minutenlang tappen sie wortlos im halbdunkeln, vier menschen, zu diffusem rauschen unsicher einen fuss vor den anderen setzend, wie in zeitlupe, ängstlich um sich blickend die einen, völlig in sich gekehrt die anderen, taumelnd, zögernd, sich windend. diese eigenartige, sehr lange marche funèbre ist die intensivste sequenz von „die stille“, mit der das theater neumarkt die neue saison eröffnet. die 27jährige regisseurin paula lynn breuer lässt den text von guillaume poix („le silence“) zwischen schauspiel und butoh-performance schweben: drei menschen trauern, der vierte (ein autor? ein reporter? ein voyeur?) beobachtet und filmt sie dabei, oft distanzlos. trauer ist verzweiflung und abschied und wut, ist erinnern und verdrängen, auch mal befreiendes lachen. szenen werden mehrfach wiederholt, die gefühle ändern sich, oft radikal, jede und jeder trauert anders, trauer macht einsam: „es ist eine existenzielle sackgasse. man findet schwer aus der stille wieder hinaus.“ die trauernden sitzen im sand, wo das unglück geschah, spielen und schweigen, erinnern sich an küsse, an schuhe, an haare an der bürste. sie trauern um ein kind, es könnte auch ein partner oder eine freundin sein oder ein bevorstehender, unausweichlicher tod - das stück öffnet dem publikum viele richtungen. man schweift ab in eigene erfahrungen von trauer und loslassen und blickt dann wieder in diese versteinerten, leergeheulten, deprimierten, erschöpften gesichter, schaut diesen menschen zu, wie sie die bilder in ihrem kopf und die gedanken zu ordnen versuchen. rachel braunschweig, hanna eichel, martin butzke und till schaffnit bewegen sich mit beklemmender präsenz an der grenze zwischen leben und tod. starkes neues ensemble, neuer intendant, neue handschriften, alles neu am neumarkt. der auftakt mit dieser poetisch-dichten reflexion ist geglückt, man darf auf alles weitere gespannt sein.
Samstag, 27. September 2025
Mittwoch, 24. September 2025
LUZERN: TSCHÜSS, LUZERNER THEATER?
ginge es, lieber luzerner stadtrat, vielleicht ein wenig zügiger? „morgen ist die frage“ lautet das spielzeitthema des luzerner theaters. und „morgen ist die frage“ auch für das bröckelnde luzerner theater als bau und als institution. morgen! morgen! doch der luzerner stadtrat lässt sich zeit bis überüberübermorgen. zur zukunft des theaters schlägt er in seinem bericht und antrag ans parlament jetzt einen offenen, breit abgestützten dialog vor, der zu einer „vision für den theaterwerkplatz luzern“ führen soll. die ergebnisse dieser diskussion sollen 2028 „zusammengeführt“ werden. 2028! die ergebnisse der diskussion, nicht ein neues projekt. 2028!! (sorry, ich brauche sonst nicht so viele ausrufezeichen.) „kommt das ächt gut?“ fragt mich eine mit den politischen und kulturellen verhältnissen bestens vertraute freundin in einer mail. nein – und auf diese antwort würde ich wetten – so kommt das nicht gut. mehr mitsprache breiter kreise, das ist nach dem abstimmungs-desaster zum projekt „überall“ am 9. februar absolut richtig und wichtig. gesellschaftlicher dialog, standortevaluationen, potenzialanalysen, visionen – alles ok, aber bitte mit tempo. luzern braucht dringend ein neues theater, um den anschluss nicht zu verpassen. die befragung der stimmbürger und -innen nach dem nein habe gezeigt, freut sich der stadtrat in seiner pressemitteilung, „dass die luzerner bevölkerung mehrheitlich theaterfreundlich ist“. also, loslegen, morgen, nicht übermorgen. neues theater statt lange bank: es liegt jetzt am stadtparlament, dem stadtrat beine zu machen. auch ernsthafte, lösungsorientierte diskussionen mit vielen stakeholdern brauchen nicht drei jahre. morgen ist die frage. sonst tschüss, luzerner theater. ausrufezeichen.
