Montag, 25. August 2025

LUZERN: DAS LIED VON DER ERDE

„…wenn mir jemand sagen würde, dass ich nur noch eine stunde zu leben habe, dann möchte ich den letzten satz – der abschied – vom lied von der erde hören.“ der tod war nicht mehr weit, als dmitri schostakowitsch das 1974 sagte. gustav mahler bedeutete ihm alles. man kann ihn gut verstehen. „das lied von der erde“, der sechsteilige liedzyklus für tenor, alt und orchester, ist eigentlich eine verkappte sinfonie – und was für eine. hier geht es um alles, um leben und tod, um mensch und kosmos, um vergänglichkeit und ewigkeit. simon rattle, der irgendwie zeitlose maestro, der das lucerne festival schon mit verschiedenen orchestern beglückte, wählte mahlers grosses opus jetzt für seinen ersten auftritt mit dem lucerne festival orchestra. ein famoses debut, ein klangrausch, in grossen bögen entwickelt rattle mit seiner frau, der mezzosopranistin magdalena kožená, und dem amerikanischen tenor clay hilley sämtliche dimensionen dieser tiefgründigen musik, schneidend hart beim „trinklied vom jammer der erde“, voller geheimnisse und naturlaute bei den liedern über den frühling, die jugend, die schönheit und dann zutiefst lyrisch, melancholisch und visionär beim 30 minuten dauernden „abschied“. „ist das überhaupt zum aushalten? werden sich die menschen nicht darnach umbringen?“ soll gustav mahler selber gefragt haben. er hat massiv unterschätzt, welche glücksgefühle diese melodien bei aller schwere auch auslösen können. sinnigerweise stellte simon rattle diesem späten mahler einen frühen, sehr frühen schostakowitsch voran. der schrieb seine erste sinfonie mit 18 als abschlussarbeit am petersburger konservatorium, auf anhieb ein wurf, vielschichtig und doppelbödig, auch hier bereits das ganze spektrum menschlicher regungen. mahler und schostakowitsch – zwei seelenverwandte im kkl vereint.

Mittwoch, 20. August 2025

MÜNCHEN: FÜNF FREUNDE

da muss die post abgegangen sein: fünf freunde in den usa, allesamt künstler, allesamt auf der intensiven suche nach neuen ausdrucksformen, fanden mitte des vergangenen jahrhunderts in unterschiedlichen und immer wieder neuen konstellationen zusammen, inspirierten sich, arbeiteten gemeinsam, feierten und stritten gemeinsam, pflegten sowohl ihre freundschaft wie ihre konkurrenz. das museum brandhorst widmet diesen kunst-kumpels jetzt die ausstellung „fünf freunde“. mit über 180 exponaten – musik, bilder, kostüme, objekte – bietet sie einen faszinierenden eindruck, wie sehr der austausch bewegter, suchender, offener geister schöpferische energien freisetzen kann und wie stark dieser künstlerkreis die entwicklung der modernen kunst prägte. wer sind die fünf? neben dem maler cy twombly (1928-2011), dessen werk im brandhorst seit jahren permanent und aufs schönste präsentiert wird, gehören dazu der musiker und theoretiker john cage (1912-1992), der tänzer und choreograf merce cunningham (1919-2009) sowie die maler und bildhauer robert rauschenberg (1925-2008) und jasper johns (*1930). die aktivste periode dieses interdisziplinären kraftwerks fiel ab 1950 zusammen mit der von der amerikanischen regierung eingeleiteten hetzjagd gegen andersdenkende. die kunst der fünf arbeitete sich in der folge ab an macht und unterdrückung, ein auflehnen gegen die zustände, eine konsequente und kreative widerständigkeit. die radikalsten werke aus dieser zeit sind auch die bekanntesten und dominieren gleich den ersten saal: cages musikstück 4´33“ (vier minuten und 33 sekunden stille) und die white paintings von rauschenberg/twombly (leinwände mit nichts als weisser farbe). stille. nichts. wirken lassen. selber denken.

