Montag, 7. März 2022

MÜNCHEN: ÜBER MENSCHEN

irgendwann küsst sie dann den dorfnazi mal auf die glatze – und erschrickt. sie erschrickt, weil sie realisiert, wie ihre gewissheiten allmählich zu bröckeln beginnen. dora ist eine erfolgreiche junge linke frau, die genug hat vom stress der grossstadt und während der ersten corona-welle von berlin in die brandenburgische pampa flieht („ein haus als hypothetischer notausgang aus dem eigenen leben“). hier leben sie und ihr hund jochen-der-rochen plötzlich unter menschen, die ihr vorher völlig fremd waren. „über menschen“ von juli zeh war der erfolgsroman der vergangenen saison, eine präzise beobachtung der sehnsucht nach einem anderen leben und besseren zeiten. intendant christian stückl hat den roman jetzt fürs münchner volkstheater adaptiert. stefan hageneier baute ihm dafür einen rundhorizont auf die bühne, der in deprimierendem gelb-grau die weite und die trostlosigkeit der provinz gleichermassen einfängt. eine surreale szenerie. und bracken, das abgehängte kaff, ist hier nichts als eine leicht erhöhte, schiefe ebene, wo sich alle begegnen. ein starkes bild: man ist sich sehr nah, man kann die anderen nicht einfach ausblenden, sie sind teil des eigenen lebens. maral keshavarz spielt die dora als sympathische, kritische neuzuzügerin, permanent pendelnd zwischen nähe und distanz. die autorin und der regisseur konfrontieren sie mit einem ganzen kabinett von aggressiven und schrulligen figuren; es sind menschen, die zwischen afd-klebern und horst-wessel-lied und veralberung von corona-regeln immer wieder liebenswürdige züge zeigen, hilfsbereit und mit herzerwärmenden macken. ihre überzeugungen gibt dora hier nicht auf, ihre vorurteile durchaus. schwarz-weiss war früher. den dorfnazi küsst sie dann aber doch kein zweites mal.    

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen