Dienstag, 24. Juli 2018
MÜNCHEN: NO SEX
die
münchner kammerspiele sind auch ein volkskundliches seminar. ein durchaus
vergnügliches allerdings. thema diesmal: immer mehr japaner und –innen haben
immer weniger sex, vor allem junge (detaillierte statistiken im programmheft
lassen keinen zweifel). und wie bitte soll dieser befund auf der bühne
daherkommen? autor und regisseur toshiki okada verfrachtet für sein stück „no
sex“ vier jungs in eine karaoke-bar; bühnenbildner dominic huber hat ihm ein
prachtsstück in sachen farbigkeit und hässlichkeit hingestellt, visueller wahnsinn.
die vier jungs – darunter franz rogowski, die filmentdeckung des jahres –
stecken in hochartifiziellen japanischen designerklamotten, reden sich mit den
namen von zierpflanzen an, wirken durch ihre geisha-bewegungen wie von einem
anderen planeten – und singen laufend lieder von liebe, begehren, sex, von
dingen also, die sie nicht kennen und nicht kennen wollen. dazwischen tauschen
sie aus, wie sie sich fühlen, wenn sie von brüsten und körpersäften singen, sie
tun das wie pathologen, die über leichen reden. herr matsumoto, der barbesitzer,
und frau nakamura, seine reinigungskraft (annette paulmann, umwerfend), gehören
zur vorherigen generation, die sex nicht nur vom hörensagen kennt, und
versuchen geradezu liebevoll, das abstinente quartett zu verstehen. es gelingt
nur teilweise. die frage, ob sie einfach desinteressiert sind an sex, ob sie
sich vor emotionalen verstrickungen oder intimen momenten fürchten, ob ihnen
das ganze drum und dran zu lästig oder ob ihr verzicht gar ein statement gegen
die zwänge des konsumsystems ist, diese frage wird zwischen viel westlicher
musik und rätselhafter japanischer choreografie auf allerhübscheste weise dann
doch nicht beantwortet.
Freitag, 20. Juli 2018
POING: SELIGER PATER RUPERT MAYER
es werden doch tatsächlich
noch kirchen gebaut. anderswo werden sie geschlossen oder umgenutzt, als
eventlokal (ebnat-kappel), als kletterhalle (mönchengladbach), als
asylunterkunft (winterthur), als buchhandlung (maastricht), als getränkelager
(petit-lancy). in bayern aber werden noch kirchen gebaut. vor kurzem wurde die
kirche seliger pater rupert mayer in poing bei münchen eingeweiht, eine
auffällige weisse skulptur in einer, höflich ausgedrückt, unauffälligen peripheriegemeinde.
das wie ein dreiteiliges relief gestaltete dach (dreifaltigkeit) mit seinen
glänzenden weissen kacheln wirkt aus der ferne wie die spitze eines eisbergs,
von nahem könnte es auch ein besonders gut gelungener industriebau sein. nur
ein kahler platz trennt das gebäude von der hauptstrasse, denn der kirchenraum
soll einladen („kommt und seht“), das war den architekten andreas meck und axel
frühauf besonders wichtig. keine schweren türen trennen den platz deshalb vom
kirchenraum, sondern nur viel glas: glastüren, fenster, oblichter. das licht erfüllt
den weissen raum von allen seiten. er wirkt hell und transparent und schlicht.
da sich die wandflächen in verschiedensten formen und winkeln gen himmel
strecken, das licht also unterschiedlich brechen, ergibt sich ein ganz
spezielles farbenspiel: fifty shades of white. ein sehr meditativer ort, luftig
und leicht, wo man sich auf anhieb wohlfühlt. es ist den poingern und dem
lieben gott nicht zu wünschen, aber falls es trotzdem mal so weit kommen
sollte: dieser prachtvolle raum wird sich ausgesprochen gut umnutzen lassen.
