Samstag, 31. August 2024

LUZERN: GIACOMO VARDEU

lucerne festival im kkl, vegan food festival auf dem inseli, pride zentralschweiz am nationalquai, theaterfest auf dem theaterplatz, strassenmusikfestival all around the city – noch was vergessen? alle beklagen den over-tourism, aber man müsste auch mal über over-eventing reden, zu deutsch: die über-bespassung. einerseits. andererseits: was gibt es schöneres als eine kleine provinzstadt, wo hinter jeder ecke musik lauert? wo man zwischen einkauf in den gassen und apero am see den tollsten musikstars begegnet, aktuellen und künftigen? giacomo vardeu zum beispiel. im programm zum strassenmusik-event des lucerne festivals wird der 18jährige organetto-spieler aus orosei in sardinien quasi als sidekick des mandoloncello-„altmeisters“ mauro palmas angekündigt. von sidekick keine spur: wohl sechs jahrzehnte trennen die beiden zwar altersmässig, doch sie spielen wie kumpels seit ewig, kommunizieren noch zu den teuflischsten tempi liebevoll per mimik und ja, spielen absolut auf augenhöhe – eine generationenübergreifende freundschaft. grossartig, wie altmeister mauro es gelassen hinnimmt, dass jungstar giacomo das publikum voll auf seiner seite hat. mit seiner kleinen harmonika spielt der sich wie in trance, kostet die melancholischen melodien genau so aus wie die höllisch schnellen passagen, alles mit virtuosester fingerfertigkeit. und irgendwann beginnt der junge kerl auch noch zu singen, ganz hoch und ganz tief: den charakteristischen obertongesang der sarden hat er ebenso drauf wie das tiefe, vom blöken der schafe inspirierte gurgeln und grummeln. das ist volksmusik und jazzfestival montreux in einem. wer diesen giacomo vardeu gehört hat, versteht sofort, weshalb es mich immer wieder nach sardinien zieht.

Montag, 26. August 2024

LUZERN: IDOMENEO

kriege, naturkatastrophen und ein alter könig, der unter druck jüngeren weichen muss (der biden-moment!) – alles drin in mozarts „idomeneo“. temperamentvoll, präzis, geradezu elektrisierend dirigiert jonathan bloxham das luzerner sinfonieorchester durch die stürme auf dem meer zwischen troja und kreta und die stürme in den herzen der menschen, die mozarts musik so plastisch zeichnet. auf der bühne ein erstklassiges solistinnenensemble, allen voran tania lorenzo castro als kriegsgefangene prinzessin ilia, völlig aufgewühlt zwischen der sehnsucht nach ihrer heimat und ihrer zuneigung zum feindlichen herrscher, und eyrún unnarsdóttir als vor rache rasende, beilschwingende elektra. ein musikalisches feuerwerk. der kampf dieser menschen um gerechtigkeit hat regisseurin anika rutkofsky an den ballhausschwur zu beginn der französischen revolution erinnert, weshalb sie die alten griechen kurzerhand in einen ballsaal in versailles um 1789 beamt. diese szenische umsetzung ist ein, gelinde gesagt, ärgerlicher rückgriff in eine längst überholte opernästhetik: die kulissenschreiner und -maler durften wieder einmal ein pseudorealistisches sperrholz-bühnenbild wie anno dunnemals basteln, dazu gibt´s eine hoffnungslos überfrachtete kostümorgie, wohl aus dem geplünderten fundus, das volk sieht man in den zahlreichen chorszenen wahlweise händeringend oder debil torkelnd (wie „les misérables“, nur schlechter) und idomeneo trägt zur krone auch mal eine signalrote trump-krawatte und mal einen selenski-overall, huch, wie originell. mozarts utopie von einer besseren welt wird von der flut der ideen und bilder zugedröhnt, die zeiten geraten zunehmend durcheinander, die einen blicken im rokoko-kostüm nach vorn, die anderen blicken im nerd-t-shirt zurück – und wir blicken angesichts dieser nicht mehr ganz taufrischen ideen immer mal wieder auf die uhr. man kann nur hoffen, dass der operndirektion auf dem weg zu einem neuen luzerner theater keine weitere derartige entgleisung passiert wie diese peinlich altbackene inszenierung. innovation geht anders.

