Sonntag, 27. Juli 2025

SALZBURG: ZEUGNIS ABLEGEN UND LIEBEN

die ukraine nicht vergessen, heute nicht, morgen nicht, nie! über krieg und literatur, über das verhältnis von gewalt, leiden und sprache hat sich der ukrainische schriftsteller und musiker serhij zhadan, der freiwillig in der armee dient, gedanken gemacht – in seiner dankesrede anlässlich der verleihung des österreichischen staatspreises für europäische literatur in salzburg (abgedruckt in der aktuellen ausgabe der „wochentaz“). der krieg „ändert das gewicht des lebens, ändert das verständnis von zeit, ändert die grundlegende wahrnehmung der zukunft“.  der krieg habe der sprache – und damit auch der literatur – die leichtigkeit genommen: „wir sprechen heute die sprache von menschen, die unbedingt gehört werden wollen, die sich zu erklären versuchen. dahinter steckt kein übertriebener egozentrismus. wir schreien nicht, um die aufmerksamkeit auf uns zu lenken, (…) wir schreien für jene, die im moment nicht sprechen können, die ihrer stimme beraubt sind, die ihres herzschlags beraubt sind.“ allen grauenvollen erfahrungen zum trotz lässt sich zhadan nicht unterkriegen: „wir versuchen heute nicht nur, die überreste der wirklichkeit zu bewahren, die mit dem beginn des krieges zerbrochen ist. wir versuchen, sie, diese wirklichkeit wieder neu zusammenzusetzen, neu zu starten, neu zu erfinden, neu zu benennen.“ ein funke hoffnung, der sich an einem neuen umgang mit der sprache entzündet, an einem neuen auftrag der literatur: „zeugnis ablegen und lieben. manchmal reicht das aus, um dem bösen zu widerstehen.“ das ist kein kitsch, das ist ein kampf, ein kampf mit worten. es ist an uns, diesen kampf zu unterstützen und die ukraine nicht zu vergessen.

Dienstag, 22. Juli 2025

MÜNCHEN: MEPHISTO

chaos pur – die politischen widerwärtigkeiten der dreissiger jahre, das mitläufertum und die speichelleckereien, die ungebremste karrieregeilheit eines schauspielers plus nervöse blicke hinter die kulissen des theaterbetriebs: aus klaus manns roman „mephisto“ (1936) macht jette steckel an den münchner kammerspielen eine heftige, deftige chaos-collage. in hoher kadenz jagen sich die szenen, die den aufstieg von hendrik höfgen illustrieren, für den der schauspieler gustaf gründgens modell stand, der kulturelle repräsentant der nazis. die ganze spannung, die sein lavieren zwischen kunst und macht aufbaut, das chaos von gefühlen und bildern, das an die nieren geht, entlädt sich nach einer stunde, als sich elias krischke ans schlagzeug setzt für ein explosives solo, ein reinigendes gewitter, huch, endlich. doch weit gefehlt, nichts ist geklärt, alles eskaliert noch zwei stunden weiter, die politischen verhältnisse und die künstlerischen ambitionen, keiner in höfgens umfeld bleibt verschont: geht man mit? bremst man ihn? fulminant stürzt sich thomas schmauser in diese paraderolle, entwickelt – in seinem unverwechselbaren schmauser-stakkato und rosa adidas-höschen – diesen höfgen/gründgens vom schmierig-devoten („ich, begabt? ach, das ist ein ganz unbewiesenes gerücht“) bis zur totalen hybris („die hauptstadt kommt nicht ohne mich aus“), seine falschheit ist seine echtheit. die augenbrauen, die ihm für den grossen auftritt als mephisto geschminkt werden, deuten ein hakenkreuz an. man realisiert das erst auf den zweiten blick und erschrickt. noch vor 10, 15 jahren las man klaus manns roman als düsteres dokument vergangener zeiten, doch jetzt, wo dummes und unreflektiertes wieder massiv aufwind haben, wo die demokratie selbst in den usa und in deutschland gefährdet ist, macht er richtig schaudern.