ist es überdruss? ist es langeweile? oder melancholie? „mein kopf ist ein leerer tanzsaal.“ büchners prinz leonce aus dem königreich popo ist ein weltmeister der lebensmüdigkeit. seinen leeren tanzsaal hat ihm regisseur und bühnenbildner thom luz ganz fabelhaft ins schauspielhaus des theaters basel gebaut: weiss in weiss, blätternde farbe, reste von prachtvollen stuckaturen, die decke notdürftig mit plastikplanen verhängt, seitlich ein undichtes fenster zum hof, raum gewordene melancholie, toll. ferner auf der bühne: ein zersägtes klavier, vorne rechts die tiefen, hinten links die hohen töne; annalisa derossi und daniele pintaudi wechseln virtuos von der einen zur anderen klavierhälfte, von strauss zu schumann und von bach zu bizet, und zwischendurch wird zwecks tonerzeugung auch mal eine violine von einer schuhputzmaschine misshandelt. luz steigert büchners lustspiel zur groteske. lisa stiegler und elias eilinghoff spielen die beiden königskinder, die vor der vorbestimmten heirat nach italien fliehen und sich auf der flucht ineinander verlieben, ohne zu ahnen, dass exakt sie sich ohnehin versprochen sind, carina braunschmidt und martin hug erledigen alle anderen rollen - alle hochartifiziell, alle hochpoetisch. die figuren reden nicht miteinander, sie rhythmisieren den text zur sprachpartitur, mal wortfetzen, mal sprachkaskaden, mal zelebrierte leerstellen. ganz neue töne, ganz neue bilder, und doch faszinierend nah bei büchners scharfem, weisem blick auf die hohlheit bei hofe, die zum leeren ritual erstarrten lebensformen und das zerschlagen der uhren als letzte utopie. „der weg zum narrenhaus ist nicht lang.“ na dann, zügeln wir.
Dienstag, 27. Februar 2018
Sonntag, 18. Februar 2018
ZÜRICH: ZUR SCHÖNEN AUSSICHT
das
hotel „zur schönen aussicht“ hat die zukunft bereits hinter sich: auf den
fleischkäsefarbenen und lindengrünen spannteppichen in der halle
kuhfladengrosse kaffee-, kotz- oder blutflecken, an den wänden blättert die
farbe, die treppen nach oben aus falschem marmor, das telefon in der kabine
funktioniert nicht mehr und in der conciergeloge hängt eine verstaubte makramee-eule.
es ist ein raum von ausgesuchter hässlichkeit, den bettina meyer in die grosse
schiffbauhalle gebaut hat. der ideale ort für ödön von horváths „zur schönen
aussicht“, diese kalte endzeit-komödie. könnte man meinen. doch die
bombastische geschmacklosigkeit erstickt das stück aus dem jahr 1926 irgendwie, nimmt ihm die
bittere schärfe. den abgehalfterten existenzen, die sich hier im kreis drehen
(michael maertens als hoteldirektor, edmund telgenkämper als kellner, nicolas
rosat als chauffeur, markus scheumann als spirituosenhändler, hans kremer als
baron) schaut man zwar gerne zu, sie zelebrieren ihren physischen, moralischen
und finanziellen ruin ganz vorzüglich, aber so richtig unheimlich wird es nie.
selbst wenn da einer „wir brauchen einen neuen krieg“ in die runde ruft,
verhallt das. und auch die ungeheuerlichkeit, wie die fünf die junge christine,
die aus echter liebe ins hotel zurückkehrt, als hure brandmarken, um drohende
alimentenpflichten abzuwenden, kommt weniger als ungeheuerlichkeit daher und
mehr als müde attacke zerfallender männer. kurz: der schauspielhaus-intendantin
barbara frey ist dieser abgesang auf jegliche vernunft arg brav und
konventionell geraten. möglicherweise geht es ihr wie der baronin im stück: „ich
bin nämlich eigentlich ganz anders, aber ich komme nur so selten dazu.“ weshalb
aus dem spitzzüngigen horváth eher wieder ein melancholischer tschechow wurde.
Freitag, 16. Februar 2018
ZÜRICH: MIR NÄMEDS UF ÖIS
johohe!
hallojo! wie sie ihn jetzt plötzlich mögen, die zürcher ihren christoph
marthaler, den sie 2004 so schnöde abserviert haben. wie sie schlange stehen
für „mir nämeds uf öis“, sein comeback am schauspielhaus. wie das ganze haus
jubelt am schluss. den nicht-zürcher berührt diese späte versöhnung doch etwas
eigenartig, und auch dem ensemble scheint bei der sache nicht immer ganz wohl
zu sein. sie halten den zürchern mit ihren globalen business-verstrickungen den
spiegel vor („nehmen ist wie geben, nur ohne geben“), doch das machen sie in einem intergalaktischen bad-state-raumschiff aus sicherer distanz und immer
so, dass es nicht zu fest weh tut. die zünftler bekommen ihr fett weg und die
fifa und udo jürgens und die baulöwen, nümmerchen für nümmerchen, die grosse alte nikola weisse
geistert im rosaroten silvia-blocher-deux-pièces durch die gegend, resp. durchs
all und ueli jäggi gibt einen ehemaligen whistleblower mit zweitausbildung als
damencoiffeur. alles dreht sich um zwangslagen und die befreiung aus zwangslagen, hübsches thema in einer finanzmetropole. aber irgendwie wird man
den mindestens ebenso hübschen verdacht nicht los, dass die marthaler-bande vor
allem eines wollte: endlich mal wagner singen („der weltberühmte schweizer
komponist“), schmettern, aus voller kehle. der matrosenchor aus dem „fliegenden
holländer“ gleich zu beginn im dauerloop: „johohe! hallojo! hojohe! hallojo!
