sie sprechen in hashtags und in einem
höllentempo – und eigentlich müssten sie für alle ü50 untertitelt werden,
vielleicht sogar für alle ü30: auf den catwalk, der von der bühne des zürcher
schauspielhauses in den zuschauerraum ragt, schmeissen zwei girls und ein boy
vom jungen theater basel eine rasante performance, perfekt choreografiert,
zwischen slam und slang pendelnd und ganz in weiss sind sie models, fashion
victims und trendblogger in einem. die autoren güzin kar und lucien haug und
regisseur sebastian nübling liessen sich von der norwegischen webserie „sweatshop
– deadly fashion“ zu einem kurzweilig-kritischen abend über den modeirrsinn
inspirieren. das hat drive und politischen zündstoff. die fakten werden nicht
wikipediamässig heruntergebetet, sondern von einem bleichen blonden
mädchen-monster wie giftpfeile abgeschossen, fakten als vorwürfe: „von einem
t-shirt, das bei uns 30 franken kostet, bekommt die näherin 18 rappen.“ sie
wiederholt es immer wieder und immer giftiger. die erkundungen der drei basler
jugendlichen in der welt der fast fashion geraten zunehmend zu einem horrortrip
zwischen it-girls und gorillas, wo die slogans der coolen labels plötzlich
nicht mehr nach selbstverwirklichung und paradies klingen, sondern zunehmend
bedrohlich: die homo-zalando-show wird unvermittelt zum werbespot für die
konzernverantwortungsinitiative. das ende ganz still, fast intim: eine junge
vietnamesin, die als kind von schweizern adoptiert wurde und an der goldküste
lebt, sitzt an einer nähmaschine und berichtet vom besuch bei ihrer schwester,
die sie erst spät kennenlernte und die in der heimat als näherin arbeitet,
unter übelsten bedingungen. das ist kein theater mehr, das ist echt. im
publikum sehr viele jugendliche; sie werden auch heute wieder kleider kaufen,
sie werden sie mit anderen augen kaufen.
Mittwoch, 23. Mai 2018
Sonntag, 20. Mai 2018
ALT ST. JOHANN: NATURSTIMMEN
zirpen,
schnarren, pfeifen, glucksen, zischen – junge menschen in schweizer trachten
schreiten von hinten durch die bis auf den letzten platz gefüllte kirche von
alt st. johann und zaubern mit ihren stimmen feine, ferne naturgeräusche in
den grossen, stillen raum. man schliesst die augen und sogleich startet das
kino im kopf: wälder, moore, weite. über diese geräuschkulisse legt maari
kallberg mit ihrem ausdrucksstarken mezzo melancholische tonfolgen aus
karelien, der grenzregion zwischen finnland und russland. gänsehaut. wir sind
am klangfestival naturstimmen im toggenburg, das archaische weisen aus der
ganzen welt präsentieren und kombinieren will – und einen passenderen einstieg
in diese oberton-olympiade kann man sich nicht vorstellen. neben dem jugendchor
jutz.ch (jodlerinnen und jodler aus durchaus auch urbanen gegenden, eine wahre
freude) und der finnischen sängerin und melodien-forscherin tritt auch noch das trio smite rancane cinkuss aus der sängerischen grossmacht lettland auf. so unterschiedlich
die kulturen, so ähnlich die themen ihrer gesänge: sehnsucht in dur und moll,
sehnsucht nach liebe, nach wärme, nach frühling, nach geborgenheit, nach
heimat, nach frieden, nach sommer, nach weite. beim finale sind wieder alle
gemeinsam auf der bühne, herzerfrischend, endorphine ausschüttend. die
allgemeine gefühlslage beschreibt eine alte liedzeile von jutz.ch treffend: „schatte
schliichid us em tal.“ kein zweifel, singen befreit. und trotzdem: den
klangfestival-workshop „singend fasten“ haben wir zugunsten der fabelhaften dörrbirnen-ravioli
in der festbeiz grossräumig umgangen.
