine einladung zur seelenwanderung, tiefster seelenwanderung unter kundiger leitung. das publikum dankt es ihm mit einer stormy ovation.
Freitag, 30. Mai 2025
Donnerstag, 29. Mai 2025
ZÜRICH: STAUBFRAU
drei frauen, eine sitzt auf der waschmaschine und blättert in der
zeitung, eine hockt vor dem qualmenden backofen am boden, eine steht – verträumt oder verloren? – zwischen nadelhölzern. alltag, banaler alltag. aus dem off
stimmen, immer hektischer, immer penetranter: es sind die ansprüche, anschuldigungen,
vorwürfe, verletzungen, die frauen von ihren männern zu hören
bekommen. im auftrag des zürcher schauspielhauses schrieb maria milisavljević das
stück „staubfrau“, 80 dichte minuten über häusliche gewalt, und anna stiepani
inszenierte die uraufführung in der intimen matchbox im schiffbau. lola
dockhorn, anita iselin soubeyrand und nancy mensah-offei spielen sich mit tempo
und gnadenloser präsenz durch diese collage aus szenen und einzelnen sätzen („heute
entscheide ich“, „die messer sind geschliffen“), spielen in schnellem wechsel ehefrauen,
geliebte, schreiende kinder, allwissende grossmütter, spielen auch mal den
drohenden mann. das ist nicht immer übersichtlich, erzielt aber durchaus den
gewünschten effekt: geschlechtsbezogene gewalt beginnt nicht physisch und
brutal, sondern bahnt sich subtil an, grenzüberschreitend, gemein, ein bisschen
sexismus da, ein bisschen rassismus dort, später dann kontrolle,
übergriffe, gewalt. die drei frauen sind sich ihrer perspektiven
bewusst, wollen aus- und aufbrechen, sehr stimmig werden ihre träume
inszeniert, endlich selbstbestimmtheit, endlich ruhe, ruhe im wald, ruhe am fluss.
und dann liegt die eine doch plötzlich tot zwischen den bäumen, heimtückisch
ermordet. über die dunkle seitenwand flimmert die liste der femizide in der
schweiz, endlos und erschütternd, seit jahren kaum ein monat, in dem nicht eine
oder zwei frauen ihr leben lassen mussten durch männlichen wahnsinn. dieses stück
ist ein aufruf, das schweigen zu beenden.
Montag, 26. Mai 2025
LUZERN: DIE SCHÖPFUNG
haydn wird jetzt auch an einem der abgefucktesten u-bahnhöfe berlins gespielt, am moritzplatz, vollbeschallung: haydn für oder gegen heroinsüchtige, dvořák für oder gegen dealer und zwischendurch eine lüpfige strauss-polka. wem das was bringen soll, darüber sind sich die berliner verkehrsbetriebe und die drogenabhängigen noch nicht ganz einig. sicher ist nur: das hat haydn nicht verdient, da muss die schöpfung irgendwie entgleist sein unterwegs. ganz so, wie haydn sich „die schöpfung“ wünschte und musikalisch illustrierte, boten sie jetzt das stadtorchester luzern, der chor luzern und die cantori contenti aus zug im kkl dar – als feier der schönheit, der vielfalt und der wunder der natur. 140 laien finden hier zusammen und man ist tief beeindruckt, mit welcher leidenschaft und auf welch hohem niveau die 67 musikerinnen und musiker und die 73 chorsängerinnen und -sänger dieses anspruchsvolle werk meistern. dirigent manuel oswald versteht es ausgezeichnet, mit diesen 140 laien und den drei professionellen solisten ulla westvik, jakob pilgram und matthias helm einen kompakten klang zu entwickeln und die vielschichtige pracht der schöpfung zu entfalten, wuchtig, plastisch, sehr differenziert: „verwirrung weicht und ordnung keimt empor“, am anfang das chaos, dann licht und gegen ende liebe und harmonie bei allen lebewesen. ja, exakt so war die schöpfung ursprünglich wohl gedacht – und diese virtuose musik hilft gerade in turbulenten zeiten, sich vermehrt bewusst zu machen, dass wir nur eine welt haben. adam und eva und wir nachgeborenen wären „…..glücklich immerfort, wenn falscher wahn euch nicht verführt, noch mehr zu wünschen als ihr habt, und mehr zu wissen als ihr sollt!“ haydn muss da was geahnt haben.
