ein rostiges schiffswrack steht auf der leeren bühne
der münchner kammerspiele. nur ein schiffswrack bleibt übrig. doch übrig wovon?
zurück auf feld eins: william shakespeare schrieb „der sturm“ über den
verbannten herzog prospero, der sich mit zaubermitteln an seinen missetätern
rächen will. schauplatz: eine insel. der filmemacher werner herzog schrieb den roman
„das dämmern der welt“ über den (realen) japanischen leutnant hiroo onoda, der
den zweiten weltkrieg um 29 jahre verlängerte, weil er dessen ende für fake
hielt. schauplatz: eine insel. jan-christoph gockel, hausregisseur an den
kammerspielen, vermengt die beiden stoffe zu einem dreistündigen abend, befreit
sie restlos von den eh schon spärlichen zuversichtlichen elementen und reichert
sie an mit hundert assoziationen und – wie immer – michael pietschs
ausdrucksstarken marionetten, diesmal allesamt verkrüppelte kriegsopfer,
illustrationen einer grenzenlosen dystopie. der in jeder rolle grossartige
thomas schmauser spielt prospero und onoda als liebenswürdige verzweifelte,
bernardo arias porras kostet die selbstverliebtheit werner herzogs voll aus (wer,
wenn nicht ich, muss diesen film machen?) und zählt in der mitte des abends alle
kriegs- und konfliktherde seit 1945 auf, minutenlang, wirklich alle. krieg ist
der normalzustand und in der „bar zum ewigen frieden“ bei der ewig rauchenden katharina
bach schaut dann auch immanuel kant noch vorbei. von shakespeares insel zu
herzogs insel zu gockels insel wird man getrieben, ja gejagt. der sturm wird
zum sturm im kopf. was bleibt, ist ein rostiges schiffswrack und null hoffnung.
ein völlig überbordendes, streckenweise sehr kluges und also ziemlich
forderndes insel-hüpfen.
Samstag, 30. Dezember 2023
MÜNCHEN: DER STURM / DAS DÄMMERN DER WELT
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