Freitag, 22. Oktober 2021

LUZERN: KING LEAR

die drei töchter lears ziehen behutsam fünf männerleichen über die bühne, die frauen schwarz gekleidet, die männer auch, alle tragen schwarze schleier über dem gesicht, der boden schwarz, die wände schwarz und über allem schwebt bedrohlich ein riesiger schwarzer felsklotz. das fluoreszierende orange von könig lears krone ist die einzige farbe in dieser düsteren welt. es ist eine spielzeugkrone aus papier. heike m. goetze entwickelt immer wieder frappante bilder, die sich nachhaltig festhaken. nur reicht das leider nicht. als hätten wir in den vergangenen monaten nicht ausreichend verhüllte gesichter gesehen, tragen ausser lear alle ihre gesichtsschleier die ganzen zwei stunden, weshalb man erstens oft nicht mitbekommt, wer jetzt mit wem kommuniziert, was shakespeares eh schon komplexem intrigen-setting nicht förderlich ist, weshalb zweitens die süffige neuübersetzung von miroslava svolikova („nutzloser alter pimmelzwerg“) nie richtig süffig werden kann und man drittens das neue ensemble nicht sieht und also nicht wirklich kennenlernt, ziemlich mutig. lears lieblingstochter cordelia spricht portugiesisch, sein vertrauter gloster wie eine trickfilmfigur, der sturm auf der heide, wo wahnsinn den alten könig umschleicht, wird total verschenkt – und immer fragt man sich: warum? daniel nerlichs lear schiebt sich im rollstuhl durch die wüste szene, nuschelnd auf der hinterbühne, brüllend an der rampe. erst gegen ende, mit zunehmender verzweiflung über die verhältnisse und die eigene ohnmacht, gewinnt sein darstellerisches spektrum an differenziertheit. „könig lear“ ist eine grandiose studie über die abgründe menschlicher bindungen, wo die verschlagenheit einzelner den ganzen kosmos in aufruhr versetzt. im luzerner theater wird daraus ein anstrengender abend, sehr anstrengend.

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