Samstag, 16. November 2024

MÜNCHEN: LICHTSPIEL

da steht er. weit, weit hinten auf der bühne des münchner volkstheaters und ganz in rotes licht getaucht. er, der reichspropagandaminister. mit eisig-schmieriger stimme begrüsst jan meeno jürgens als goebbels seinen gast und hält ihn auf distanz, 20 meter mindestens, so demonstriert man macht. der gast vorne an der rampe ist filmregisseur g.w. pabst, einst bekannt als „der rote pabst“, kommunisten und juden nicht abgeneigt. und jetzt soll er also filme für die nazis drehen. regisseur christian stückl lässt dieser zentralen szene viel raum: wie goebbels pabst zu einer entschuldigung für sein früheres schaffen nötigt, wie er droht, ein wenig, dann immer mehr, schliesslich mit dem kz, falls der gast nicht spuren sollte. pabst hält das alles für ein missverständnis, obwohl er sich mit seiner freiwilligen rückkehr aus den usa selber in die situation manövriert hat – und knickt schliesslich ein, bis zum finalen hitlergruss mit dem herrn minister. das würgt. der roman „lichtspiel“ von daniel kehlmann war vor einem jahr ein bestseller, ein pralles panorama, das mit dem echten pabst recht frei umspringt: die unfreiwillige zusammenarbeit mit leni riefenstahl, die affäre mit der diva louise brooks, eine am faschismus verzweifelnde gattin und ein sohn, der plötzlich als begeisterter hitlerjunge vor der türe steht. nicht alles gelingt in stückls umsetzung so konzentriert, so dicht wie die goebbels-szene. silas breiding als pabst wird eindimensional karrieregeil angelegt, viele dialoge an der rampe geraten zu erklärstücken und werden mit alten filmsequenzen schulbuchhaft illustriert. was bleibt, ist ein leben zwischen falschen entscheidungen und faulen kompromissen. obwohl sich die inszenierung konsequent in der vergangenheit bewegt, stellt sie immer wieder die zunehmend aktuelle frage: wo liegt die verantwortung jeder und jedes einzelnen, wenn das grosse ganze abzudriften beginnt?

Donnerstag, 14. November 2024

MÜNCHEN: MOZART! - DAS MUSICAL

mozart in weissen tennisshorts, darüber ein pinker glittermantel. auf der bühne das gerüst einer musikarena mit einer giftgrünen drehscheibe im zentrum. das musical „mozart!“ beamt die biografie des grossen komponisten, der zeitlebens zwischen genie und ewigem kind pendelte, ins heute: mozart als popstar. ein steilpass für die studierenden der bayerischen theaterakademie, in den hauptrollen die sieben vom master-studiengang musical. die können was, die füllen selbst eine so riesige bühne wie die des prinzregententheaters mit höchster professionalität, stimmlich, darstellerisch, tänzerisch. sie schiessen selfies mit wolfgang amadeus, sie kicken mit sitzballgrossen mozartkugeln, jagen die ganze „zauberflöte“ pantomimisch in eineinhalb minuten durch, singen sich durchs wabernde trockeneis und tanzen sich in den bühnenhimmel, das hat schwung, das hat power, das macht spass. die geschichte vom ausnahmetalent, das sich aus den klauen des vaters und von förderern freischwimmen muss, ist dann berührend, wenn mozart als kleine stabpuppe ganz bei sich und den drei famosen mozart-darstellern zu sein scheint, sie kippt allerdings immer wieder, klischee und kitsch kiloweise und alles in süffigem sound ertränkt. so also stellen sich vier angejahrte herren die wilde jugend vor, komponist sylvester levay und texter michael kunze vor 25 jahren, als der pop-rock-mozart seine uraufführung erlebte, und dirigent andreas kowalewitz und regisseur andreas gergen im november 2024. nun ja. emanuel schikaneder, der umtriebige librettist der „zauberflöte“, gibt in „mozart!“ ungefragt immer wieder das rezept durch, mit dem kasse zu machen ist: „a bisserl fürs hirn, a bisserl fürs herz, a bisserl krawall und spektakel.“ so ist es. von allem a bisserl. nicht mehr und nicht weniger. und das publikum kreischt und johlt.

Dienstag, 5. November 2024

LUZERN: DER KLEINE LORD

138 jahre alt ist die geschichte – und die kinder fiebern mit, als hätte sie sich gestern in der nachbarschaft ereignet: da wird ein siebenjähriger aus seiner umgebung in den hinterhöfen new yorks, wo er mit seiner mutter und guten kumpels zufrieden lebt, einfach herausgerissen und nach england verfrachtet, weil sich herausstellt, dass er der alleinerbe eines englischen grafen ist und dieser, sein garstiger grossvater, ihn unbedingt bei sich haben will. „der kleine lord“ von frances burnett, das diesjährige kinderstück des luzerner theaters, bietet das volle programm: einen loop von der unter- in die oberschicht, anderes land, andere menschen, andere sitten. amélie hug spielt diesen cedric als aufgeweckten, quirligen kerl, ein platinblonder strubelkopf, der noch aus der unerfreulichsten situation das beste macht, sowohl als strassenjunge wie als kleiner lord, eine prima lektion in sachen flexibilität. mit seiner unerschrockenheit und menschenfreundlichkeit hat cedric das junge publikum subito im sack – und zunehmend dann auch den grossvater (christian baumbach), für den es üppigen szenenapplaus gibt, als er sein hartes herz mal beiseite lässt. carolin mittler zaubert viel stimmung auf die bühne, mit schummrigen gassen in new york und einem witzigen giftgrünen salon in england, und darin inszeniert brigitte dethier die geschichte höchst amüsant und temporeich, bisschen grusel mit fledermäusen und sternschnuppen, bisschen krimi, bisschen klamauk, bisschen kitsch. und das alles ist nur die verpackung für cedrics durchaus weihnächtliche botschaft, dass freundschaft doch einfach mehr zählt als geld und geschenke: „we´ll be standing side by side, together we shall be“, singen sie beim finale vereint auf der bühne. ob das frühenglisch im jungen publikum dafür reicht? der begeisterte applaus beweist, dass sie´s verstanden haben, so oder so. 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

MÜNCHEN: CHORA

was die wieder hingekriegt haben: rund 30 studierende der bayerischen theaterakademie füllen die nüchterne betonhalle im untergeschoss des ägyptischen museums in münchen auf faszinierende weise mit gesang, texten, choreografie, videos, installationen – man ist vom ersten moment weg gebannt. auf einer weissen scheibe im zentrum befindet sich eine art endzeitlabor mit einem hochdruckkessel, aus dem es gefährlich brodelt und dampft, ein paar verdorrte bäume wandeln durch den grossen raum, im halbdunkel wird eine leiche präpariert. „chora“ ist das ergebnis eines spartenübergreifenden suchprozesses unter der leitung von balázs kovalik (inszenierung) und johannes schachtner (musikalische leitung) und beschäftigt sich assoziativ mit dem dazwischen, dem raum zwischen leben und tod, der vergänglichkeit und dem verschwinden der liebe. das publikum bewegt sich zwischen den darstellenden wie in einer ausstellung, mal geht da ein spot an, mal dort, man bleibt stehen, man schaut, man geht weiter. eine mutter befragt das kind in ihrem bauch, vielversprechende junge stimmen und das brillante kammerensemble „der gelbe klang“ lassen musik von monteverdi bis schönberg anklingen, sprechchöre rezitieren dystopische texte von thomas köck. man versteht in der hallenden halle nicht alles, muss man auch nicht, denn am besten lässt man sich einfach einlullen von diesen ton- und textfragmenten und einladen zu einer reise in die eigenen erinnerungen und phantasien. „kommst du bald?“ wird immer wieder gefragt. zu mir? ins jenseits? in die vergessenheit? „es gibt kein verschwinden“, ruft einer, etwas bleibt immer. „chora“ ist ein gesamtkunstwerk, musikalisch, poetisch, enigmatisch – und voll junger energie.  

Freitag, 25. Oktober 2024

LUZERN: BEYOND

eine baumkrone im nirgendwo, keine blätter mehr, nur plastikmüll hat sich darin verfangen. sonst alles dunkel, alles leer. „beyond“ heisst der neue tanzabend am luzerner theater. beyond? jenseits des grossen krieges? jenseits des klimakollapses? jenseits unseres vorstellungsvermögens? in der choreografie des singapurer künstlers swee boon kuik hat die menschheit den super-gau knapp überlebt: ein haufen versehrter kreaturen robbt sich sachte zurück ins leben, wir blicken auf ein existenzielles drama. immer knistert oder kracht es irgendwo, doch sie geben nicht auf, suchen festen boden, suchen halt bei den anderen. das ist es, was swee boon kuik interessiert: mit der kraft der körper und des körperkontakts krisen zu meistern. hier wird resilienz ausgesprochen bildhaft dargestellt. das ist mehr als tanz, das sind bewegte und bewegende körperskulpturen, ein eindrückliches wechselspiel zwischen solidarität, synchronität und individualität. der zweite teil des abends nimmt die thematik nahtlos auf: weil digitalisierung und rastlosigkeit zu einem verlust an menschlichen kontakten geführt haben, weniger handschläge, weniger umarmungen, weniger empathie, will die us-choreografin andrea miller ein radikales kontrastprogramm liefern. in warme rot- und orangetöne getaucht bieten die fünf tänzerinnen und fünf tänzer des luzerner ensembles körperliche erfahrungen, wie man sie in dieser fülle und vielfalt selten gesehen hat, ein überbordender tänzerischer rausch, mal solistisch, oft zu zweit, immer wieder im körpergewusel. das ist grossstadthektik, das ist bodybuilding, folklore, akrobatik, kamikaze, voodoo – und vor allem: power, power, power. das publikum reagiert begeistert, standing ovation.