Dienstag, 23. September 2025
VERONA: SEI NELL'ANIMA
im juni ist sie 71 geworden. man sollte bei einer dame nicht gleich mit dem alter beginnen. bei gianna nannini allerdings ist das schon absolut erwähnenswert, denn ihr alter und ihre performance klaffen auf wundersame weise weit auseinander. klar, sie wirkt schmaler, das haar schütterer, aber sie rockt wie ein 20jähriger jüngling über die bühne, elastisch und unermüdlich, und ihre rauhe stimme hat an power nichts verloren, gar nichts. es ist das wohl grandioseste heimspiel, das man sich für gianna vorstellen kann: arena di verona, ausverkauft, 20‘000 begeisterte fans. auch wir tragen dazu bei, dass das durchschnittsalter im publikum relativ hoch liegt, auch wir sind gemeinsam mit gianna älter geworden. mit ihrer super-band legt sie einmal mehr eine super-show hin, in knallige, oft psychedelische farben getaucht, von hit zu hit, eine musikalische tour durch die jahrzehnte, von „america“ (1979) über ihre grosse verneigung vor janis joplin mit „io e bobby mc gee“ (1990), „meravigliosa creatura“, „avventuriera“, „bello e impossibile“ undundund bis zu ihrer letzten ganz grossen hymne „sei nell’anima“. das bewegt enorm, die herzen und die tanzbeine. und es hat schon etwas rührendes, wenn drei doch schon recht betagte italienerinnen plötzlich nicht mehr zu halten sind, die hände in die höhe werfen und mit bebendem busen „voglio uno scandalo io con te“ mitkreischen. gianna hält jung, gianna lässt den laden explodieren. mehr italien geht gar nicht. „the most italian place on earth“ steht auf den streetbannern vor der arena. wie wahr. sei nell’anima, e lì ti lascio per sempre. gilt für italien, gilt für gianna. alla prossima!
Sonntag, 21. September 2025
VENEZIA: STRESSTEST
der planet glüht. die zahl der hitzetage steigt. die menschen leiden. viele werden das nicht mehr lange ohne gesundheitliche schäden aushalten. "stresstest" heisst sehr treffend der beitrag im deutschen pavillon der architekturbiennale in venedig. diese biennale spricht nicht bloss architektinnen und bauherren an, es ist eine hochpolitische ausstellung über den klimawandel und wie rasant sich unser umgang damit verändern muss. biennale-kurator carlo ratti: "the future of architecture lies not in control over nature, but in partnership with it." wenn die temperaturen steigen, brauchen wir grün als infrastruktur, um städte zu kühlen, um die luft zu reinigen, um die balance wiederherzustellen. mit bepflanzten dächern, begrünten fassaden, hellen oberflächen lassen sich die temperaturen in den städten um bis zu viereinhalb grad senken. so pessimistisch die klimaprognosen sind, so optimistisch stimmt die beeindruckende fülle der ideen und lösungsansätze aus allen kontinenten, die diese biennale präsentiert. der ganze zauber besteht darin, cleverer zu bauen und die ressourcen besser zu nutzen: sonne, wasser, pilze, bauschutt - und grün, viel, viel grün in aller welt. diese biennale ist ein appell, den komplexen herausforderungen nicht nur mit individueller und künstlicher intelligenz zu begegnen, sondern auch mit kollektiver. das heisst: von den ideen anderer lernen. die menschen waren schon immer schlau bei der bewältigung klimatischer herausforderungen. doch schlausein allein genügt nicht, die zukunft lässt uns keine zeit. der stresstest-pavillon der deutschen spricht klartext: "take responsibility - the time for action is now."
