Dienstag, 31. Dezember 2024

PARIS: DIE CALLAS, DIE OPER UND DIE VERNUNFT

 „mein leben ist die oper. in der oper gibt es keine vernunft.“
…..und das ist erst der trailer. vielversprechend.
angelina jolie („in der rolle ihres lebens“) als maria (callas), 1977 zurückgezogen lebend in paris.

Montag, 30. Dezember 2024

MÜNCHEN: ANDERSENS ERZÄHLUNGEN

woher kommt die kunst – musik, malerei, literatur –, die uns bewegt und berührt? die nachhaltigste wirkung entfalten häufig werke, die offen oder verschlüsselt autobiografisches aufarbeiten. hans christian andersens geschichte von der kleinen meerjungfrau beispielsweise, die den ertrinkenden prinzen rettet, deren liebe von ihm aber nicht erwidert wird, spiegelt in sublimierter märchenform das tragische schicksal des autors. andersen liebte edvard collin, seinen jugendfreund und sohn seiner ziehfamilie, abgöttisch und musste hinnehmen wie dieser ihm sozusagen wegverheiratet wurde. unter aufbietung der gesamten bühnenmaschinerie und sämtlicher theatertricks verschmilzt regisseur philipp stölzl am münchner residenztheater die biografie des autors und dessen märchen zu „andersens erzählungen“, einem tiefenpsychologischen wellenbad für erwachsene: der biedermeier-salon der collins füllt sich unvermittelt mit knallgelben zauberfischen, garstigen grossmüttern, fluoreszierenden kostümen, fliegenden kussmündern und tintenfischen mit riesententakeln, suggestives licht, suggestive musik, symbolismus meets disney-ästhetik. das meer flutet die spiessbürgerliche welt – ein fest fürs auge, der volle theaterzauber, der andersens ernste botschaften von andersartigkeit und aussenseitertum aufs prächtigste illustriert. moritz treuenfels spielt den dichter fulminant, ihm stehen sämtliche register zur verfügung für diesen verstossenen, melancholischen, schrulligen, zerknitterten, neurotischen, glücklosen mann, der verzweifelt durch den salon seiner ziehfamilie tigert und nur in seiner überbordenden phantasie wirklich aufleben kann. ein schrei, gegen schluss, bringt die ganze tragik dieses lebens auf den punkt, ein schrei an die adresse von edvard: „du bist meine offene wunde! du bist das, was mich schreiben lässt.“ andersen blieb bis zu seinem tod alleinstehend.

Mittwoch, 25. Dezember 2024

ZÜRICH: PEIDEN

das täfer beige zugepinselt, eine eckbank, darüber der herrgott, auf dem tisch eine plastikdecke, ein buffet mit uraltem tv-apparat und – ein paar versteckte ginflaschen: das war die stube der mutter von bruno cathomas in peiden im lugnez. cathomas (59) ist der aktuell herausragendste schweizer schauspieler, er war in basel, dann in berlin, in köln und neu ist er am burgtheater in wien engagiert. die stube seiner mutter steht jetzt auf der bühne des zürcher schauspielhauses und cathomas erzählt darin – in einem 85-minuten-parforce-solo – zwei geschichten: die seines dorfes und die seiner flucht aus diesem dorf. peiden wurde innert kurzer zeit zwei mal ein raub der flammen und wenig später begann der hang und mit ihm das ganze dorf zu rutschen. diese geschichte berichtet cathomas wie ein sorgfältiger dorfchronist auf rätoromanisch. die problematische geologie, die spalten und risse und die damit verbundene unsicherheit werden zur metapher für cathomas´ jugend. wenn er da in der stube seiner mutter rumwuselt, erliegt man sofort seiner fabulierlust, jetzt schweizerdeutsch, seinem humor, seinen anekdoten – von seiner schlosserlehre, von seinem gastspiel in der fünften fussball-liga, vom veräppeln des dorfpolizisten. doch immer wird deutlich, wie das grobe dieser welt zu viel wurde für diesen kerl. cathomas ist ein brocken, aber ein sanfter, verletzlicher, beweglicher. der ruppige vater, die ausgestossene mutter, der verbreitete mangel an empathie, die enge der gedanken – das alles wurde ihm unerträglich, immer wieder atmet er schwer und schwitzt beim erinnern. er musste weg, er ging weg, wurde zum grossen theaterberserker, wild und sensibel, und vermisste lange nichts. kurz vor der première von „peiden“ kehrte bruno cathomas nach peiden zurück. das erste mal seit über 30 jahren. sein solo hat etwas versöhnliches.

