Montag, 31. März 2025

BERN: GÖTTERDÄMMERUNG

dieser mann ist eine warnung: nackt und blutverschmiert steht der tänzer rafał matusiak in einer glasvitrine, brutal ausgestellt auf der sonst leeren bühne des berner theaters. so also kann enden, wer nach macht und geld giert. der junge mann hatte zuvor eine unter die haut gehende performance hingelegt, als doppelgänger exzessiv das ganz und gar durcheinander geratene innenleben von siegfried illustrierend, dem tragischen helden in richard wagners vierteiligem epos „der ring des nibelungen“. der eine singt und wird gemeuchelt, der andere tanzt dazu ums leben und endet auch im blut. wie schon in den ersten drei teilen arbeiten regisseurin ewelina marciniak und choreograf mikołaj karczewski auch in der abschliessenden „götterdämmerung“ mit diesen verdoppelungen; wagners fünfstündiges opernmonstrum wird so, vor allem in den epischen zwischenspielen, auch zum tanztheater, zeitgenössisch und energiegeladen. dieser ansatz funktioniert auch deshalb hervorragend, weil die inszenierung das mythische personal und den fluch des ringes aus dem rhein, von dem sich alle gold und glück und grösse versprechen, ins heute beamt: eine orientierungslose jugend in einer orientierungslosen welt, naive influencerinnen und üble strippenzieher, die mit bewusstseinserweiternden drogen arbeiten, wagner hätte seine freude – zumal das berner symphonieorchester unter nicholas carter mittlerweile zu einem satt-süffigen wagner-klang gefunden hat. das absolute zentrum der inszenierung ist claude eichenberger als brünnhilde: die mezzosopranistin gestaltet die kräftezehrende sopranpartie mit glühender, unerschöpflicher leidenschaft. diese brünnhilde ist eine moderne frau in lack und leder, selbstbewusst und doch verletzlich, die wie niemand sonst das übermass an intrigen durchschaut – und, konsequent und selbstbestimmt, den freitod wählt. marciniaks berner „ring“ ist nicht zuletzt durch die aufwertung vieler frauenfiguren ein grosser wurf geworden. man wird sich lang und gern daran erinnern.

Freitag, 28. März 2025

HAMBURG: UBU

was soll man sagen? „so viel wahnsinn war noch nie“ betitelt das „hamburger abendblatt“ heute seinen kommentar zu trumps neusten zoll-drohungen. was soll man sagen? am vorabend im thalia theater „ubu“ gesehen, auch viel wahnsinn, sehr viel wahnsinn: die geschichte eines spiessbürgerlichen, inkompetenten, intellektuell unterdotierten egomanen, der - zack-zack - zum irren tyrannen wird. johan simons packt die drei stücke über könig ubu, die alfred jarry vor über hundert jahren schrieb und die als ursprung allen absurden theaters gelten, in einen einzigen kompakt-aberwitzigen abend und dies mit crossgender-starbesetzung: marina galic als ubu, ihr mann jens harzer als ubus frau, eine art lady macbeth von der ganz üblen sorte. die beiden geben alles, in höllischem tempo, sie überzeichnen, was das zeug hält, verändern gesetze, verhöhnen beamte, quälen alle mit irrationalen steuern, saufen blut, streicheln einen bären, spielen mit verkoteten wc-bürsten – alles ganz so wie alfred jarry es haben wollte: kasperlitheater voll abartig, ein frontaler anschlag aufs klassische drama, der totale dada-quatsch mit dämonischen zügen. und was soll man sagen? der ganze schrecken verpufft irgendwie, die reinigende wirkung, die übertreibung ja durchaus haben kann, bleibt aus. es ist eine enttäuschung der anderen art: man sitzt da, erschüttert vom gedanken, wie prophetisch dieser jarry die welt sah, erschüttert vom gedanken, dass dieses stück als spiegel der zustände nicht (mehr) funktioniert, weil die realen zustände die wilde phantasie längst überholt haben. die grossen irren in washington und moskau und ankara stellen herrn und frau ubu kalt in den schatten. das will was heissen. so viel wahnsinn war in der tat noch nie.

