Mittwoch, 18. Juni 2025

ESPOO: 1. AUGUST

interessant, wie sich ein finnischer schriftsteller den 1. august in der schweiz vorstellt: „korpelas bus samt passagieren traf am morgen des ersten august in zürich ein. in der stadt wurde gerade das kartoffelerntefest gefeiert. aus den kartoffelproduzierenden kantonen war die landbevölkerung gekommen, um ihre ernte zu feiern. diese war dem vernehmen nach hervorragend ausgefallen. der sommer war sonnig und windstill gewesen, die kartoffelfäule war den äckern ferngeblieben, und deshalb waren alle so glücklich. so mancher hält die schweizer für recht einfache vertreter der alpenrasse, aber man kann sagen, was man will, von kartoffeln verstehen sie etwas.“ der bus aus finnland fuhr dann weiter nach luzern, wo die passagiere schweigend über die alten holzbrücken schritten – und: sie „blickten nachdenklich in den türkisfarbenen schäumenden wasserfall.“ atemberaubend, der luzerner wasserfall….. die beiden sequenzen sind dem roman „der wunderbare massenselbstmord“ von arto paasilinna entnommen. er lebte in espoo-westend bei helsinki und schrieb 36 romane. da staunt man als recht einfacher vertreter der alpenrasse nicht schlecht – und freut sich bereits aufs nächste kartoffelerntefest.

Montag, 16. Juni 2025

OBERRIEDEN: STRYX

eine junge heilerin und der dorfpfarrer werden mitten in einem kleinen bauerndorf an einen pfahl gefesselt, rücken an rücken, das stroh zu ihren füssen wird angezündet, die beiden verbrennen – unter den augen der dorfbevölkerung und eines widerlichen kardinals und seiner lakaien. wir sind im jahr 1583 im italienischsprachigen teil graubündens. diese szene ist der dramatische höhe- und der inhaltliche tiefpunkt des filmprojekts „stryx“, das jetzt bei „kultur im winkel“ in oberrieden seine deutschschweizer première erlebte. 40´000 bis 60´000 menschen wurden in westeuropa zwischen dem 15. und dem 18. jahrhundert als hexen und hexer verfolgt und umgebracht, allein in der schweiz geht man von 6000 aus. dieses dunkle kapitel wollten die beiden tessiner filmemacherinnen camila koller und thania micheli, die selber die hauptrollen spielen, mit „stryx“ aufgreifen. als basis für ihre fiktive geschichte, die als webserie konzipiert ist (6 teile à 8 bis 15 minuten, jetzt auch bei play rsi und auf youtube), dienten ihnen vor allem die protokolle der hexenprozesse im puschlav. mit starken bildern und ausschliesslich tessiner darstellerinnen und darstellern gelingt es ihnen, das grauen der inquisition fassbar zu machen, die das friedliche nebeneinander unterschiedlich denkender menschen in den dörfern für immer zerstörte: spitzel wurden eingeschleust, unschuldige menschen ausgehorcht und – die parallele zur gegenwart – vor allem frauen, die mehr wussten und mehr wollten als andere, wurden zur zielscheibe. „stryx“ wurde im alten dorfteil von moghegno im maggiatal und in der kirche von giornico in der leventina gedreht und gewann beim renommierten webfest von los angeles den hauptpreis und beim webfest von new york den preis für den besten soundtrack – beachtliche auszeichnungen für eine, wie die beiden initiantinnen sagen, "zero-budget"-produktion.