Samstag, 19. Mai 2018
LUZERN: VÄTER
sechs männer, sechs ikea-montageanleitungen, ein
ziel: stuva, das hochbett fürs kinderzimmer, muss auf die bühne des luzerner
theaters gebaut werden. zügig kommen sie voran mit schrauben und
zusammenstecken, sie plaudern dabei, machen witze und ab und zu wird’s ganz
philosophisch. sechs männer hat das luzerner theater gecastet, laienschauspieler
zwischen 34 und 72, ganz unterschiedliche typen, aber alle sind sie söhne und
alle sind sie väter. regisseur max merker gelingt mit „väter“ eine sehr
persönliche annäherung an familienmodelle und generationenfragen. ganz
natürlich, ganz selbstverständlich geben die sechs privatestes preis: „ich habe
lange gesagt, wenn das nicht mein vater wäre, dann hätte ich keinen kontakt zu
ihm“, sagt matthias. „ich habe meinen vater eigentlich erst mit 13
kennengelernt, da hatte er schon graue haare“, sagt selmir. sobald das bett
steht, wird der – unter schweizer männern offenbar unvermeidliche – grill aufgefahren,
dazwischen gibt’s hübsche exkurse zu „star wars“, zu darth vader und luke
skywalker, der berühmtesten und belastetsten vater-sohn-beziehung der populärkultur. ja, es ist
nicht einfach mit den vätern, und dann wird’s trotz popcorn vom grill und bier ganz
nachdenklich bis traurig. diesen bekenntnissen und diesem ringen kann man sich
nicht entziehen, sie führen ganz unmittelbar zur eigenen situation, zur eigenen
familie. eines ist allen sechs auf der bühne gemein: sie wollen sich mehr,
intensiver, anders um ihre kinder kümmern als ihre väter dies taten. michi
bringt’s auf den punkt: „ich habe wahnsinnig mühe, wenn einer sagt: ‚ich muss
meine kinder hüten.‘ als vater musst du deine kinder nicht hüten, das sind
deine kinder!“
Freitag, 18. Mai 2018
ZÜRICH: MASS FÜR MASS
shakespeare
liess auch die frauenrollen von männern spielen. die kostümbildnerin
kathrin plath steckt bei „mass für mass“ am schauspielhaus zürich jetzt alle männer in frauenkleider. jeder kann alles sein in diesem wüsten spiel um macht
und moral, um tugenden und triebe. diese irritationen werden noch gesteigert
durch das labyrinth aus spiegeln, stellwänden, vorhängen und neonpfeilen, das
bühnenbildner moritz müller auf die drehbühne gebaut hat. passend zu
shakespeares menschenexperiment, in dem sich vincentio, der herzog von wien, als
mönch tarnt und die schärfsten sittenwächter als grösste strolche entlarvt,
wechseln in der inszenierung von jan bosse also laufend die perspektiven, kaum
eine fassade, die nicht bedrohlich wackelt, kaum ein abgrund, der nicht heftig
lockt, was eben noch hinten war, ist plötzlich vorn, wer eben noch oben war,
ist nun unten. chaos total also? keineswegs. das liegt daran, dass bosse shakespeare
entschlackt und die sprache aufs wunderprächtigste neu frisiert hat („sie
liegen da wie eine verschimmelte seegurke“). durch die klarheit dieser sprache
und den ausgesprochen stimmigen rhythmus entwickeln sich die intrigen – fürs publikum
– mit seltener nachvollziehbarkeit, und dem grandiosen ensemble liefert der
aufgefrischte text futter noch und noch für verbale und mimische akrobatik: ob
nonne oder nutte, ob mönch oder kerkermeister, da ist immer leben prall. und
das lehrstück kommt keine minute als lehrstück daher, sondern als rattenscharfe
groteske auf die herrschende klasse: „in regierung steckt gier“, sagt einer
knapp. kann eine shakespeare-übersetzung zeitgemässer sein?
Donnerstag, 3. Mai 2018
MÜNCHEN: DER VATER
links
vor der bühne der münchner kammerspiele stehen zwei hässliche polstersessel aus
strindbergs zeiten, oben ein hässliches billigsofa von ikea, damit schon mal
klar ist: hier wird das gestern auf das heute losgelassen und das heute auf das
gestern. und damit schon mal klar ist: gemütlich geht anders. august strindberg
zeichnet in „der vater“ (1887) eine frau, die aus verzweiflung über ihre
ohnmacht ihren mann mit einer intrige erst in den wahnsinn und dann in den tod
treibt, ein stück gegen die sich emanzipierenden frauen. julia riedler und
daniel lommatzsch schenken sich gar nichts, ehehölle total und vernichtungskampf
wie bei ingmar bergman. mit einem allerdings wesentlichen unterschied:
regisseur nicolas stemann lässt die beiden immer wieder aus der rolle kippen,
lässt sie szenen wiederholen und rollen tauschen, er spricht dann ihren text,
sie seinen. so löst sich die inszenierung von der reaktionären vorlage und
ihren klischees und stellt machtmissbrauch und geschlechtergerechtigkeit ins
zentrum. inmitten von acht giftgrünen stehlampen, die sich mal phallisch
aufrichten und mal wieder schlapp machen, gelingt stemann eine stimmige, oft auch
witzige analyse nicht der herrschenden verhältnisse, sondern der herrschenden
unsicherheiten. auch das publikum wird verunsichert, wenn da plötzlich ein
ziemlich dumpfer männerchor das wohnzimmer überfällt und ballermann-hits
schmettert. wie der gender-diskurs und die rollenklärung viele überfordert,
wird schliesslich verdichtet und zugespitzt in einem grossartigen solo von wiebke
puls, die den vater, die mutter und das kind in personalunion spricht, sich
nach da und dort verzehrt und verzerrt und die zwangsjacke, die strindberg dem
vater anziehen lässt, gleich selber überstreift: alle mitgehangen. tatsächlich „das
stück zur stunde“, wie stemann sagt. das ende des patriarchats, ja, aber
ausgang offen.
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