Mittwoch, 18. Juli 2018
MÜNCHEN: JULIET & ROMEO
zwei
offene gräber. eines für julia. eines für romeo. beide sind sie tot. zwei
seiten später ist shakespeares tragödie zu ende und die verfeindeten familien
der capulets und montagues sind versöhnt. so schnell geht das. kann nicht sein,
sagte sich der amerikanische choreograf trajal harrell und widmet der zeitspanne
zwischen liebestod und aussöhnung einen tanzabend. einen abend, der der trauer
und verzweiflung zeit und raum gibt. zwei offene gräber, übergross, bilden das
zentrum der bühne in den münchner kammerspielen. trajal harrell schreitet sie,
schwarzgewandet als amme julias, immer und immer wieder ab und orchestriert diesen
abschied, die erinnerung, die zuwendung. sieben tänzer und schauspieler – wie bei
shakespeare ausschliesslich männer – teilen sich die rollen, spielen mit
motiven und textfetzen aus dem original, improvisieren mit kostümen und stoffen.
ihre bewegungen sind inspiriert vom voguing, mit dem die schwule subkultur new
yorks einst die fashionshows persiflierte, und dem japanischen butoh-tanz. es
ist ein endloser kampf um das verlorene leben, um die verlorenen menschen, von
grosser kraft und ernsthaftigkeit, ein totentanz ohne trost. „die liebe ist ein
rauch aus ooh und jeh, ein feuer, das uns frisst, und eine see aus unsren
eignen tränen, die uns schluckt.“ am ende sitzen und liegen sie alle an den
offenen gräbern, lebendig oder tot, und die amme singt und tanzt eine
herzzerreissende todesklage. die ganze atmosphäre ist von trauer durchtränkt,
schwer und leicht zugleich. man kann sich dieser emotionalen überdosis nicht
entziehen. und wenn die tänzer beim applaus dann durch die reihen gehen und
sich bei den zuschauerinnen und zuschauern quasi einzeln verneigen und
verabschieden, ist man ihnen dankbar für dieses intensive todesritual,
mitgenommen und erlöst.
Sonntag, 1. Juli 2018
GISWIL: SAUDADE
pascal, jonas und sandro, drei jungs
aus ob- und nidwalden, altersmässig irgendwo zwischen erstkommunion und
lehrabschlussprüfung, spielen auf ihren alphörnern eine eigenkomposition,
kräftig und kristallklar, bedächtig und betörend. diese meditative reverenz der
jugend an die reiche musikalische tradition der bergtäler eröffnet die 13.
ausgabe des volkskulturfests „obwald“. sie gehören immer dazu in der
waldlichtung bei giswil, diese magischen momente, wo das herz schneller hüpft
oder das augenwasser seinen auftritt hat. dieses mal also sorgt das junge alphorntrio
bergkristall gleich zu beginn für so einen moment und gibt damit den richtigen ton
vor für diesen abend, an dem portugal zu gast ist, ein land, wo die melodien
selten happy enden. saudade, der weltschmerz, dominiert denn auch die auftritte
des coral casa do povo de serpa, 20 männer mit schwarzen hüten und schwarzen
stimmen, die den sonnigen, heissen abend in ein ganz anderes, geheimnisvolles
licht tauchen. im kanton obwalden leben rund 37‘000 menschen, über 1000 davon
sind portugiesinnen und portugiesen – ein ganz spezieller echoraum also für
diese düsteren gesänge aus dem alentejo. die fado-sängerin ana sofia varela
reisst uns dann in einem geradezu opernhaften rausch auch noch in die tiefsten
tiefen der portugiesischen seele – und schliesslich kommt es, einmal mehr, zum
obwald-wunder: die vom toggenburger naturtalent simon lüthi sorgfältig kombinierten
jödeler, bödeler und örgeler aus der ost- und der zentralschweiz stellen sich zu ana sofia und ihren portugiesen,
ganz eng rücken sie alle zusammen, halten sich freundschaftlich fest und
zwinkern sich zu, aus zwei gruppen wird eine, aus zwei melodien wird eine. auch
schwermütige musik kann glücksgefühle auslösen.
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