Donnerstag, 12. Juni 2025

MÜNCHEN: SAUHUND

nein, dieser junge hat’s nicht leicht: er steht auf männer, er steht auf frauenkleider, er kommt vom land, er sucht in der stadt die freiheit und die lust, er hat panische angst vor aids, er heisst flori. „sauhund“ war vor zwei jahren der debütroman des 29jährigen lion christ und wird jetzt in einer bühnenfassung an den münchner kammerspielen gezeigt – ein blick zurück in die jahre, als es jimi hendrix und freddie mercury in den münchner clubs krachen liessen, als anderseits die schwulen angesichts der hiv-pandemie von der offiziellen bayerischen politik übelst stigmatisiert wurden, eine höchst ambivalente zeit. mit schwarz-weiss-bildern aus den 70ern und 80ern, videos von demos und alpin inspirierten sounds fangen florian fischer und ludwig abraham die stimmung im bayernland präzis ein, ihre inszenierung wird zum doku-drama. gespielt wird ausschliesslich auf der vorbühne, grossaufnahme sozusagen, man bleibt nah dran, vor allem an elias krischke, als flori eine top-besetzung: strohblonde stoppelfrisur, leuchtende augen, ein zarter kerl, der seinen körper liebt, er schminkt sich, wirft sich in grelle klamotten, wirft sich in die queere szene, die ihn immer wieder überfordert. wir begleiten einen sensiblen jungen mann, dem zunehmend die koordinaten abhanden kommen: „ich vermisse niemanden mehr und niemand vermisst mich.“ war das wirklich das ziel? – edmund telgenkämper spielt wunderbar wandelbar all die männer, die flori trifft, gregor, kenny, miguel, jakob, alte, junge, mal schneller sex, mal grosse liebe. und annette paulmann gibt absolut hinreissend frauen aus drei generationen: floris ausgepumpte mutter, floris aufgekratzte jugendfreundin und die alte frau eichinger, mit der er sich als zivi im pflegeheim anfreundete. mit nur drei personen auf der bühne wird „sauhund“ zum grossen gesellschaftspanorama. doch ist diese inszenierung mehr als ein schmerzhaftes, auch voyeuristisches blättern im album? ja, eine aufforderung zu mehr toleranz, mehr empathie, aktiver solidarität, echter freundschaft

Montag, 9. Juni 2025

HAMBURG: MIKNEVIČIŪTĖ ALS SALOME

partystimmung bei herodes! nicht auf der terrasse seines palastes in judäa, sondern im salon einer gediegenen altbauwohnung, designermöbel, alles very stylish. regisseur dmitri tcherniakov findet an der hamburger staatsoper neue, zeitgemässe bilder für die alte geschichte der schwer dysfunktionalen familie herodes-herodias, die richard strauss in seiner „salome“ 1905 mit gröbsten dissonanzen treffend charakterisierte – was dirigent alexander soddy in sämtlichen schattierungen auslotet. total aufgebrezelt erscheinen alle zu herodes‘ party, nur einer passt nicht in die runde: der prophet jochanaan ist hier ein schräger intellektueller, ein welterklärer mit schütterem haar und abgewetztem cordsakko. doch dann, auftritt salome: die von ihrer eiskalten mutter und ihrem übergriffigen stiefvater schwer traumatisierte junge dame verguckt sich subito in diesen kuriosen kerl, verfällt seinen ideen und seiner stimme (kein wunder bei dem warm strömenden bariton von christopher maltman). diesen jochanaan will sie, keinen anderen. doch ihre durchgeknallte begierde ekelt ihn. da kippt sie total und fordert seinen kopf. vida miknevičiūtė, der sopranstar aus litauen, beherrscht nun die ganze party mit ihren blicken, stechenden, verführerischen, rächenden. diese salome haut alle um. so sensationell wie ihr gefährliches spiel mit den augen ist ihre stimme, erotisch aufgeladen bis zur ekstase, dann wieder wie weggetreten, sämtliche abgründe durchdringend. dieses subtile psychogramm gelingt auch deshalb so packend, weil die nebenrollen ebenfalls hochklassig besetzt sind (v.a. claudia mahnke als herodias und ziad nehme als erster jude). am schluss nicht das übliche blutbad, kein abgehackter prophetenkopf, den sie knutscht – das spielt sich jetzt ausschliesslich in salomes wirrem hirn ab. ihre ermordung, die der beim schleiertanz kaltgestellte stiefvater anordnet, erübrigt sich: völlig erschöpft sackt salome auf dem edlen altbau-parkett final zusammen. der tod als ihre erlösung, endlich ruhe….. dann frenetischer beifall für vida miknevičiūtė.