Mittwoch, 20. Juni 2018
LUZERN: EIN LUZERNER JEDERMANN
was
für eine kulisse! die barocke fassade der luzerner jesuitenkirche, zunächst von
der untergehenden sonne beleuchtet, danach in magische lila- und grüntöne
getaucht. das publikum sitzt mit dem rücken zur reuss, respektive mit dem
hintern über der reuss. einen stimmigeren ort für „ein luzerner jedermann“ kann
man sich nicht vorstellen. als bühne reicht ein 30 meter langer steg aus fünf
infanteriewagen. hier stehen nicht mysterienspiel und christlicher
erlösungsgedanke im vordergrund wie in salzburg, wo hofmannsthals „jedermann“
seit 1920 sommer für sommer antreten muss, sondern handfestes volkstheater,
gaudi und delirium, ganz in der tradition der luzerner freilichtspiele. gott
gibt’s in der inszenierung von thomas schulte-michels nur ab band, die bühne
gehört der 40köpfigen schar von jongleusen, feuerspuckern und anderen fahrenden
gauklern. sie begleiten das leben und sterben des reichen mannes, sie vollenden
seine verse und singen seine lieder, sie machen deutlich, dass jedermanns
schicksal jedermann trifft. matthias schoch ist sehr jung für diese rolle,
absichtlich, sein jedermann tanzt und feixt und überbordet, umso härter trifft
ihn die endlichkeit der irdischen existenz – da wird’s dann zwischendurch und
bei der finalen rechenschaft ganz besinnlich und ernst vor der kirche. doch
aaron hitz als jedermanns kumpel, später auch als fetter mammon und
schliesslich als latex-teufel sorgt mit witz und wucht und wirbeleien dafür,
dass hofmannsthals hochamt immer wieder auf den boden kommt. dieser geistreiche
conférencier („die welt ist dumm, gemein und schlecht, hier toppt gewalt
allzeit das recht“) avanciert zur schillernden hauptfigur - nicht die schlechteste wahl für eine leichtfüssige
revue mitten im leben mitten im sommer mitten in der stadt.
Montag, 18. Juni 2018
MANNHEIM: DIE ZAUBERFLÖTE
foa
scheint in mannheim ein begriff zu sein, festlicher opernabend. anderswo nennt
man das gala. da werden zwei, drei stars eingeflogen, um eine oft gut
abgehangene inszenierung frisch zu durchbluten. hier also eine sieben jahre
alte „zauberflöte“ mit der usbekin albina shagimuratova als königin der nacht
und dem luzerner mauro peter als tamino. die beiden werden diese rollen im
sommer auch bei der neuinszenierung der salzburger festspiele singen. der foa in mannheim ist also warmlaufen, ist amuse-bouche. mauro peter gibt nicht den
blonden, tendenziell naiven prinzen, sondern (optisch irgendwo zwischen
marineoffizier und matrose angesiedelt) einen burschen, der mit beiden beinen
auf dem boden steht, der die prüfungen, die er für seine tiefe liebe auf sich
nehmen muss, nicht voller furcht angeht, sondern mutig und entschlossen – ein sehr
stimmiges rollenporträt, das durch die leicht und ausdrucksstark geführte
tenorstimme, die in tieferen lagen hübsch baritonal timbriert ist, vollends
überzeugt. und frau shagimuratovas rache-koloraturen rasen mit blendender
schärfe und höllischem tempo übers orchester hinweg, was selbst altgedienten
opernfreaks kurz den atem stocken lässt. vermutlich haben die beiden neben der
gage auch noch ordentlich gefahrenzulage kassiert: im ersten akt müssen sie auf
steil abfallendem, wurzelbewachsenem waldboden permanent aufpassen, dass sie
beim singen nicht straucheln, im zweiten akt schleichen die protagonisten und
die chöre in sarastros tempel ununterbrochen durch ein enges treppenlabyrinth.
man merkt, dass regisseur joachim schlömer vom tanz kommt und die handlung mit
viel bewegung auf trab halten will. dieses endlose rumgekraxel ist für die
sängerinnen und sänger mühsam und fürs publikum zunehmend ärgerlich. immerhin
ist das ganze so volkstümlich gehalten, dass es durchaus passt, wenn papageno
zwischendurch mal aktuelle resultate von der fussball-wm einstreut.