Montag, 23. Dezember 2024

GENÈVE: COUP FATAL

vergnügt spielt der mann aus kinshasa hinten auf der bühne auf seinem balafon. vier weitere knien vor ihm und scheinen mit weit ausholenden armbewegungen den klang richtung saal zu schaufeln, die töne mit den händen gleichsam ins publikum zu werfen. ein faszinierender moment, weil er eine uns ungewohnte musik mit einem ungewöhnlichen, sehr stimmigen bild illustriert. „coup fatal“ führt elemente afrikanischer und europäischer kulturen zusammen, barockarien von monteverdi, händel und gluck verschmelzen mit kongolesischem rumba. das projekt – eine ebenso mutige wie gelungene mischung aus konzert, oper und tanztheater – entstand 2014 für die wiener festwochen, worauf eine zweijährige höchst erfolgreiche tournee folgte. und jetzt haben die musiker fabrizio cassol und rodriguez vangama und der choreograf alain platel „coup fatal“ im auftrag der comédie de genève wiederbelebt. mit unerschöpflicher vitalität spielen, tanzen und singen sich der countertenor coco díaz, elf kongolesische musiker und eine musikerin durch dieses interkontinentale crossover, mokieren sich auch mal über typische klischees der anderen kultur, sind pausenlos in bewegung, ein energetischer strudel sondergleichen. es dauert allerdings ein weilchen, bis der funke auf das traditionell reformiert-reservierte genfer publikum überspringt. doch die wilde bande auf der bühne schafft es, die kostüme werden immer bunter, die performance immer ausgelassener, bis zur finalen ekstase, wo der tenor das unvermeidliche „lascia ch´io pianga“ aus händels „rinaldo“ anstimmt und ein kongolese wieder und wieder „open your heart“ dazwischensingt, eindringlich zum publikum gewandt, „open your heart“. eine extra-portion afrikanisches selbstbewusstsein.

Dienstag, 17. Dezember 2024

ROTKREUZ: EIN BLICK HINTER DIE FASSADEN

hotel bauernhof! was man da aus dem zug von zürich nach luzern immer wieder erblickt, mutet an wie ein kleiner scherz: hotel bauernhof, inmitten all der betonkolosse in rotkreuz. das war einmal, rotkreuz als bauerndorf. im verlauf der letzten 14 jahre entstand entlang des gleisfelds – und dank gütiger mithilfe von novartis, amgen, hochschule luzern usw. – jener unansehnliche mix aus überdimensionierten stahl-, glas- und betonfassaden, wie er mittlerweile alle bahnhofeinfahrten von münchen bis basel und von neuchâtel bis köln prägt. die zürcher europaallee mag als vorbild gedient haben, es gibt leider auch schlechte vorbilder. diese total wuchtige, total monotone und total anonyme baumasse wirkt in den grossstädten durchs band hässlich und abweisend, in einer kleinen gemeinde wie rotkreuz wirkt sie auch noch lächerlich. doch jetzt kommt´s: in rotkreuz lohnt sich ein blick, respektive ein bummel in die zweite reihe. den tipp habe ich der architekturzeitschrift „karton“ zu verdanken, sie hat mir diesen stopover empfohlen und die augen geöffnet für das gleichzeitig konzipierte quartier hinter dem massiven gebäuderiegel beim bahnhof. das sogenannte suurstoffi-areal (der name kommt vom ehemaligen sauer- und wasserstoffwerk) besticht heute durch nicht zu hohe, sehr heterogen und sorgfältig gestaltete wohnblocks und eine eigentliche gartenlandschaft. zwischen gebüschen, viel schilf, hecken, spielplätzen, rasen-, wasser- und kiesflächen bewegt man sich auf grosszügig gewundenen wegen. auch wer nicht hier wohnt, fühlt sich hier wohl: viel luft, viel licht und alles verkehrsfrei. es lohnt sich – nicht nur in rotkreuz – immer wieder hinter die fassade zu blicken.

Mittwoch, 11. Dezember 2024

MÜNCHEN: JUGENDSTIL MADE IN MUNICH

zwei dunkelhaarige schönheiten in luftigen kleidern werfen mit einem weissen laken einen älteren herrn (typ professor unrat) in die luft, er versucht sich festzuklammern, doch keine chance, die energie der jungen damen hat´s in sich. was die „jugend“, die münchner illustrierte für kunst und leben, am 4. juni 1898 auf ihrer titelseite zeigte, kann man als symbol für die ganze epoche sehen: das alte wird mit schwung entsorgt. in der grossen ausstellung „jugendstil made in munich“ zeigen das stadtmuseum und die kunsthalle gemeinsam, wie münchens ruf als weltoffene metropole gegen ende des 19. jahrhunderts kunstschaffende aus ganz europa anzog. in diesem für innovationen offenen klima wollten sie sich nicht länger an den stilen der vergangenheit orientieren, sondern neues schaffen, das weit über die kunst hinausging: einen gerechteren und nachhaltigeren lebensstil. die gleichstellung der geschlechter war schon damals ein zentrales postulat, ebenso ein gesundes leben im einklang mit der natur. beispielsweise gab´s in münchen schon kurz nach 1900 das erste vegetarische restaurant, bezeichnenderweise mit dem namen „ethos“. der jugendstil, das präsentiert die ausstellung mit einer beeindruckenden fülle von exponaten, erfasste das gesamte spektrum des täglichen lebens: möbel, textilien, geschirr und andere gebrauchsgegenstände, grafik – überall schlugen sich die weichen formen der natur nieder, blumenornamente, girlanden, geschöpfe aus den tiefen des meeres. was zu kurz kommt in der schau: die architektur des jugendstils. auch dafür ist münchen ein mekka. reicht für mehrere streifzüge durch die stadt.

