Mittwoch, 1. Januar 2020
LUZERN: CARMEN.MAQUIA
carmen kauert am äussersten bühnenrand, am abgrund in
den orchestergraben, als sie ihre tarotkarten legt und immer wieder den tod
zieht. sie singt nicht. das luzerner theater zeigt den spanischen evergreen in
einer tanzversion, die gustavo ramirez sansano unter dem titel „carmen.maquia“
vor acht jahren für chicago kreiert hat. carmen am abgrund also. und nicht nur
sie. ramirez sansano führt menschen in psychischen extremsituationen vor. seine
choreografie kehrt das innenleben der figuren nach aussen, versteckte emotionen
brechen sich bahn in vertrackten, eruptiven bewegungen. flamencogeklapper und
die körpersprache von stieren und toreros klingen zwar auch immer wieder an,
doch die psychologie zwischen carmen, don josé, escamillo und ihrem umfeld
interessiert ihn weit mehr als die oberflächliche folklore. leidenschaft,
eifersucht, rache, todesgedanken, die offensichtlichen und die verdrängten
konflikte vermischen sich zu einem ungezügelten, wilden und temporeichen drama,
das umso faszinierender wirkt, weil auch die szenerie und die kostüme nicht wie
sonst üblich von flammendem rot dominiert werden, sondern ausschliesslich
schwarz und weiss gehalten und von picasso inspiriert sind: klischee- und
kitschfaktor null also, hochlöblich. neben den carmen-suiten von bizet
erklingen auch jene von tarkmann und die carmen fantasy von sarasate. william
kelley entlockt dem luzerner sinfonieorchester hübsch aufgeraute melodiebögen. gelegentlich
allerdings sind sie dermassen aufgeraut bis geradezu garstig, dass die frage
erlaubt sein muss, ob sich einige im orchester – vor allem bei den tiefen
streichern und im blech – den ausgiebigen silvestertrunk bereits vor statt erst
nach der vorstellung genehmigten.
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