Dienstag, 27. Februar 2018

BASEL: LEONCE UND LENA

ist es überdruss? ist es langeweile? oder melancholie? „mein kopf ist ein leerer tanzsaal.“ büchners prinz leonce aus dem königreich popo ist ein weltmeister der lebensmüdigkeit. seinen leeren tanzsaal hat ihm regisseur und bühnenbildner thom luz ganz fabelhaft ins schauspielhaus des theaters basel gebaut: weiss in weiss, blätternde farbe, reste von prachtvollen stuckaturen, die decke notdürftig mit plastikplanen verhängt, seitlich ein undichtes fenster zum hof, raum gewordene melancholie, toll. ferner auf der bühne: ein zersägtes klavier, vorne rechts die tiefen, hinten links die hohen töne; annalisa derossi und daniele pintaudi wechseln virtuos von der einen zur anderen klavierhälfte, von strauss zu schumann und von bach zu bizet, und zwischendurch wird zwecks tonerzeugung auch mal eine violine von einer schuhputzmaschine misshandelt. luz steigert büchners lustspiel zur groteske. lisa stiegler und elias eilinghoff spielen die beiden königskinder, die vor der vorbestimmten heirat nach italien fliehen und sich auf der flucht ineinander verlieben, ohne zu ahnen, dass exakt sie sich ohnehin versprochen sind, carina braunschmidt und martin hug erledigen alle anderen rollen - alle hochartifiziell, alle hochpoetisch. die figuren reden nicht miteinander, sie rhythmisieren den text zur sprachpartitur, mal wortfetzen, mal sprachkaskaden, mal zelebrierte leerstellen. ganz neue töne, ganz neue bilder, und doch faszinierend nah bei büchners scharfem, weisem blick auf die hohlheit bei hofe, die zum leeren ritual erstarrten lebensformen und das zerschlagen der uhren als letzte utopie. „der weg zum narrenhaus ist nicht lang.“ na dann, zügeln wir.

Sonntag, 18. Februar 2018

ZÜRICH: ZUR SCHÖNEN AUSSICHT

das hotel „zur schönen aussicht“ hat die zukunft bereits hinter sich: auf den fleischkäsefarbenen und lindengrünen spannteppichen in der halle kuhfladengrosse kaffee-, kotz- oder blutflecken, an den wänden blättert die farbe, die treppen nach oben aus falschem marmor, das telefon in der kabine funktioniert nicht mehr und in der conciergeloge hängt eine verstaubte makramee-eule. es ist ein raum von ausgesuchter hässlichkeit, den bettina meyer in die grosse schiffbauhalle gebaut hat. der ideale ort für ödön von horváths „zur schönen aussicht“, diese kalte endzeit-komödie. könnte man meinen. doch die bombastische geschmacklosigkeit erstickt das stück aus dem jahr 1926 irgendwie, nimmt ihm die bittere schärfe. den abgehalfterten existenzen, die sich hier im kreis drehen (michael maertens als hoteldirektor, edmund telgenkämper als kellner, nicolas rosat als chauffeur, markus scheumann als spirituosenhändler, hans kremer als baron) schaut man zwar gerne zu, sie zelebrieren ihren physischen, moralischen und finanziellen ruin ganz vorzüglich, aber so richtig unheimlich wird es nie. selbst wenn da einer „wir brauchen einen neuen krieg“ in die runde ruft, verhallt das. und auch die ungeheuerlichkeit, wie die fünf die junge christine, die aus echter liebe ins hotel zurückkehrt, als hure brandmarken, um drohende alimentenpflichten abzuwenden, kommt weniger als ungeheuerlichkeit daher und mehr als müde attacke zerfallender männer. kurz: der schauspielhaus-intendantin barbara frey ist dieser abgesang auf jegliche vernunft arg brav und konventionell geraten. möglicherweise geht es ihr wie der baronin im stück: „ich bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ weshalb aus dem spitzzüngigen horváth eher wieder ein melancholischer tschechow wurde.