Montag, 9. Dezember 2024

LUZERN: SPIRIT OF LIFE

diese gesichter überall. man stelle sich in diesen november- und dezembertagen auf einen beliebigen bahnsteig oder setze sich in einen beliebigen bus – und was sieht man? überall regungslose, griesgrämige, zerknitterte, abgelöschte gesichter, tristester alltag. all diese depresso-visagen sind schwerer zu ertragen als das nasskalte, dauergraue wetter. als kontrastprogramm empfiehlt sich ein konzert des zentralschweizer gospelchors „feel the spirit“ unter der leitung von ueli reinhard, zum beispiel in der restlos ausverkauften kirche st. anton in luzern. da blickt man in über 80 aufgestellte gesichter (darunter, achtung transparenzhinweis, eine junge dame namens seline brander…..), man blickt in strahlende augen, vereinzelte verklärt leuchtende hat´s auch dabei. „spirit of life“ lautet das motto dieses jahr, geboten werden einerseits – pflichtprogramm für einen gospelchor – lebensfreude und lebenshilfe („i am not alone“, „hope has come“), andererseits beschwingte melodien aus filmen („the greatest showman“) und musicals („lion king“), mit „africa“ eine beinahe zur musikalischen orgie ausartende elefantennummer und ein sehr berührendes „baba yetu“, das vater unser auf suaheli. die top-solistinnen und -solisten sind alles „eigengewächse“ aus dem chor, ausgesprochen überzeugend, eine cellistin und ein saxofonist erweitern den sound der kleinen band um zusätzliche emotionale farben. alles in allem eine energiegeladene sache auf hohem niveau, viel feuer, viel spirit, pure leidenschaft – und als zugabe, besser kann man´s nicht zusammenfassen: „you made this night delight“. eineinhalb stunden mit diesem chor sind eine art akustische lichttherapie.

 

Freitag, 6. Dezember 2024

LUZERN: GNATTALI? GNATTALI!

ein düsterer donnerstagabend im dezember - was tun: samichlaus? weihnachtseinkäufe? winterwunderwelt? glühweinschwaden? nichts von alledem. nein, wieder einmal erliegen wir dem charme, der von kleinen und kleinsten kulturveranstaltungen quasi um die ecke ausgeht. gemeinsam luden die società dante alighieri luzern und das bücherparadies terranova zum konzert in die himmelrich-überbauung. im intimen rahmen des salon himmelblau liefern emma biglioli (cello) und jacopo figini (gitarre), ein ausgesprochen sympathisches junges paar aus la spezia, den beweis, dass man das motto des abends - „italia in musica“ - nicht zu eng sehen darf und soll. im ersten teil barockmusik, von italienern in italien komponiert, gabrielli, scarlatti, vivaldi. im zweiten teil die berühmte sonate a-moll für arpeggione von franz schubert, gewiss kein italiener, aber vom zu unrecht verrufenen antonio salieri als knabensopran entdeckt, dann nachhaltig gefördert und unterrichtet. italienisches temperament schliesslich auch im dritten teil mit der sonate für gitarre und cello von radamés gnattali. gnattali? ja, auch noch nie gehört, auch wieder so eine bildungslücke, die das junge paar jetzt aufs erfreulichste geschlossen hat. gnattali (1906-1988) war der sohn nach brasilien emigrierter italienischer musiker, ein secondo, der über 300 werke komponierte. seine sonate ist ein kleines feuerwerk, lateinamerikanische rhythmen und italienische emotionen durchdringen sich in rasantem tempo, eine echte entdeckung. und eine wahre freude, wie biglioli und figini sich quer durch die epochen und weltgegenden spielen und dabei grösste professionalität mit grösster hingabe verbinden. viva la musica.

Sonntag, 1. Dezember 2024

CHARKIW: GEDICHTE AUS DEM KRIEG

wer spräche in solchen zeiten
über angst,
wer schämte sich dieser tage nicht,
sich zu fürchten?
wir sind zu viele für die angst,
uns wurde viel zu viel
geschenkt,
als dass wir nicht wüssten,
dass von uns etwas
bleiben wird.
        aus "chronik des eigenen atems", dem neuen gedichtband von serhij zhadan (edition suhrkamp). der ukrainische schriftsteller und musiker erhielt 2022 den friedenspreis des deutschen buchhandels. im april 2024 trat er freiwillig der ukrainischen armee bei und hat dort einen radiosender mit aufgebaut. zhadan ist überzeugt, "dass die sprache stärker ist als die angst des schweigens".