Sonntag, 17. August 2025

MÜNCHEN: LIEBESERKLÄRUNG AN DEN BIERGARTEN

wo ist die welt diverser als in einem biergarten? nehmen wir zwecks überprüfung (vulgo: faktencheck) unseren favoriten, das „seehaus“ im englischen garten in münchen. los geht‘s: da sind dänen, eine oberbayerische mädels-polterabendgruppe in pink, sympathische eltern mit ihrem sympathischen erwachsenen sohn ins gespräch vertieft, koreanerinnen, ukrainische flüchtlinge, aufgebrezelte influencerinnen, der vorstand einer csu-ortsgruppe, kanadier, slowakinnen, überparfümierte jungs in lederhosen, eine senioren-wandergruppe mit stöcken, verunglückte frisuren, junior-broker im slimfit-anzug, ein ernsthaft lösungsorientiertes ehepaar, türsteher vor dienstantritt, lateinlehrerinnen nach dienstschluss, mein libanesischer lieblingstenor und sein partner, zwei sich hemmungslos auf torten stürzende hochbetagte damen, eine introvertierte backpackerin mit tagebuch, dicke bierbäuche aus dem umland, ein frauenpaar mit kinderwagen und schwiegervater, vitaminarme nerds, freundliche abräumer aus ghana, einsilbige verliebte, eine bekannte tv-moderatorin mit entourage, portugiesen, rätselhafte tatoos, dirndl, noch mehr dirndl, zwei als priester kostümierte priester, kunstfuzzis, alkoholfreie hausfrauen, frisch diplomierte diplomandinnen, drei kampfradler, austauschstudentinnen aus uruguay, ein total hungriges genderfluides wesen, eine frau mit fünf verhaltensoriginellen hunden – und wir. alle da, alle anders, alle nebeneinander, alle miteinander, ein ort des austauschs, ein ort der toleranz, ein kleiner beitrag zum weltfrieden. man möchte und könnte hier sämtliche haupt- und nebenrollen für einen üppigen film casten. und übrigens: das bier ist meistens stimulans und doch oft bloss nebensache. wo sitzen so verschiedene menschen so nahe und so verträglich beisammen? der menschheit ginge es besser, gäbe es mehr biergärten. ein prosit…..

 

Samstag, 16. August 2025

MÜNCHEN: TREES, TIME, ARCHITECTURE

wer in diesen hitzetagen mit dem rad von einer vierspurigen strasse mitten in einer grossstadt in eine von bäumen gesäumte seitenstrasse abbiegt oder zu fuss von einem bewaldeten seeufer in ein dahinterliegendes zuasphaltiertes und zugeparktes wohnquartier unterwegs ist, realisiert die wirkung von bäumen, wald, grün aufs klima ganz praktisch, ganz physisch: ein wohltuender temperaturunterschied von mehreren graden. sind bäume unsere rettung? die ausstellung „trees, time, architecture“ in der münchner pinakothek der moderne nimmt den kontrast zwischen der extremen langsamkeit, mit der bäume wachsen, und der hohen dringlichkeit, die grossen ökologischen und gesellschaftlichen probleme zu lösen, als ausgangspunkt. dutzende von beispielen aus unterschiedlichen epochen und diversen kulturellen und klimatischen zonen illustrieren die chancen und möglichkeiten, die das lebende baumaterial baum für architektur, landschaftsarchitektur und stadtplanung bietet: architektur auf baum (haus in baumkrone auf neuguinea), baum auf architektur (torre guinigi in lucca und bosco verticale in mailand), baum zwischen architektur (oerliker park in zürich), baum in architektur (daita2019 in tokio), baum als architektur (siej bridge in indien) – eine wundertüte voller ideen und eine wohltat fürs ökosystem. durch vielfältigen und kreativen einbezug von bäumen würden unsere umwelt gesünder und unsere direkte umgebung sinnlicher. diese ausstellung ist ein ausgesprochen inspirierendes plädoyer fürs umdenken, denn die menschheit braucht bäume. wir haben es in der hand. und wollen zu oft nicht sehen, dass wir es in der hand haben. ist leider so. ende der predigt.

Montag, 11. August 2025

LOCARNO: MEGALOPOLIS

wer will schon in zeiten von netflix-häppchen und tiktok-schnipseln einen zweieinhalbstündigen film eines 85jährigen mannes sehen? nun, wenn der mann francis ford coppola heisst („der pate“, „apocalypse now“), offensichtlich doch einige: der grosse saal im palacinema in locarno ist komplett ausgebucht, obwohl man ja reichlich gewarnt war vor „megalopolis“, diesem grössenwahnsinnigen projekt über grössenwahn und verwandte charakterzüge. coppola verquickt das alte rom mit den neuen usa („new rome“), filmt hart am rand des untergangs, zitiert immer wieder marc aurel – und eigentlich soll „megalopolis“ sein vermächtnis sein: der alte mann will von den dystopien der gegenwart wieder zu den utopien wechseln, will der jugend die idee einer besseren welt hinterlassen, seine hauptfigur (cesar catilina!!) will mit magisch-organischem material die stadt der zukunft bauen und das imperium retten, make the world great again. so weit, so nachvollziehbar. doch das moderne märchen entgleitet dem grossen regisseur: ein overkill an ideen, nebengeschichten, grauenvoll geschmacklosen interieurs (wie bei trumps zuhause), visuellen effekten, bizarren inhaltlichen sprüngen, ein zirkus des wahnsinns, amerika als albtraum. man ertrinkt als zuschauer in dieser spätrömischen dekadenz, voller korruption, voller affären, alles wirr, abstrus, chaotisch – und die bessere welt am ende ist, wen wundert´s, hochgradiger kitsch. man versteht, dass trotz der marke coppola kein studio diesen aberwitzigen film produzieren wollte. da bezahlte der alte mann die 120 millionen selber und verkaufte dafür einen teil seiner weinberge. was macht man nicht alles, wenn man eine mission hat. und doch, möglicherweise wird man diesen film in 20, in 50 jahren ganz anders anschauen, vielleicht hat er dann plötzlich kultstatus: unsinn als methode, das ultimative sittenbild der trump-ära.