Freitag, 16. Februar 2018

ZÜRICH: MIR NÄMEDS UF ÖIS

johohe! hallojo! wie sie ihn jetzt plötzlich mögen, die zürcher ihren christoph marthaler, den sie 2004 so schnöde abserviert haben. wie sie schlange stehen für „mir nämeds uf öis“, sein comeback am schauspielhaus. wie das ganze haus jubelt am schluss. den nicht-zürcher berührt diese späte versöhnung doch etwas eigenartig, und auch dem ensemble scheint bei der sache nicht immer ganz wohl zu sein. sie halten den zürchern mit ihren globalen business-verstrickungen den spiegel vor („nehmen ist wie geben, nur ohne geben“), doch das machen sie in einem intergalaktischen bad-state-raumschiff aus sicherer distanz und immer so, dass es nicht zu fest weh tut. die zünftler bekommen ihr fett weg und die fifa und udo jürgens und die baulöwen, nümmerchen für nümmerchen, die grosse alte nikola weisse geistert im rosaroten silvia-blocher-deux-pièces durch die gegend, resp. durchs all und ueli jäggi gibt einen ehemaligen whistleblower mit zweitausbildung als damencoiffeur. alles dreht sich um zwangslagen und die befreiung aus zwangslagen, hübsches thema in einer finanzmetropole. aber irgendwie wird man den mindestens ebenso hübschen verdacht nicht los, dass die marthaler-bande vor allem eines wollte: endlich mal wagner singen („der weltberühmte schweizer komponist“), schmettern, aus voller kehle. der matrosenchor aus dem „fliegenden holländer“ gleich zu beginn im dauerloop: „johohe! hallojo! hojohe! hallojo! ho! he! he! ja! hailohe! hallohoje!“ der pilgerchor aus dem „tannhäuser“ mit steinerner miene und simultanübersetzung für hörbehinderte und, umwerfend, tora augestad mit dem „lied an den abendstern“ als englische schnulze. dann wartet der kenner natürlich nur noch auf, ja genau, den ultimativen walkürenritt. doch es kommt – der sechseläutenmarsch, übel veräppelt. marthaler eben, back in züri.

Freitag, 9. Februar 2018

AMSTERDAM: JESPER JUST

ein schwarzer mann marschiert kilometerweit durch ein abweisendes niemandsland, verdorrte wiesen, feuchte gruben, dreckige wege, darüber ein schleier aus staub oder smog. immer wieder zweigt er ab, doch die szenerie ändert sich nicht. bis irgendwo in der ferne der boulevard haussmann und der eiffelturm auftauchen. zwei andere jungs aus afrika fahren mit dem roller endlos durch diesen boulevard, er ist menschenleer, ein riesiger boulevard, aber menschenleer. die jungs wirken verloren darin und beginnen während der tour lieder aus ihrer heimat zu summen, der hinten klammert sich fast zärtlich an den vorne. wir sind nicht in paris, sondern in hangzhou. das heisst: wir sehen menschen aus afrika in einer stadt in china, die eine stadt in europa imitiert. identität, minderheiten, wünsche – das sind die grossen themen, mit denen sich der dänische künstler jesper just (1974)  in seinen filmischen installationen beschäftigt, die jetzt im filmmuseum eye in amsterdam umfassend präsentiert werden. „intercourses“, der essay aus hangzhou, wird in zwei grosszügigen räumen auf vier zum teil gebrochene wände projiziert: eine poetische, groteske, unbequeme meditation. wo ist die heimat dieser menschen, wo gehören sie hin? einer tastet mit seinen fingern behutsam die steine in dem nachgebauten boulevard haussmann ab, einer legt sein ohr an die wände; vielleicht suchen sie nach wärme in dieser kalten welt, vielleicht hoffen sie in der stille stimmen oder klänge aus afrika zu hören, vielleicht finden sie in dieser unwirtlichen umgebung einen ort für ihre tränen.