Donnerstag, 18. September 2025
ZÜRICH: TRANSFORMATION!
mehr fummel geht nicht: federboas, tüllbahnen, mit spiegelscherben verzierte leggins, kettenkorsetts, überdimensionierte mäntel aus sofastoffen, tortenspitzen-décolletés, kragenskulpturen, lebensgefährliche high-heels, shabby-strick, glitterstiefel bis zum hals – kurz, eine kostümorgie ohnegleichen erwartet die besucherin und den besucher im untergeschoss des museums für gestaltung in zürich. „transformation!“ ist eine hommage an die mittlerweile 74jährige susanne bartsch, die als jugendliche aus bern floh (kann man verstehen), zuerst nach london, dann in die usa. looks und styles sind ihre welt, in der new yorker partyszene wurde sie mit ihren exzentrischen kreationen zur stilikone, zur queen. manches ist inspiriert von fernen kulturen, einiges von der sado-maso-szene und einiges wohl direkt von der hölle. man muss diese kostüme nicht mögen, doch die grenzenlose kreativität bartschs ist überwältigend, ein fest fürs auge. so wird diese ausstellung zu einer reflexion über die lust am verstellen, über das bedürfnis, andere seiten nicht zu verstecken, sondern zu zeigen, ja auszustellen. wer sind wir? wer sind wir auch noch? wer möchten wir sein? wo wird die bekleidung zur verkleidung? welche botschaften übermitteln wir durch unsere erscheinung? man landet ohne umwege bei philosophischen und existenziellen fragen, die auch menschen beschäftigen, die nicht regelmässig bei susanne bartsch in den hippen new yorker locations rumhängen. und ja, dieser frau ging und geht es mit ihrer schrägen und schrillen mode und ihren performances nie bloss um lust und effekt, sondern auch um neue konzepte von weiblichkeit und männlichkeit, um die dekonstruktion von gender – und vor allem: um toleranz.
Montag, 15. September 2025
LUZERN: ADIEU, MICHAEL HAEFLIGER, UND MERCI
so eine imposante abschiedsparty kriegt nicht jeder: starpianist igor levit, starviolinistin patricia kopatchinskaja, starcellistin sol gabetta, stardirigent riccardo chailly, dazu das lucerne festival orchestra, das west-eastern divan ensemble und viele mehr erweisen dem abtretenden intendanten michael haefliger viereinhalb stunden lang die ehre und zollen ihm, gemeinsam mit 1800 zuhörerinnen und zuhörern, respekt für seine ausserordentlichen leistungen. 26 jahre lang ging beim lucerne festival die champions league der klassik ein und aus, vielen wurde der umtriebige intendant zum freund. unter dem motto „les adieux“ schenken sie ihm jetzt musikalische highlights von beethoven bis jüri reinvere, von fanny mendelssohn bis dieter ammann. auffallend viele frauen musizieren auf dem podium, auch dies ein verdienst haefligers, er förderte komponistinnen, dirigentinnen, solistinnen („primadonna“ war 2016 das festivalthema), er gründete die lucerne festival academy, es gab in den 26 jahren über 400 uraufführungen. wo sonst wird so selbstverständlich so viel zeitgenössische musik geboten? „neugier, offenheit und vertrauen“ hätten die reaktion michael haefligers immer bestimmt, sagt igor levit, auch bei ganz aussergewöhnlichen vorschlägen. haefliger liess die ideen sprudeln, nicht nur seine eigenen. da konnte nicht alles gelingen, am bedauerlichsten für die kulturstadt luzern das gescheiterte projekt salle modulable, mit dem pierre boulez und haefliger das lucerne festival richtung musiktheater öffnen und ein pendant zu salzburg schaffen wollten. aber eben: „immer versuchen!“ das sei die ganzen 26 jahre seine maxime gewesen, erklärt michael haefliger bei seinem letzten auftritt, innovativ bleiben, das scheitern nicht scheuen. und was rät er seinem nachfolger, was rät er der kommenden festival-generation? „immer versuchen!“
Sonntag, 14. September 2025
LUZERN: BIEDERMANN UND DIE BRANDSTIFTER