Freitag, 8. August 2025

LOCARNO: SEHNSUCHT IN SANGERHAUSEN

autokennzeichen sgh - sangerhausen im südharz. ostdeutsche prärie, kohleabbau, afd. nicht auf anhieb die vorstellung, die man mit deutscher romantik verbindet. doch sangerhausen nennt sich auch rosenstadt, und dass der dichter novalis in dieser gegend lebte, nimmt julian radlmaier zum ausgangspunkt für seine komödie „sehnsucht in sangerhausen“, die jetzt beim filmfestival von locarno weltpremière hatte. ein abstecher in des frühromantikers leben führt – harter schnitt – zu zwei frauen von heute, ihren träumen, ihren sehnsüchten: ursula (clara schwinning) ist eine von der liebe enttäuschte und einigermassen orientierungslose kellnerin, neda (maral keshavarz) dreht als travel influencerin tipps für billigtrips („mit hartz im harz“). der film begleitet die beiden durch ihren freudlosen alltag, den radlmaier absolut brillant mit den grossen motiven der deutschen romantik verknüpft: der wald, der mond, das unheimliche. „sehnsucht in sangerhausen“ ist deutsche romantik reloaded, extragrosse portion. alte schlager erklingen, pralle kirschen locken, ein aufgebrezelter pudel schleicht durch die jahrhunderte, nudisten frönen der wanderlust, das kamel aus novalis‘ „der mann im brombeergestrüpp“ schaut auch mal an der kohlehalde vorbei, ein blauer stein nimmt einen wunderlichen weg durch die gedärme eines steinschluckers auf die wiesen und bahnhöfe der neuzeit. romantische rätsel, dass es eine freude ist: die vergangenheit winkt der gegenwart und würde ihr gerne was hinterlassen. alles klärt und fügt sich dann in der barbarossahöhle, doch wirklich glücklich werden die beiden frauen auf ihrer suche nicht, wirklich glücklich werden dafür die zuschauerin und der zuschauer durch all die verspielten wendungen und witzigen überraschungen, die dem tristen leben immer wieder luftig-leichte momente gönnen. international wird der film unter dem titel „phantoms of july“ anlaufen, eine abenteuerliche übersetzung für dieses famose abenteuer.  

 

Dienstag, 5. August 2025

LUZERN: UNSER NAME IST AUSLÄNDER

es beginnt wie eine kuriose performance: vier junge erwachsene schleppen einen grossen wohnzimmerteppich mitten auf einen schulhausplatz, rollen ihn aus und stellen das sofa von zuhause dazu. eine lümmelei? hêlîn, selin, firat und serhat sind geschwister, zwei schwestern und zwei brüder, kinder kurdischer eltern, aufgewachsen in lachen am oberen zürichsee. selin besili hat die anderen drei am ort ihrer kindheit zusammengetrommelt für ihren film „unser name ist ausländer“, der den innerschweizer filmpreis in der kategorie abschlussfilm gewann und jetzt – zusammen mit anderen verdienten winnern – im luzerner open-air-kino gezeigt wurde. mit ruhiger stimme erklärt selin einmal im off, wie sie sich die sprache ihrer eltern bewusst abgewöhnte, weil sie damit immer nur aneckte. andererseits wurde sie in der schule für den kleinsten deutsch-fehler ausgelacht. der tägliche kampf von kleinen secondas und secondos: die schweiz ist ihre heimat, doch diese heimat behandelt sie wie fremde, sie können sich nicht zuhause fühlen. die jungs werden aufgrund ihrer dunklen haare und augen immer wieder kontrolliert, verpassen wegen solchen polizeiinterventionen auch mal den letzten bus in der nacht. unser name ist ausländer: rassistische vorurteile und erfahrungen prägen den alltag. und unspektakuläre bilder aus diesem alltag prägen den film. das unspektakuläre ist hier das spektakuläre: die versteckte oder verdeckte ohnmacht. alle vier erzählen ihre geschichten langsam und nüchtern, ohne wut, ohne aggression, ohne rachegefühle. man merkt, allen widrigkeiten zum trotz haben sie nie aufgegeben, an ein anderes, ein besseres leben zu glauben – hier, in der schweiz, wo sie geboren wurden, wo sie hingehören. die vier tragen den teppich und das sofa dann auch mal an den see, lümmeln mit der ganzen verwandtschaft herum, musik, çai, scherze: hier sind wir! wir, an unserem see! man freut sich mit ihnen über ihr gewachsenes selbstbewusstsein.