Donnerstag, 7. Oktober 2021

VIGNOLA: DIE ERFINDUNG DES UNGEHORSAMS

draussen rauscht das meer. die wassertemperatur wäre ideal, doch der wind und die wucht der wellen machen momentan alle schwimmgelüste zunichte. also lesen, viel lesen. es ist schon so, dass meine intensive beschäftigung mit dem werk von olga tokarczuk in den vergangenen zwei jahren das bedürfnis geweckt hat, auch den schweizer autorinnen vermehrt beachtung zu schenken, früheren und aktuellen. das führte zu einer langen, immer wieder überraschenden entdeckungsreise: "tessiner erzählungen" von aline valangin (limmat), "aus der zuckerfabrik" von dorothee elmiger (hanser), "späte gäste" von gertrud leutenegger (suhrkamp), "chiara cantante e altre capraie", für das doris femminis im vergangenen jahr mit dem schweizer buchpreis ausgezeichnet wurde (pentàgora), und jetzt als höhepunkt "die erfindung des ungehorsams" von martina clavadetscher (unionsverlag). die einen erzählen traditionell, andere experimentieren mit inhalt und form und der erwartungshaltung des publikums, allen gemeinsam ist eine äusserst präzise sprache jenseits aller geschwätzigkeit, die mit knappen worten intensivste bilder und stimmungen entstehen lässt. beispielhaft die sequenz bei clavadetscher, wo eine junge chinesin den leichnam ihrer grossmutter für die bestattung bereit macht: "sie wäscht das furchige gesicht, die schlaffen falten, streicht über die geschlossenen augen, sie tut es vorsichtig, als läge bloss etwas schlummerndes vor ihr, das sie nicht aufwecken will. dann zieht sie den kühlen lappen über den ebenso kühlen leib, ein verlebter leib, bräunlich und rau, als sei das leben über die jahrzehnte daran hängen geblieben. sie säubert die narben, kerben und blutergüsse, da sind flecken wie sprenkel oder verschüttetes, gesammelte eindrücke, die ihr das hohe alter tief ins fleisch gedrückt hat."
#readmorewomen - sie haben es verdient, diese frauen.

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