Dienstag, 6. Februar 2018

AMSTERDAM: TRISTAN UND ISOLDE

eine grosse schwarze flagge hängt während dem vorspiel zu richard wagners „tristan und isolde“ über der bühne, ein schwarzes quadrat, wohl acht auf acht meter, eine demonstrative leerstelle. sie kann stehen für das unausgesprochene und unerhörte dieser liebe, das verbotene und verborgene, für erinnerung und vorahnung – oder ist es einfach der blick aufs nächtliche meer vor cornwall? mit seiner inszenierung, die nach paris und rom jetzt an de nationale opera amsterdam gezeigt wird, lädt pierre audi dazu ein, diese leerstellen zu füllen – oder leer zu lassen. immer wieder taucht sie auf, die schwarze flagge, ein fixpunkt im labyrinth der emotionalen verwerfungen. audi gibt keine antworten, er deutet nur an. mit einfachsten mitteln (rostige platten, schwemmholz, magische steine) gelingen ihm und bühnenbildner christof hetzer betörend schöne bilder, die die zeitlosigkeit und tiefe dieses mythos unterstreichen. stephen gould als tristan, günther groissböck als könig marke und ricarda merbeth als isolde laden die weiten räume von beginn weg mit unerhörter energie auf, fordern ihren hochdramatischen stimmen das äusserste ab, ein permanenter vokaler rausch, atemberaubend. vor allem merbeth: noch nie hat man die isolde so resolut, so unerschrocken gesehen und gehört, noch nie war die fallhöhe zwischen der rächerin, die tristan vergiften will, und der ihn dann bedingungslos liebenden so gross. chefdirigent marc albrecht gelingt mit dem nederlands philharmonisch orkest ein grosses lyrisches gedicht; er findet alle farben, den zauber, die versunkenheit, die ekstase. am ende weicht die schwarze flagge wieder und isolde singt ihr „ertrinken, versinken, unbewusst, höchste lust“ in gleissendem gegenlicht, die reise zum tod ist eine reise in eine neue welt. standing ovation.

Samstag, 3. Februar 2018

ANTWERPEN: PELLÉAS ET MÉLISANDE

eine schöne frau steht vor uns, im halbtransparenten kleid und mit langen blonden haaren, zerbrechlich und irgendwie verklärt. hinter ihr planeten und kometen, das ganze firmament. mélisande scheint nicht von dieser welt zu sein. wo kommt sie her, wo will sie hin? "ne me touchez pas, ne me touchez pas", singt sie. sie ist mit golaud verheiratet, liebt aber seinen bruder pelléas und wandelt deshalb zwischen eifersucht und entfremdung auf stillen, umschatteten pfaden. diese frau bleibt ein geheimnis, uns und auch sich selber. maurice maeterlinck und claude debussy erzählen die geschichte von "pelléas und mélisande" mit vielen symbolen: wald, mond, grotte, brunnen. die performance-künstlerin marina abramović holt in ihrem konzept für die oper in antwerpen noch weitere hinzu: die planeten werden zu augen, die ins innere der menschen schauen, ihre bühne ist ein spiegel, darauf riesige kristalle (oder sind es eisbrocken?). dazu entwickelt das regie/choreografie-paar sidi larbi cherkaoui und damien jalet mit sieben jungen männern ein wuchtiges ballett, das die nöte der protagonisten körperhaft und bildstark begleitet und verstärkt; am eindrücklichsten, wenn sie aus dem langen haar von mélisande immer wieder ein weites netz spinnen, in dem sich alle verfangen. alles für sich klug gedacht und stimmig, in der summe allerdings eine symbolismus-flutwelle. die lenkt immerhin davon ab, dass der argentinische dirigent alejo pérez mit bläsern und streichern immer eine spur zu üppig aufträgt und die letzten nuancen des debussy-klangs, das feine flirren, nicht wirklich hinkriegt. das starke zentrum dieser disparaten welt sind die drei hauptdarsteller (mari eriksmoen, jacques imbrailo, leigh melrose). mit grosser stimmlicher ausstrahlung und darstellerischer präsenz bewegen sie sich schlafwandlerisch und subtil durch das dickicht von melodienbögen und reizüberflutung, einsam mit ihren gefühlen und ihren geheimnissen, lost in universe.