Dienstag, 20. Mai 2025
LUZERN: MAHLER 5
man muss diese musik lieben, man muss diese musik immer wieder hören. wie ein geheimnisvoller spiegel unseres lebens erscheint mir, jedes mal, die sinfonie nr. 5 cis-moll von gustav mahler, auch jetzt wieder, mit dem budapest festival orchestra unter iván fischer im kkl luzern (im rahmen der migros-kulturprozent-classics). alle kennen den vierten satz, das schwärmerische adagietto, das luchino visconti als soundtrack für seinen „tod in venedig“ verwendete und damit die mahler-renaissance in den siebziger jahren so richtig ankurbelte. doch diese sinfonie hat eben nicht nur einen vierten satz. in den insgesamt 70 minuten steckt alles drin, aufruhr und andacht, glückseligkeit und grauen, triumph und trauer, zärtlichkeit und zorn: mahlers fünfte ist ein überwältigendes panorama menschlicher befindlichkeiten. das wird mit dem hochkarätigen orchester aus ungarn besonders deutlich, weil hier menschen aus allen lebensphasen zusammen musizieren, auffallend viele ältere, auffallend viele jüngere, alle mit grösster innigkeit, alle mit geradezu explosiver kraft, wo sich die melodien chaotisch aufbäumen. diese hochmotivierten und hochkonzentrierten menschen machen das konzert nicht nur zu einem musikalischen ereignis, sondern auch zu einem fürs auge. es ist ein gewaltiges seelengemälde, das iván fischer mit dem budapest festival orchestra ins kkl zaubert. je nachdem, wo man sich altersmässig und gefühlsmässig gerade befindet, hört man diese melodien immer anders, wird von anderen stellen tief berührt oder aufgewühlt. das programmheft beschreibt die fünfte treffend als maskenspiel: „ein musikalisches maskenspiel, bei dem die entscheidung, was sich hinter der maske verbirgt, offen bleibt.“ man muss diese musik immer wieder hören.
Montag, 19. Mai 2025
ASCONA: FÉLIX VALLOTTON
irgendwie seltsam! man betrachtet die überaus präzisen holzschnitte von
félix vallotton und denkt sich, dass der künstler mittendrin war, selber subjekt
der dargestellten szenen oder zumindest ein am rand beteiligter: eine messerstecherei
aus nächster nähe, eine detonation im schützengraben gleich nebenan (aus der
serie „c’est la guerre“), ein ehedrama (serie „intimités“) oder die pralle lust
des pariser nachtlebens (serie „paris intense“), alles scharf beobachtet, alles
treffsicher wiedergegeben und ab und zu auch mit einem schuss ironie. und dann
liest man, irgendwo an der wand, diesen deprimierenden satz, den vallotton im
august 1918, da war er 53, in sein tagebuch schrieb: „es scheint, als sei ich
mein leben lang derjenige gewesen, der durch eine glasscheibe hindurch dem
leben zuschaut und selbst gar nicht lebt.“ der beobachter, der immer nur
beobachter bleibt, der das richtige leben nur von den anderen kennt. irgendwie seltsam.
immerhin führt diese irritation dazu, dass man sich vallottons illustrationen danach
noch einmal und genauer anschaut – und dazu gibt´s dieses jahr reichlich
gelegenheit. denn 2025 ist „année vallotton“, sein tod jährt sich zum 100. mal.
das museo castello san materno in ascona zeigt neben den legendären
holzschnitten auch akte, stilleben und landschaften, einen reichen schatz eines
vielseitigen menschen und künstlers. weitere ausstellungen gibt´s dieses jahr in
lausanne, wo vallotton geboren wurde, in vevey und in winterthur. und wenn man
das kleine museo in ascona dann mit viel vallotton im kopf verlässt, klingt
noch ein anderer satz aus seinem tagebuch nach: „mich dünkt, ich male für
ausgeglichene menschen, in deren tiefstem inneren sich ein bisschen laster
verbirgt.“ man geht in sich.