Donnerstag, 24. November 2011

MÜNCHEN: HOTEL EUROPA

der holländische publizist geert mak reiste 1999 ein jahr lang quer durch europa, um auf das ablaufende jahrhundert zurückzublicken. seine bestandesaufnahme schlug sich tag für tag in einer notiz auf der titelseite des „nrc handelsblad“ nieder und wuchs sich später zu einem 800 seiten wuchtigen reportage-band aus. unter dem titel „hotel europa“ verwandeln die münchner kammerspiele diese reise durch die geschichte und die geschichten des 20.jahrhunderts jetzt in einen lese-marathon, jeden monat ein abend, jeden monat ein jahrzehnt. die sitzreihen im parkett sind ausgebaut, das publikum sitzt an langen weiss gedeckten tischen, wasserkaraffen, rotwein, auch tischlämpchen und kronleuchter fehlen nicht: der salon des „hotel europa“. auf der bühne zwölf schauspielerinnen und schauspieler und vier musiker, die geert maks reportagen nicht einfach vorlesen, sondern vertonen, rhythmisieren, personalisieren, konkretisieren und mit literatur aus der jeweiligen epoche anreichern – gestern abend (1914-18) beispielsweise mit texten von harold nicholson, stefan zweig, käthe kollwitz und adolf hitler. man sitzt in diesem salon und wird zum zeugen einer inspektion dieses kontinents, der immer wieder verwundet wurde und immer wieder gescheitert ist, dieses kontinents, wo grenzen immer wichtiger waren als gemeinsamkeiten und der abgrund häufig näher als die hoffnung. ein lese-abend, dem man gebannt folgt – ausgerechnet an dem tag, wo sich der eu-kommissionspräsident und die deutsche kanzlerin wegen den euro-bonds gefährlich in die haare geraten. es ist, einmal mehr,vorbei mit der behaglichkeit im hotel europa. so nah, so erfreulich und so erschreckend nah kann theater an der realität sein.

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