Freitag, 11. Februar 2022

LUZERN: ZUR SCHÖNEN AUSSICHT

ödön von horváth war ein äusserst präziser menschenbeobachter und -beschreiber. die realen figuren, die ihm als vorbilder für das personal seiner stücke dienten und reichlich o-ton lieferten, fand er beispielsweise in den gaststätten seiner wahlheimat murnau in oberbayern. schauplatz in „zur schönen aussicht“ (1926) ist eine heruntergekommene pension, wo ein paar heruntergekommene herren ihr verpasstes oder verpatztes leben dem finalen desaster entgegensteuern, als direktor, kellner oder chauffeur. wobei es nur noch einen einzigen gast zu bespassen gibt, eine ebenfalls völlig perspektivenlose baronin, die sich mit sex und suff am leben festklammert. als eine junge dame auftaucht, die von einem der herren ein kind hat und ihn zur verantwortung ziehen will, gerät die männerbande in aufruhr, die baronin ins abseits und die ordnung, so es noch eine gab, völlig durcheinander. „zur schönen aussicht“ bietet das rundum-panorama einer dekadenten gesellschaft, ein europäisches sittenbild. regisseur martin schulze unterstreicht das in der box des luzerner theaters mit einer flächendeckenden alten europa-karte, die den boden der pension bildet, hübsche idee. im übrigen hat er horváth einigermassen falsch verstanden und inszeniert diese trostlose endzeitkomödie als wär’s eine sitcom von charles lewinsky: verfolgungsjagden zwischen topfpflanzen, vulgär gespreizte beine allenthalben, auf den tisch geknallte speisekarten – und es wird geschrien, geschrien, geschrien. schulze zeigt karikaturen statt figuren, klamauk statt finesse. vielleicht hätte er das programmheft zu seiner inszenierung besser studieren sollen, wo horváths „todsünden der regie“ abgedruckt sind, beispielsweise: „es darf auch niemand als karikatur gespielt werden.“

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