ein
einarmiger fisch, ein papst im kleinformat und mit gefährlich-grünlichem gesicht,
ein wankender babylonischer turm, ein urinierendes skelett und überall fratzen,
düstere fratzen. wo bitte sind wir da? auf der toilette von friedrich
dürrenmatt, zweieinhalb quadratmeter gross, gibt 14 quadratmeter wand- und
deckenfläche, die der hausherr minutiös vollgepinselt hat. der begnadete
dichter war ja auch ein begnadeter maler und nirgendwo treffen sein
literarisches und sein künstlerisches schaffen so unmittelbar zusammen wie an
diesem stillen örtchen, das die dürrenmatts schalkhaft ihre „sixtinische
kapelle“ nannten. michelangelos meisterwerk hatte dürrenmatt bei seiner romreise
1966 nachhaltig beeindruckt - und ihn wenig später zu seinem spontanen
toiletten-fresko animiert. dutzende, vielleicht hunderte figuren und motive aus
seinen texten tauchen hier auf engstem raum auf, ohne zusammenhang, farbenfroh und grauenvoll,
witzig und bitterbös: „the happy pessimist“ wurde er in new york mal genannt.
mario botta hat die toilette prominent in seinen umbau des centre dürrenmatt in
neuchâtel integriert. aber toilette bleibt toilette, also eng. deshalb widmet
das centre der sixtinischen kapelle jetzt eine sonderausstellung, die den
vielen sujets und bezügen in einem anderen raum nun angemessen platz gibt. das
kleine geschäft wird zum grossen welttheater und macht enorm lust, dürrenmatt wieder
aus dem bücherregal zu holen, den grossen grantler und noch grösseren visionär.
apropos visionen: im nächsten raum hängt zentral ein deprimierend-dunkles
ölgemälde mit dem titel „letzte generalversammlung der eidgenössischen
bankanstalt“. dürrenmatt malte es vor 57 jahren.
Samstag, 22. April 2023
NEUCHÂTEL: DIE SIXTINISCHE KAPELLE
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