Freitag, 1. Oktober 2021

MÜNCHEN: DAS LAND METAXY

gegen die buchstabengläubigkeit! die münchner kammerspiele hätten schon viel über olga tokarczuk nachgedacht, sagt chefdramaturgin viola hasselberg, als sie die polnische literaturnobelpreisträgerin vorstellt, „über ihre art zu erzählen, ihre art, vergessenen und uneindeutigen stimmen raum zu geben“. programmatisch also, dass die kammerspiele auf ihrem saisonprospekt „das land metaxy“ von tokarczuk vorabdruckten, einen klugen aufsatz über das wechselspiel von phantasie, magie, glaube und vernunft, ein votum für das „zwischen“ (metaxy) – und entschieden gegen eine übertriebene buchstabengläubigkeit. in dem text, der sich jetzt ausführlich in ihrem neuen buch „übungen im fremdsein“ findet, analysiert tokarczuk, dass „die tendenz einer das denken begrenzenden wörtlichkeit“ zur ernsthaften krankheit unserer zeit geworden sei: „ihr erstes symptom ist die unfähigkeit, metaphern zu verstehen, gefolgt von einem verlust des sinns für humor. dem gesellt sich eine neigung zu harschen, voreiligen urteilen hinzu, eine intoleranz gegenüber uneindeutigem, ein verlust der sensibilität für ironie, und alles zusammen führt schliesslich zu einer rückkehr des dogmatismus und fundamentalismus. (…) die wörtlichkeit zerstört das gespür für das schöne und sinnhafte, weshalb sie auch keine tiefgründige vision der welt hervorbringen kann. ihre grössten sünden sind die intoleranz und ihr drang, alles, was von einer irgendwann und irgendwo gesetzten norm abweicht, als moralisch falsch und verwerflich zu brandmarken, ja, als strafbar anzusehen.“

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