Samstag, 4. Juni 2022

MÜNCHEN: FINSTERNIS

auf lampedusa sagte ein fischer zu mir: „weisst du, was für fische wir hier neuerdings wieder haben? seebarsche.“ er zündete sich eine zigarette an und verfiel in ein tiefes schweigen. „und weisst du, warum die seebarsche zurückgekommen sind? weisst du, wovon sie sich ernähren? genau.“ – mit „schiffbruch vor lampedusa“ schrieb der sizilianer davide enia einen roman/monolog, der ins scheinwerferlicht rückt, was wir allzu gerne vergessen oder verdrängen. er klagt nicht an, er beschreibt: die flüchtlinge, tote und überlebende, die rettungstaucher, die hilfe leisten bis zur selbstaufgabe, und don vincenzo, der die toten ungeachtet ihrer konfession auf dem katholischen friedhof bestattet. enia nahm seinen vater mit auf diese reportagereise, einen pensionierten kardiologen, der sein herz nicht öffnen kann, ein feldversuch gewissermassen. unter dem titel „finsternis“ hat nora schlocker am münchner residenztheater jetzt eine bühnenfassung des romans inszeniert. der grossartige robert dölle ist davide enia: ganz sizilianer kocht er orangenmarmelade in seiner küche, setzt sich zwischendurch an seinen laptop, spricht den beklemmenden monolog, wendet seinen blick ab und zu ins publikum, auch mal mit tränen in den augen. nein, es darf einfach alles nicht wahr sein, ist immer wieder der reflex beim zuhören. „finsternis“ ist ein weckruf, sich seiner verantwortung wieder bewusst zu werden. so wie dölle den text vorträgt, die schilderungen der ertrinkenden, die annäherung an den verschlossenen vater, den kontakt zum sterbenden onkel, wird daraus ein starkes plädoyer für empathie. auf dem programmheft ist der titel des stücks so gedruckt, dass „stern“ als zentraler bestandteil des wortes „finsternis“ erkenntlich wird. was für ein wunderbares detail.

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