Sonntag, 17. Juni 2018
MÜNCHEN: ARABELLA
arabella. neben dieser frau wirken
die männer, nun ja, alle irgendwie flach. das ist bereits im original von
richard strauss und hugo von hofmannsthal so. durch die aktuelle besetzung der an
sich vorzüglichen inszenierung von filmemacher andreas dresen an der
bayerischen staatsoper wird es noch akzentuiert: kurt rydl als arabellas vater
peinlich operettenhaft, michael volle als ihr angebeteter um jahre zu alt,
benjamin bruns als abgewiesener liebhaber ausgesprochen eindimensional. dafür
sie. anja harteros ist die absolute traumbesetzung für diese arabella. wenn sie
vor dem finale stumm die 52 stufen der bühnenfüllenden geschwungenen treppe
herunterschreitet, dann ist dies eine sternstunde der oper: eine zärtliche,
selbstbewusste frau, die sich die suche nach „dem richtigen“ nicht einfach
gemacht hat, in ihrem gesicht und ihren gesten ist alles noch einmal da, was
sie durchgestanden hat, leidenschaft und verunsicherung, eine frau, die ihren
weg sorgfältig reflektiert und dadurch reifer und noch schöner wird. diese frau,
allein auf der riesigen treppe, füllt und verzaubert durch ihre ausstrahlung
die ganze bühne, das ganze theater. dirigent constantin trinks mit dem
bayerischen staatsorchester ist ihr ein brillanter begleiter in dieser
sehnsuchtsmusik (bittersüss in einer zunehmend dunkler werdenden welt). stark
auch doris soffel als arabellas mutter und hanna-elisabeth müller als ihre
schwester zdenka, auch sie strahlen wärme und tiefe aus. es ist ein abend der
frauen. begeisterter, dankbarer applaus.
Mittwoch, 13. Juni 2018
MÜNCHEN: ZEIT ZU LIEBEN ZEIT ZU STERBEN
einer
springt vom dach. ins dunkel. in die leere. „kein schnitt, kein musikeinsatz,
keine blende, kein mitleid“, kommentiert die kollegin kühl. ddr-jugend, ficken
im schrebergarten, ferien in bulgarien, sonst kaum perspektiven. der 3. jahrgang
der otto-falckenberg-schule knüpft sich an den münchner kammerspielen fritz
katers „zeit zu lieben zeit zu sterben“ vor. die inszenierung von robert
lehniger jagt die fünf frauen und die fünf männer, durchaus passend, atemlos
durch den text, der das leben der ostjugend kalt seziert: ein kessel buntes,
aber halt ein kessel. die desillusionierten eltern, die permanente überwachung
und kontrolle bereits in der schule, die überall auf grenzen stossenden träume.
