Freitag, 31. August 2018
HAMBURG: VIOTTI II. IN DER ELBPHILHARMONIE
marcello
viotti wirkte in den neunziger jahren als chefdirigent am luzerner theater,
legte dann eine internationale karriere hin und verstarb 2005 – nach einer
orchesterprobe in münchen – viel zu früh. „ein verlust für die gesamte
musikwelt“, schrieb der direktor der wiener staatsoper. jetzt tritt der sohn
das erbe an. und wie. in der elbphilharmonie dirigiert lorenzo viotti mit
gerade mal 28 jahren das von claudio abbado gegründete gustav mahler
jugendorchester. er steigt ein mit einem repertoire-kracher, den andere eher
als zugabe einplanen würden: die ouverture zu verdis „la forza del destino“, fortissimo
und pianissimo, weich und hart, plakativ und poetisch – in nur fünf minuten
schafft es viotti II., den saal bereits in all seinen facetten zum klingen zu
bringen. er dirigiert auffallend wenig mit händen und armen und viel mit seinen
funkelnden augen, auch mit lippen und kinn: gestaltungsfreude und
gestaltungswille durch und durch. ausgehend von verdi zeigt viotti, wie die
musikwelt in nur 50 jahren von der romantik in die moderne katapultiert wurde:
mit dvoraks cello-konzert (und dem phänomenal-innigen solisten gautier
capuçon), debussys „prélude à l’après-midi d’un faune“ und als hinreissendem höhepunkt strawinskys skandalstück „le sacre du printemps“. „it’s all about
sex“, hatte leonard bernstein diese ballettmusik mal zusammengefasst. „it’s all
about power“, scheint die devise bei lorenzo viotti zu lauten. wenn erotik,
dann brachial-erotik. mit dissonanzen und peitschendem schlagwerk bringt er den
saal zum bersten. ein entfesselter dirigent, 120 entfesselte musikerinnen und
musiker, ein jugendlicher orkan. viotti I. hätte sich tierisch gefreut, sein
temperament lebt im sohn weiter.
Montag, 27. August 2018
FOROGLIO: LA RIEFENSTAHL
wandern
auf den spuren von leni riefenstahl? nein, natürlich nicht. aber schön der
reihe nach. in foroglio, wo das val calnègia ins val bavona mündet, also
eigentlich am ende der welt, bietet sich uns eine atemberaubende kulisse: ein
110 meter hoher wasserfall. wir kannten ihn nicht, doch die tessiner sagen, er
sei ihr spektakulärster. oben, wo der bach aus dem seitental seinen auftritt
hat, scheint er ein schmales wässerchen zu sein, doch mit dem abrupten sturz in
die tiefe wird er breiter, wuchtiger, zischender, bevor die wasserkraft unten
hinter einem gewaltigen felsbrocken aufschlägt und in abermillionen tropfen und
tröpfchen wieder gegen den himmel stiebt. von diesem naturschauspiel muss auch –
jetzt kommt’s und das wussten wir nicht – leni riefenstahl im fernen berlin gehört
haben, die hier zentrale szenen ihres spielfilmdebuts „das blaue licht“ drehte und
auch gleich die hauptrolle spielte: die raubtierhafte aussenseiterin, die im
kleinen bergdorf die männer verhext, die dann in den vollmondnächten auf der
suche nach dem blauen licht die felswände hochklettern und abstürzen (irene
bignardi von der „repubblica“ beschreibt das für die foroglio-besucherinnen und
-besucher ausgesprochen anschaulich). dieser kitsch-as-kitsch-can-streifen hat
es auf der internationalen filmausstellung 1932 in berlin dann hitler angetan,
der die riefenstahl in der folge zur offiziellen dokumentarfilmerin des
naziregimes machte, was ihr den bekannten zweifelhaften weltruhm bescherte.
dort, wo die equipe um „la riefenstahl“ jeweils stundenlang auf die perfekten
lichtverhältnisse für den dreh wartete, findet sich heute die osteria la froda,
die sich aller abgeschiedenheit zum trotz zu einem treffpunkt von (durchaus
auch weniger umstrittenen) künstlerinnen und künstlern entwickelt hat. und die
mit vorzüglichen gerichten aus der archaischen bergwelt aufwartet.
Samstag, 11. August 2018
BASEL: MARIA LASSNIG, MAL GANZ LEISE
die nackte alte, mürrisch auf dem
motorrad. die nackte alte, eine knarre an der schläfe, eine zweite auf den
betrachter gerichtet. die nackte alte, die mit dem tod tango tanzt. das sind
die grellen, schreienden bilder, die wir von maria lassnig (1919-2014) kennen,
provokative selbstporträts. das kunstmuseum basel zeigt jetzt eine andere seite
der österreichischen ausnahmekünstlerin: zeichnungen und aquarelle aus
stilleren zeiten. ganz behutsam scheint sie da ihren körper zum mittelpunkt
ihrer kunst zu machen, weniger schrill, aber durchaus experimentierfreudig. der
körper als würfel, der körper als käse, der körper als – immer wieder neuer
anlass für empfindungen, für ein wechselspiel von innen und aussen, mal kubistisch,
mal durchaus konkret, fast immer verspielt. man schaut sich das bekannte werk
von lassnig ganz anders an, wenn man dieses unbekannte auch kennt. auf eines
der letzten blätter im letzten raum hat sie die maxime ihrer körper- und
wahrnehmungsstudien hingekritzelt: „jeder strich zählt. jeder strich hat eine
lautstärke. gegensätze werden fruchtbar.“ heute ist unser hochzeitstag, da
könnte man sich kein passenderes leitmotiv vorstellen.
Donnerstag, 2. August 2018
GREINA: NATUR UND NICHTS, RAUSCHEN UND RAUNEN
keine
strassen, keine autos, keine pop-up-bar, keine landschaftskunst, keine kneipen,
keine biker, keine luftseilbahnen, keine häuser, kein openairkino, kein zirkus, keine feuerstelle der "schweizer familie". einfach nur natur. einfach nur ein
grossartiges nichts. karge bergwiesen, mäandernde bäche, so weit das auge
reicht. wandern in der weiten greina-hochebene, die von der surselva und vom bleniotal
nur zu fuss über pässe oder durch enge schluchten erreichbar ist, bedeutet: das gefühl
für distanz und zeit geht verloren, die festplatte leert sich, die gedanken
werden auf 2200 metern über meer luftiger und leichter, man schaltet ab und
schaltet anders wieder ein. „wenn eine unschuldige seele das, was man von hier
aus sieht, mit unparteiischem gemüte betrachtet und überlegt und vorzüglich die
zahme weide mit der wildheit der gebirge vergleicht, so wird er ungern diese
stelle verlassen“, notierte – nein, nicht goethe auf seiner reise nach italien –
der benediktinerpater placidus a spescha 1820. und leo tuor, schafhirt und
poet, schrieb klartext, als elektrizitätskonzerne die greina in der zweiten
hälfte des vergangenen jahrhunderts in einem stausee ersäufen wollten: „stört
meine tiere nicht, die ihre pfade ziehen und euch nichts zuleide getan haben.
lasst der erde ihren frieden und dem tal sein rauschen und raunen.
verschwindet, woher ihr gekommen seid!“ der widerstand wurde breiter und
breiter und er fruchtete. keine staumauer, keine strommasten, keine panzer.
geht doch. geht sogar mitten in der kleinen schweiz. alles weglassen, wirklich alles
weglassen, das ist hohe kunst. die greina bleibt deshalb, in einem, kulisse und
einladung und anleitung zur meditation.
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