Montag, 20. September 2021

MÜNCHEN: EFFINGERS

gabriele tergit war gerichtsreporterin. so eine hat oder kriegt ein scharfes auge. für typen, für milieus, für bruchlinien, für verwerfungen. den beweis trat tergit mit ihrem grossen roman „effingers“ (1951) an, einer familiensaga über drei generationen, von der industrialisierung über den ersten weltkrieg und die spanische grippe bis zum nationalsozialismus. die münchner kammerspiele machen es sich unter barbara mundel zur aufgabe, vergessene frauen und ihre vergessenen werke ans licht zu holen. in seiner inszenierung drappiert jan bosse diese „effingers“ immer wieder zu statischen familienfotos, aus denen er dann – mit einem wundervollen 12köpfigen ensemble – lebenspralle tableaux vivants entwickelt, die tergits sorgfältig gearbeiteten figuren mit all ihren widersprüchen und nöten über drei stunden viel raum geben: die euphorie der jungen unternehmer für gasmotoren und luftdroschken, die begeisterung für den russischen sozialismus, der kampf gegen eine pandemie und für emanzipation, die herabwürdigung andersdenkender. so sehr diese menschen in witzig-historisierenden kostümen von kathrin plath ihren jahrzehnten zugeordnet sind, so sehr wird auch deutlich, wie wiederkehrend zeitlos dieses ringen um ideen und ideologien ist. im eleganten hellbeigen anzug kommt andré jung als jüdischer onkel waldemar zum schluss an die rampe und ruft den anderen zu: „die zeiten sind grauenvoll. wir trinken darauf, dass wir sie überstehen werden.“ doch die anderen sind nicht mehr da, die grosse bühne ist leer, nur ein paar stühle aus dem familienbesitz liegen herum und ein paar scheinwerfer brennen noch. onkel waldemar, einsam und schwankend zwischen aufmunterung und zynismus – ein starkes bild nach einem starken abend.

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