Freitag, 8. Februar 2013

MÜNCHEN: MIT JUDAS AUF AUGENHÖHE

er sitzt oben auf einer leiter, nackt, im dunkeln und mit dem rücken zum publikum. judas. steven scharf als judas. eine geschundene kreatur. wie geht einer damit um, dass er als verräter abgestempelt ist, dass alle mit fingern auf ihn zeigen? die holländische schriftstellerin lot vekemans holt diesen aussenseiter nach 2000 jahren ans licht und fasst in dem einstündigen monolog „judas“ seine position in worte. steven scharf formuliert sie in der inszenierung von johan simons an den münchner kammerspielen laut und – ab und zu verdreht er sich zum publikum – eindringlich. wäre das christentum ohne judaskuss zu einer weltreligion geworden? es ist kein plumpes buhlen um rehabilitierung, es sind differenzierte denkanstösse. die autorin, der regisseur und der schauspieler sind am menschen interessiert, nicht am unmenschen. und das publikum wird nicht ins parkett gesetzt, sondern ausschliesslich auf den balkon – damit es auf augenhöhe ist mit diesem judas auf seiner leiter, mit seinem differenzierten umgang mit schuld und scham. steven scharf spricht eine stunde lang ununterbrochen; sein judas ist einer, der nicht mehr lange überlegen muss, sondern längst weiss, was er sagen will. diese atemlosigkeit macht den dichten text noch dichter, und man wünscht sich immer wieder, dies und jenes in ruhe lesen und reflektieren zu können. was bleibt: eine sehr persönliche begegnung mit einem verletzten und verletzlichen mann. und seine überzeugung, dass die meisten menschen nicht aufgrund ihres glaubens handeln, sondern aufgrund ihrer zweifel.

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