Montag, 14. März 2022

GENÈVE: DIE HUPPERT IM KIRSCHGARTEN

isabelle huppert live! die dame, man darf es anerkennend bemerken, wird bald 70 und ist nicht nur in ihren filmen immer noch ein ereignis, sondern auch im theater. knallgrüne hose, knallgelbe bluse, elegant geschnittener roter mantel, pechschwarze fingernägel, tänzelnder schritt – so betritt die huppert die breite, fast leere bühne der neuen comédie in genf als ljubow ranjewskaja, die verarmte gutsbesitzerin in tschechows „la cerisaie“. tiago rodrigues, der erste nicht-franzose, der chef des theaterfestivals von avignon wird, inszeniert diesen abschied von der alten welt zwischen baumelnden kronleuchtern und dutzenden von abgesessenen stühlen. wenn die huppert auf den kirschgarten blickt, der einst die perle des landguts und der stolz der sippe war, blickt sie ins leere, in den dunklen zuschauerraum. manchmal schmunzelt sie dabei leise in sich hinein, manchmal hat sie tränen in den augen, einmal fegt sie in ihren high heels einen wilden flamenco auf die bretter: erinnerungen werden wach, vor allem in den wortlosen szenen, wenn sie wie in einem traum zum stillen zentrum in einem herumwuselnden ensemble wird. es sind grosse, berührende momente, wenn diese frau, die den verkauf des geliebten landguts mit ihren angehäuften schulden selber provoziert hat, der vergangenheit nachtrauert und gleichzeitig die zukunft im auge hat, die völlig anders sein wird. das grosse verdienst von tiago rodrigues ist es, dass er alle anderen – familie, freunde, gäste, bedienstete – nicht zu blossen stichwortgebern für die diva degradiert, sondern höchst individuelle figuren zeichnet, die alle anders umgehen mit den unvermeidlichen veränderungen. ist es täuschung, dass wir kriegsgeräusche zu hören glauben, als der kirschgarten abgeholzt wird? dann wäre der grundton dieser inszenierung doppelt tröstlich: trotz verlorenen illusionen kräfte für einen aufbruch mobilisieren.

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