Donnerstag, 27. März 2025

HAMBURG: LA FANCIULLA DEL WEST

"für eine handvoll dollar" von sergio leone (1964) war nicht der erste italowestern. nein, den schuf giacomo puccini bereits 1910 mit seiner oper "la fanciulla del west". kein wunder, dass das publikum bei der uraufführung an der met in new york begeistert war, den amis zuliebe hatte puccini sogar ein happy end komponiert statt einen tragischen schluss wie sonst immer. minnie ist die gute seele im saloon "la polka", die ideale projektionsfigur für sämtliche männer, alle lieben minnie, vor allem der sheriff, doch sie liebt den falschen, einen gangster. trivial, aber effektvoll. an der staatsoper hamburg haben vincent boussard (regie) und vincent lemaire (bühne) daraus ganz grosses kino gemacht: goldgräberstimmung und gefühlsturbulenzen im grossformat. die inszenierung ist schon 10 jahre alt, die originalbesetzung längst entschwunden, doch wie die genretypischen motive und klischees lustvoll umspielt und weitergedacht werden, das hat's in sich, nach wie vor. zumal der kurzfristig eingesprungene dirigent francesco ivan ciampa mit dem philharmonischen staatsorchester den perfekten soundtrack liefert, dramatische aufwallungen und subtile nuancen. das schafft viel platz für sorgfältige charakterisierung der vielen figuren, für die fragilen seiten der harten jungs. im zentrum aber natürlich anna pirozzi, ein sopran mit viel strahlkraft, eine minnie mit gutem gespür für die spiele und nöte all der männer, dafür unsicher bei der suche nach sich selber. stimmgewaltig auch gregory kunde als gangster ramerrez, mit 71 aber doch recht angejahrt als liebhaber. caruso, der die rolle bei der uraufführung sang, war damals 37.

Dienstag, 25. März 2025

LUZERN/MÜNCHEN/HAMBURG: THEATER DER ZUKUNFT

wer geht denn in 20 jahren noch ins theater? wo führt das hin, wenn das opernpublikum schon heute deutlich ü60 ist? diese fragen waren auch im vorfeld der volksabstimmung zum luzerner theater immer wieder zu hören – und sie haben durchaus ihre berechtigung. theater? zukunft? passt das zusammen? die „süddeutsche zeitung“ stellte diese frage jetzt tobias kratzer, einem der aktuell gefragtesten opernregisseure und ab sommer intendant der staatsoper in hamburg. „konkret kann ich sagen, dass ich nicht glaube, dass die zukunft darin besteht, die 20 bis 40 immergleichen stücke jedes jahr neu durch den interpretationswolf zu drehen.“ sondern? „es geht darum, das repertoire zu erweitern, vor allem auch durch stücke, die es noch gar nicht gibt, also werke in auftrag zu geben.“ kratzer wird zum start in hamburg ein neues werk von elfriede jelinek und olga neuwirth inszenieren („monster’s paradise“, das plakat zeigt ein rosa ungeheuer auf dem weissen haus), es gibt „stockhausen für kinder“ undundund. ja, das theater wird sich verändern, es muss sich verändern, neue themen, neue töne, neue geschichten. innerhalb von zwei monaten bin ich jetzt gleich mehrfach eingetaucht in zeitgenössisches musiktheater: „echo 72“ in hannover, „il prigioniero“ (requiem für einen gefangenen) in luzern, „written on skin“ in münchen. das ist alles keine musik, die man beim kochen mitpfeifen kann, das ist hochkomplex, sperrig, eine herausforderung für mitwirkende und publikum – und oft begreift man die musik erst durch die bilder und szenen, die dazu erfunden werden. dann aber sind diese werke, wenn man sich darauf einlässt, von einer bezwingenden intensität und dringlichkeit. so bleibt theater ein spiegel der zeit, so bleibt theater relevant. deshalb schaue ich mir „written on skin“ von der bayerischen theaterakademie heute gleich noch ein zweites mal an. hier schlägt der puls der zukunft.