Samstag, 22. April 2023

NEUCHÂTEL: DIE SIXTINISCHE KAPELLE

ein einarmiger fisch, ein papst im kleinformat und mit gefährlich-grünlichem gesicht, ein wankender babylonischer turm, ein urinierendes skelett und überall fratzen, düstere fratzen. wo bitte sind wir da? auf der toilette von friedrich dürrenmatt, zweieinhalb quadratmeter gross, gibt 14 quadratmeter wand- und deckenfläche, die der hausherr minutiös vollgepinselt hat. der begnadete dichter war ja auch ein begnadeter maler und nirgendwo treffen sein literarisches und sein künstlerisches schaffen so unmittelbar zusammen wie an diesem stillen örtchen, das die dürrenmatts schalkhaft ihre „sixtinische kapelle“ nannten. michelangelos meisterwerk hatte dürrenmatt bei seiner romreise 1966 nachhaltig beeindruckt - und ihn wenig später zu seinem spontanen toiletten-fresko animiert. dutzende, vielleicht hunderte figuren und motive aus seinen texten tauchen hier auf engstem raum auf, ohne zusammenhang, farbenfroh und grauenvoll, witzig und bitterbös: „the happy pessimist“ wurde er in new york mal genannt. mario botta hat die toilette prominent in seinen umbau des centre dürrenmatt in neuchâtel integriert. aber toilette bleibt toilette, also eng. deshalb widmet das centre der sixtinischen kapelle jetzt eine sonderausstellung, die den vielen sujets und bezügen in einem anderen raum nun angemessen platz gibt. das kleine geschäft wird zum grossen welttheater und macht enorm lust, dürrenmatt wieder aus dem bücherregal zu holen, den grossen grantler und noch grösseren visionär. apropos visionen: im nächsten raum hängt zentral ein deprimierend-dunkles ölgemälde mit dem titel „letzte generalversammlung der eidgenössischen bankanstalt“. dürrenmatt malte es vor 57 jahren.   

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen