Freitag, 13. September 2024

ZÜRICH: FRAU YAMAMOTO IST NOCH DA

die alte frau yamamoto (nikola weisse, lebensklug und rührend) möchte ihre wohnungstür immer einen spalt weit offen lassen, um sich nicht so allein zu fühlen. doch die menschen in ihrem treppenhaus reden und leben aneinander vorbei. einer dichtet haikus für eine heike, die´s gar nicht gibt. eine glaubt, die probleme wären gelöst, wenn alle eine waffe hätten. einer möchte die betagte nachbarin keinesfalls einladen, weil er befürchtet, dass er sie nicht mehr los wird. distanz allenthalben, vereinzelung, vereinsamung – ganz grosses thema. „ich eigne mich nicht für die wirklichkeit“, sagt einer. auch andere denken so. die uraufführung von „frau yamamoto ist noch da“ von dea loher findet in tokio und zürich gleichzeitig statt. auf der bühne des schauspielhauses schieben sich permanent rote, blaue und gelbe plexiglasscheiben zwischen diese menschen: sie sehen sich, sie hören sich und bleiben doch immer gefangen, isoliert in ihrer eigenen welt. in diesem transparenten labyrinth von florian lösche und zu suggestivem sound von mark badur und the notwist arrangiert regisseurin jette steckel mit einem top-ensemble eine oft tragische, gelegentlich komische und immer wieder ins absurde kippende choreografie der einsamkeit. es ist ein ausufernder reigen loser szenen, dem ein paar striche gut getan hätten. dicht und überzeugend ist dea lohers vorlage, wo sie sich an den individuellen neurosen ihrer figuren abarbeitet und sich kleine utopien ausmalt, doch verliert sie diesen fokus immer wieder und packt alle dramen dieser welt dazu, krieg und börsenkurse und fischsterben und robotik. frau yamamoto stirbt mitten im stück, durchaus zufrieden. sie hat spuren hinterlassen in ihrer umgebung, ihr umgang mit schicksalsschlägen war vorbildlich und auch inspirierend, das merken viele erst spät. ihre seele, die bleibt als summe aller erinnerungen an sie, sie lebt weiter, sie ist noch da. 

 

Dienstag, 10. September 2024

MÜNCHEN: DER TROST DER DINGE

wie entstehen romane? aufgrund einer beobachtung, eines traums, einer plauderei, einer mission, durch brain storming, in einem writers room oder mit hilfe künstlicher intelligenz. alles denkbar, alles möglich. im münchner lenbachhaus lässt sich jetzt nachvollziehen, wie die romane von orhan pamuk entstehen, der 2006 als erster türke mit dem literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. „der trost der dinge“ heisst die ausstellung, sie zeigt die werkstatt eines schriftstellers. es sind also vor allem dinge für pamuk die auslöser: gegenstände führen ihn zu gedanken, gedanken festigen sich zu geschichten. in einer der vielen dutzend vitrinen stehen sich zwei porzellanhunde gegenüber, ein chinesischer aus der dresdener porzellansammlung und ein westlicher. darüber hat sich pamuk einen kleinen seiltänzer gebastelt, der „ständig zwischen den beiden welten hin- und herlaufen und mit einer stange namens romankunst das gleichgewicht halten muss“. so läuft das bei pamuk, geistreich, humorvoll, immer auch zuversichtlich. das düstere bild „das grosse maul“ von alfred kubin beispielsweise, auf dem menschen scharenweise in die hölle marschieren, kehrt pamuk in einem diorama kurzerhand um: dutzende kommen uns, in form winziger fotografien, aus dem maul entgegen, es sind „die menschen, die mich mein leben lang am meisten durch ihre intelligenz und kreativität beeindruckt haben“. auf schritt und tritt wird man daran erinnert, dass pamuk ursprünglich maler werden wollte: skizzenbücher, tagebücher, er zeichnet in kneipen, tusche, aquarelle, er blickt stundenlang aus fenstern, fotografien, kleiner krimskrams. alles ist jetzt da, es ist das museum eines scharfsinnigen mannes. man trifft auf einen faszinierenden fundus, nein, eine flut von gedanken, gegenständen, geschichten – als würde man durch einen dicken roman wandern.

 

Sonntag, 8. September 2024

MÜNCHEN: ABSCHIED VOM LEBEN, D-MOLL TOTAL

lahav shani ist 35. in zwei jahren übernimmt er die leitung der münchner philharmoniker und zum auftakt der konzertsaison steht er jetzt am pult seines künftigen orchesters: der junge mann aus tel aviv widmet sich dem alten mann aus linz, anton bruckner, dessen 200. geburtstag gerade üppig begangen wird. als er starb, war bruckner 72, gut doppelt so alt wie shani jetzt, und hinterliess seine neunte symphonie unvollendet, ein werk an der schwelle von der spätromantik zur moderne. es sei, sagte er, sein abschied vom leben und „dem lieben gott“ gewidmet. da hat er dem lieben gott schwere kost zugemutet. die neunte ist kein versöhnliches, friedliches adieu, sondern – und lahav shani kostet dies bis zur schmerzgrenze aus – ein monströses werk. zwar klingen immer wieder anmutige, fein ziselierte melodien an, doch dann kippen sie unvermittelt, in aufruhr, in krieg, in chaos. das ist d-moll total, ein zeugnis tiefster verzweiflung und existenzieller panik. ungebremst, mit voller wucht steuert der dirigent sein orchester hinein in diese hochdramatischen exzesse und eruptionen. diese junge, unbändige energie lädt die ausverkaufte isarphilharmonie auf bis zum bersten. eine endzeitvision zum auftakt, mutig. nach dem finalen ton verharrt das publikum zunächst in andacht schweigend – und dann: begeisterungsstürme. lahav shani scheint angekommen zu sein in seiner künftigen heimat. vor bruckner, im ersten teil des abends, beweist er, dass er nicht nur ein meisterhafter dirigent ist, sondern auch ein vorzüglicher pianist. nur, weshalb spielt er johann sebastian bachs cembalokonzert d-moll auf dem klavier? als ob es keine historische aufführungspraxis gäbe? das programmheft liefert keine erklärung. das bleibt also lahav shanis geheimnis. vielleicht sind es ja nicht zuletzt die kleinen geheimnisse, die das wirken grosser künstler prägen.

Donnerstag, 5. September 2024

LUZERN: BILDER DEINER GROSSEN LIEBE

seltsam, diese männer: zu knappe shorts, kurzarm-blouson, gummistiefel, alles in strahlendem weiss und nicht ganz alterskonform. einer trägt einen schafskopf, einer eine mit filzstiftfratze bemalte pappschachtel, einer hat eine regenhaube übergezogen, die er mit sprühflasche dauerbefeuchtet. oliver losehand, eher fortgeschrittenes semester, spielt sie alle: einen selbstmörder, einen ehemaligen bankräuber, einen taubstummen undundund. dieser weisse mann, das sind wir, die erwachsenen (m/w/seltener d), wie sie von einer jugendlichen wahrgenommen werden, manchmal ein bisschen und manchmal total weird. isa ist 14, aus einer psychiatrischen klinik ausgebüxt, unterwegs auf landstrassen und in wäldern, am tag und in der nacht, mit allen sinnen stolpert sie ins richtige leben. isa ist die protagonistin in wolfgang herrndorfs posthum veröffentlichtem romanfragment „bilder deiner grossen liebe“, das hannah nagel jetzt im ug des luzerner theaters inszeniert hat. und dies ausgesprochen subtil. ein klinikbett, ein schaukelpferd, eine waschmaschine, ein papagei und viel grünzeug stehen rum im tiefen raum, isas welt und isas traumwelt, dazu ein paar herrlich aufgeraute songs von zaho de sagazan und aleksandra sucur. traumwandlerisch bewegt sich amélie hug in genderfluiden schlabberklamotten durch die kurvenreiche geschichte (was ist verrückt? was ist normal?), immer wieder begegnet sie dem weissen mann – also uns! – und wundert sich, immer ist sie im zentrum, immer gönnt sie herrndorfs präziser, poetischer sprache viel platz und rhythmus, so erleben wir diese junge frau sympathisch und störrisch und schelmisch und stürmisch. am ende steht sie mit einer geklauten knarre in der hand an einem abgrund: „…..aber ich bin stärker.“ man muss sie einfach liebgewinnen, diese isa/amélie, weil sie uns so bezaubernd authentisch nahe bringt, wie verdammt anstrengend es ist, in dieser hochkomplexen welt erwachsen zu werden.