gottlieb und babette biedermann klammern sich aneinander und schauen sich entsetzt um, so haben sie sich den himmel nicht vorgestellt: stinkende müllsäcke, umgekippte eimer, rostige kanister, im halbdunkel eigenartige wesen mit tierköpfen, bierbäuchen, netzstrümpfen, der totale trash. kurz und gut: biedermanns sind nicht im himmel gelandet, sondern in der hölle. das nachspiel von max frischs „biedermann und die brandstifter“ (1957/58) macht corinna von rad in ihrer inszenierung in der box des luzerner theaters zum ausgedehnten vorspiel: hier müssen zwei, die sich immer für gutmenschen hielten, büssen für ihre naivität. sie haben brandstifter ins haus gelassen, sie haben die katastrophe nicht kommen sehen wollen. „wir haben doch alle nichts gewusst.“ die welt brennt, putin, trump, afd – frischs stück passt besser denn je, es ist eine warnung vor opportunismus. die brandgefährliche vorgeschichte verwandelt die regie dann in eine rasant-schrille show, ein stelldichein der oberflächlichkeiten. amélie hug, bastian inglin, wiebke kayser, robert rožić und annalisa derossi (auch am piano brillant) sind ein vorzügliches ensemble, da sitzt einfach alles, die haben tempo, die haben witz, die beherrschen schnelle stimmungswechsel, wunderbar spiessig und erschreckend fahrlässig: alltag bei biedermanns, party bei biedermanns, mal sehen sie aus wie barbie und ken, mal wie janet und brad aus der „rocky horror picture show“, die beiden brandstifter adrett und zuvorkommend, ihre benzinkanister sind da längst auf dem dachboden, man freundet sich an, prostet sich zu, wirft sich aufs sofa, dazu singen und summen sie ein bisschen sinatra, ein bisschen wagner, ein bisschen stephan eicher – bis es knallt. alles viel zu harmlos? zu hübsch? zu nett? im gegenteil, ein volltreffer! denn genau darum ging es frisch, dass hinter dem harmlosen das gefährliche lauert. ja, die welt brennt, aber „i nime no e campari soda”.
Freitag, 12. September 2025
CAMPIONE: ARCHITEKTUR DES GLÜCKS
die märchen unserer zeit haben mitunter etwas bedrückendes. das mag ein grund sein, weshalb beim kinostart von „architektur des glücks“ in basel gerade mal fünf personen im saal sitzen. der dokumentarfilm von michele cirigliano und anton von bredow erzählt in nüchternem ton das märchen von campione, der kleinen italienischen enklave am ufer des luganersees. deren behörden und bewohner träumten von glamour und geld, liessen sich von mario botta für 150 millionen ein grössenwahnsinniges casino bauen und lockten damit auch die unterwelt an. campione eiferte monte carlo nach – und scheiterte grandios. das symbolischste bild des ganzen films ist nur ganz kurz zu sehen: das hinterrad eines rolls-royce, der reifen ist platt – die luft ist raus in campione. im sommer 2018 ging das grösste casino europas konkurs, das halbe dorf verlor den job, eine der reichsten gemeinden italiens wurde zu einer der ärmsten. campione kann sich kein altersheim mehr leisten, der film zeigt geschlossene kindergärten, verwahrloste und überwucherte sportanlagen, leere swimmingpools und, immer wieder, desillusionierte menschen. die hybris des einstigen fischerdorfes wich flächendeckender trostlosigkeit. und über allem thront in seiner überragenden hässlichkeit das casino municipale, ein denkzettel in form eines architektonischen verbrechens. wer es nicht weiss, fragt sich, ob er eine missglückte kathedrale, eine kehrichtverbrennungsanlage oder ein kernkraftwerk vor sich hat. „sieht aus als wär´s aus der zeit des faschismus“, sagt einer im film. der meister selber schweigt mittlerweile zu seinem monstrum, der film muss ohne mario botta auskommen. zu seiner entlastung wird immerhin erwähnt, dass er bescheidener bauen wollte und von der gemeinde zu immer noch mehr genötigt wurde. gesprengt, wie sich das viele wünschen, wurde das casino nicht, sondern im januar 2022 mit stark redimensioniertem angebot wiedereröffnet. campiones suche nach dem glück geht weiter.