sie
setzt sich eine vr-brille auf. was sieht sie? es muss ein horror sein. sie
beginnt panisch zu zucken, wirft sich zu boden, sie windet sich und winselt,
atmet immer rastloser, beginnt zu hyperventillieren. die welt, real oder
virtuell, man muss sie aushalten: „wie oft muss ich mein empörtes blut zur ruhe
bringen?“ die junge frau mit der vr-brille ist werther. alle vier auf der bühne
des luzerner theaters sind werther. goethe war 25, ein junger mann in liebeswirren,
als er „die leiden des jungen werther“ schrieb, den helden seines briefromans
schrieb er bekanntlich in den freitod. mit starken bildern und dröhnendem sound
(und ganz ohne übertriebene oder krampfhafte aktualisierungen der textvorlage) schafft
der autor, musiker und regisseur markolf naujoks den bezug zum heute, zu den
seelischen nöten und qualen jugendlicher, ihrem permanenten kampf zwischen
äusserer und innerer welt – 250 jahre nach goethe. theda schoppe liefert ihm
dazu fiebrige, das ganze theater erfassende 3d-videoanimationen, bei der
euphorischen verliebtheit zu beginn idyllische und üppige natur, dann zunehmend
albtraumhafte, psychedelische visionen. es ist die illustration wachsender ambivalenz
und verworrenheit: vier werther auf dem weg in die depression. die vier sind
einer und dieser eine ist sehr, sehr einsam mit seinen existenziellen ängsten. eine
präzise diagnose, einst und jetzt. nur schade, dass in diesem setting zu viel
herumgebrüllt wird, und schade, dass zwei der vier spielenden doch deutlich zu
alt sind, um als junge wilde durchzugehen. die ruhigsten sequenzen sind die packendsten
an diesem abend: wenn die vier den abschiedsbrief werthers an lotte,
unmittelbar vor seinem suizid, an der rampe ab blatt vorlesen, schlicht und voller
empathie, dann wird noch ein letztes mal deutlich, wie kraftvoll und zeitlos
klassische texte sein können.
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