Montag, 30. Dezember 2024

MÜNCHEN: ANDERSENS ERZÄHLUNGEN

woher kommt die kunst – musik, malerei, literatur –, die uns bewegt und berührt? die nachhaltigste wirkung entfalten häufig werke, die offen oder verschlüsselt autobiografisches aufarbeiten. hans christian andersens geschichte von der kleinen meerjungfrau beispielsweise, die den ertrinkenden prinzen rettet, deren liebe von ihm aber nicht erwidert wird, spiegelt in sublimierter märchenform das tragische schicksal des autors. andersen liebte edvard collin, seinen jugendfreund und sohn seiner ziehfamilie, abgöttisch und musste hinnehmen wie dieser ihm sozusagen wegverheiratet wurde. unter aufbietung der gesamten bühnenmaschinerie und sämtlicher theatertricks verschmilzt regisseur philipp stölzl am münchner residenztheater die biografie des autors und dessen märchen zu „andersens erzählungen“, einem tiefenpsychologischen wellenbad für erwachsene: der biedermeier-salon der collins füllt sich unvermittelt mit knallgelben zauberfischen, garstigen grossmüttern, fluoreszierenden kostümen, fliegenden kussmündern und tintenfischen mit riesententakeln, suggestives licht, suggestive musik, symbolismus meets disney-ästhetik. das meer flutet die spiessbürgerliche welt – ein fest fürs auge, der volle theaterzauber, der andersens ernste botschaften von andersartigkeit und aussenseitertum aufs prächtigste illustriert. moritz treuenfels spielt den dichter fulminant, ihm stehen sämtliche register zur verfügung für diesen verstossenen, melancholischen, schrulligen, zerknitterten, neurotischen, glücklosen mann, der verzweifelt durch den salon seiner ziehfamilie tigert und nur in seiner überbordenden phantasie wirklich aufleben kann. ein schrei, gegen schluss, bringt die ganze tragik dieses lebens auf den punkt, ein schrei an die adresse von edvard: „du bist meine offene wunde! du bist das, was mich schreiben lässt.“ andersen blieb bis zu seinem tod alleinstehend.

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