Freitag, 23. August 2024

ZÜRICH: GLORIA, THE RIGHT TO BE DESPERATE

haben wir nicht auch das recht, einfach verzweifelt zu sein? ziemlich provokativ kreist diese frage über der neuen (englischsprachigen) produktion, die das theater neumarkt im rahmen des zürcher theaterspektakels zeigt. soll, kann, muss alles wegtherapiert werden? „gloria, the right to be desperate“ beschäftigt sich mit dem therapiewahn der heutigen gesellschaft und mit unserer voyeuristischen lust, uns via reality-shows an den krisen und therapien anderer zu ergötzen. ziemlich ambitiös für eineinhalb stunden. die polnische regisseurin gosia wdowik nimmt die „gloria“-filme (1965) als ausgangspunkt: eine geschiedene frau, in der zwickmühle zwischen ihren äusseren bedürfnissen und ihren inneren standards, liess sich in drei therapiesitzungen filmen – und was bloss als anschauungsmaterial für psychologiestudenten gedacht war, geriet in die kinos (usa halt!!), was die verzweiflung der frau klar potenzierte. der erste teil von wdowiks inszenierung ist das reenactment einer dieser therapiesessionen, mit einer wunderbar differenzierten sofia elena borsani als gloria. im zweiten teil bewegen sich zwei sprechende steine über eine abstrakte, dunkle insel (vielleicht die zwei seelen in glorias brust), ein absurd-witziger annäherungsversuch inmitten von erdlöchern und pflanzen und auf einem sphärischen klangteppich: „ich höre deinen gedanken zu.“ im dritten teil beobachten wir izabella dudziak beim versuch, auch vor publikum authentisch und empathisch zu sein, ein höchst behutsames spiel zwischen verletzlichkeit und verlegenheit. alles in allem: viele inputs, irritationen, fragen, zeit zum nachdenken – und futter für reichlich gespräche. und letztlich ist der abend vor allem ein plädoyer, ob all der selbstbeschäftigung und selbstoptimierung die anderen nicht zu vernachlässigen, dem individuellen bewusstsein nicht das kollektive zu opfern.

Donnerstag, 22. August 2024

CHICAGO: DER LAUBBLÄSER

 den muss man sich merken:
"trump ist wie ein nachbar, der seinen laubbläser 24 stunden am tag laufen lässt."
volltreffer von barack obama, bei seiner rede für kamala harris beim parteitag der us-demokraten.

Mittwoch, 21. August 2024

MARTIGNY: SUR LES TRACES DE TINTIN

tim und struppi, da hängen die beiden also, neben all den cézannes und renoirs, für die die meisten nach martigny pilgern. tim und struppi in der renommierten fondation gianadda? das ist – auch wenn man hergé, dem schöpfer der beiden, und seiner nicht ganz sauberen einstellung zu anderen kulturen und systemen aus heutiger sicht kritisch begegnen muss – eine wirklich hübsche geschichte. léonard gianadda, der 1935 geborene gründer der fondation, war seit frühester kindheit ein absoluter tim-und-struppi-fan („tintinophile“ heisst das im französischen). in den fünfziger- und sechzigerjahren reiste er als fotoreporter um die welt, exotische länder, fremde kulturen, spannende menschen überall, doch tintin, seinen helden, verlor er nie ganz aus den augen. auf dem roten platz in moskau, auf der „queen elizabeth“, in der jordanischen wüste, auf dem markt in zagreb – immer wieder schoss gianadda mit seiner rolleiflex und seiner leica schwarz-weiss-bilder, die szenen aus den „aventures de tintin“ teilweise aufs haar glichen. oft sieht man ihn an der stelle seines kleinen reporter-vorbilds. „sur les traces de tintin“ (auf den spuren…..) heisst die sympathische kleine schau in martigny, die hergés zeichnungen und gianaddas bilder jetzt zusammenbringt, wohl vier dutzend, immer paarweise, ein optischer dialog. das ist ein riesiges vergnügen, für tim-und-struppi-freaks ebenso wie für freundinnen und freunde exquisiter fotoreportagen. interessant übrigens, dass sich léonard gianadda mit 88 nicht mehr erinnern konnte, ob er diese bilder auf seinen ausgedehnten reisen damals ganz gezielt schoss oder ob da das unterbewusstsein mitspielte. beides denkbar, daran erkennt man den wahren tintinophilen.