das junge ensemble turnt und tanzt mit tempo durchs leben und seine synkopen,
keine hoffnung ohne enttäuschung, kein aufbruch ohne abbruch. diskret
dazwischen montiert werden videosequenzen, wo die schauspielschülerinnen und –schüler
sich an ihre eigene jugend erinnern, den ersten kuss, den ersten rausch, und
sich ihre zukunft in 20 jahren ausmalen. schauspielerin sein oder doch
biogärtnerin. auf der strasse menschen für projekte auswählen. auswandern. wie die eigenen eltern werden. sicher nicht wie die
eigenen eltern werden. ob ddr-rückblende oder münchen heute, die themen werden
universell, wenn der horizont weiter wird. am schluss treiben die zehn filmreif
auf einem floss: „vorn ist das paradies, man muss nur mehr davon verlangen.“
Montag, 11. Juni 2018
LUZERN: DER CHOR DURCHSINGT DIE WEISSEN NÄCHTE
die
weissen nächte sind naturereignis und volksfest in einem. die meisten
mitteleuropäer und -innen kennen sie nur vom hören sagen, diese nächte in den wochen um
die sommersonnenwende, wenn es ganz im norden nie dunkel wird und nur noch die
wodkalieferanten einer einigermassen geregelten arbeit nachgehen. man erliegt
in diesen nächten der leichtigkeit des seins. das vokalensemble „der chor
luzern“ reist diesen sommer zum chorfestival europa cantat nach estland und zauberte deshalb jetzt ein
stimmungsvolles, faszinierendes programm ins luzerner neubad: „der chor
durchsingt die weissen nächte“. unter der akkuraten leitung von daniela
portmann erklangen die unterschiedlichsten volks- und kinderlieder aus
skandinavien, dem baltikum und der schweiz, rituelle runengesänge, musik
gewordene emotionen aus früheren epochen, die ins heute weitergesponnen werden.
ein phänomenales stimmenfest, das durch das (frauen-)trio interfolk mit
violine, akkordeon und klavier mal unterbrochen mal unterstützt wurde und so
immer wieder neu verdeutlichte, wie sehr volksmusik lebt, wenn sie neu
arrangiert wird, sorgfältig, witzig, sentimental, schräg, überraschend. da
klingen finnischer tango durch und mittelalterliche polyphonie und ferne echos
aus den schweizer bergen. man versteht dann wieder, dass die schweizer söldner,
sobald sie in der ferne den ranz des vaches sangen, subito an der maladie du pays
erkrankten. und man versteht, dass die esten glauben, mit der macht von liedern
lasse sich alles beeinflussen, der alltag und die welt; das haben sie mit ihrer
singenden revolution 1989 gemeinsam mit den letten und den litauern ja
eindrücklich bewiesen. das ist der wahre zauber der weissen nächte.
Dienstag, 5. Juni 2018
ROMA: TAKE ME (I'M YOURS)
abuse
of power comes as no surprise. ascolta quando il corpo ti parla. action causes
more trouble than tought. c’è una sottile differenza tra informazione e
propaganda. boredom makes you do crazy things. dovresti viaggiare leggero.
categorizing fear is calming. è meglio essere ingenui che indifferenti. eating
too much is criminal. gli uomini non sono monogami per natura. expiring for
love is beautiful but stupid. i bambini sono la speranza del futuro. fathers
often use too much force. i bambini sono più crudeli di tutti. go all out in
romance and let the chips fall wherever. i desideri artificiali stanno
saccheggiando la terra. ideals are replaced be conventional goals at a certain
age. il denaro crea il gusto. if you aren’t political your personal life should
be exemplary. il peccato è uno strumento di controllo sociale. it is man’s fate
to outsmart himself. l’amore incondizionato dimostra generosità di spirito. it’s
a gift to the world not to have babies. l’inaccessibile immancabilmente attrae.
lack of carisma can be fatal. la disorganizzazione è una specie di anestesia.
mothers shouldn’t make too many sacrifices. la moderazione uccide lo spirito.
people who don’t work with their hands are parasites. la religione crea tanti
problemi quanti ne risolve. private property created crime. le paure ataviche
sono le peggiori. raise boys and girls the same way. ogni surplus è immorale.
sloppy thinking gets worse over time. ricordati che hai sempre la libertà di
scelta. there’s a fine line between information and propaganda. uccidere è
inevitabile ma non bisogna esserne fieri. you are guileless in your dreams. un
unico evento può avere infinite interpretazioni.
(das biennale-poster von jenny holzer, von
alighiero boetti handschriftlich ergänzt mit dem satz „non scrivere mai cazzate“,
jetzt als art-to-go-exponat in der ausstellung „take me (i’m yours)“ im palazzo
medici in rom)
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