Freitag, 20. Oktober 2023

LUZERN: DIE LEIDEN DES JUNGEN WERTHER

sie setzt sich eine vr-brille auf. was sieht sie? es muss ein horror sein. sie beginnt panisch zu zucken, wirft sich zu boden, sie windet sich und winselt, atmet immer rastloser, beginnt zu hyperventillieren. die welt, real oder virtuell, man muss sie aushalten: „wie oft muss ich mein empörtes blut zur ruhe bringen?“ die junge frau mit der vr-brille ist werther. alle vier auf der bühne des luzerner theaters sind werther. goethe war 25, ein junger mann in liebeswirren, als er „die leiden des jungen werther“ schrieb, den helden seines briefromans schrieb er bekanntlich in den freitod. mit starken bildern und dröhnendem sound (und ganz ohne übertriebene oder krampfhafte aktualisierungen der textvorlage) schafft der autor, musiker und regisseur markolf naujoks den bezug zum heute, zu den seelischen nöten und qualen jugendlicher, ihrem permanenten kampf zwischen äusserer und innerer welt – 250 jahre nach goethe. theda schoppe liefert ihm dazu fiebrige, das ganze theater erfassende 3d-videoanimationen, bei der euphorischen verliebtheit zu beginn idyllische und üppige natur, dann zunehmend albtraumhafte, psychedelische visionen. es ist die illustration wachsender ambivalenz und verworrenheit: vier werther auf dem weg in die depression. die vier sind einer und dieser eine ist sehr, sehr einsam mit seinen existenziellen ängsten. eine präzise diagnose, einst und jetzt. nur schade, dass in diesem setting zu viel herumgebrüllt wird, und schade, dass zwei der vier spielenden doch deutlich zu alt sind, um als junge wilde durchzugehen. die ruhigsten sequenzen sind die packendsten an diesem abend: wenn die vier den abschiedsbrief werthers an lotte, unmittelbar vor seinem suizid, an der rampe ab blatt vorlesen, schlicht und voller empathie, dann wird noch ein letztes mal deutlich, wie kraftvoll und zeitlos klassische texte sein können.

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