ho! he! he! ja! hailohe! hallohoje!“ der pilgerchor aus dem „tannhäuser“ mit
steinerner miene und simultanübersetzung für hörbehinderte und, umwerfend, tora
augestad mit dem „lied an den abendstern“ als englische schnulze. dann wartet
der kenner natürlich nur noch auf, ja genau, den ultimativen walkürenritt. doch
es kommt – der sechseläutenmarsch, übel veräppelt. marthaler eben, back in
züri.
Freitag, 9. Februar 2018
AMSTERDAM: JESPER JUST
ein
schwarzer mann marschiert kilometerweit durch ein abweisendes niemandsland,
verdorrte wiesen, feuchte gruben, dreckige wege, darüber ein schleier aus staub
oder smog. immer wieder zweigt er ab, doch die szenerie ändert sich nicht. bis
irgendwo in der ferne der boulevard haussmann und der eiffelturm auftauchen.
zwei andere jungs aus afrika fahren mit dem roller endlos durch diesen
boulevard, er ist menschenleer, ein riesiger boulevard, aber menschenleer. die
jungs wirken verloren darin und beginnen während der tour lieder aus ihrer
heimat zu summen, der hinten klammert sich fast zärtlich an den vorne. wir sind
nicht in paris, sondern in hangzhou. das heisst: wir sehen menschen aus afrika
in einer stadt in china, die eine stadt in europa imitiert. identität, minderheiten,
wünsche – das sind die grossen themen, mit denen sich der dänische künstler
jesper just (1974) in seinen filmischen installationen
beschäftigt, die jetzt im filmmuseum eye in amsterdam umfassend präsentiert
werden. „intercourses“, der essay aus hangzhou, wird in zwei grosszügigen
räumen auf vier zum teil gebrochene wände projiziert: eine poetische, groteske,
unbequeme meditation. wo ist die heimat dieser menschen, wo gehören sie hin?
einer tastet mit seinen fingern behutsam die steine in dem nachgebauten
boulevard haussmann ab, einer legt sein ohr an die wände; vielleicht suchen sie
nach wärme in dieser kalten welt, vielleicht hoffen sie in der stille stimmen
oder klänge aus afrika zu hören, vielleicht finden sie in dieser unwirtlichen
umgebung einen ort für ihre tränen.
Dienstag, 6. Februar 2018
AMSTERDAM: TRISTAN UND ISOLDE
eine
grosse schwarze flagge hängt während dem vorspiel zu richard wagners „tristan und isolde“ über
der bühne, ein schwarzes quadrat, wohl acht auf acht meter, eine demonstrative
leerstelle. sie kann stehen für das unausgesprochene und unerhörte dieser liebe,
das verbotene und verborgene, für erinnerung und vorahnung – oder ist es
einfach der blick aufs nächtliche meer vor cornwall? mit seiner inszenierung,
die nach paris und rom jetzt an de nationale opera amsterdam gezeigt wird, lädt
pierre audi dazu ein, diese leerstellen zu füllen – oder leer zu lassen. immer
wieder taucht sie auf, die schwarze flagge, ein fixpunkt im labyrinth der
emotionalen verwerfungen. audi gibt keine antworten, er deutet nur an. mit
einfachsten mitteln (rostige platten, schwemmholz, magische steine) gelingen
ihm und bühnenbildner christof hetzer betörend schöne bilder, die die
zeitlosigkeit und tiefe dieses mythos unterstreichen. stephen gould als
tristan, günther groissböck als könig marke und ricarda merbeth als isolde
laden die weiten räume von beginn weg mit unerhörter energie auf, fordern ihren
hochdramatischen stimmen das äusserste ab, ein permanenter vokaler rausch, atemberaubend.
vor allem merbeth: noch nie hat man die isolde so resolut, so unerschrocken
gesehen und gehört, noch nie war die fallhöhe zwischen der rächerin, die tristan vergiften
will, und der ihn dann bedingungslos liebenden so gross. chefdirigent marc
albrecht gelingt mit dem nederlands philharmonisch orkest ein grosses lyrisches
gedicht; er findet alle farben, den zauber, die versunkenheit, die ekstase. am
ende weicht die schwarze flagge wieder und isolde singt ihr „ertrinken, versinken,
unbewusst, höchste lust“ in gleissendem gegenlicht, die reise zum tod ist eine reise
in eine neue welt. standing ovation.
Samstag, 3. Februar 2018
ANTWERPEN: PELLÉAS ET MÉLISANDE
eine schöne frau steht vor uns, im halbtransparenten kleid und mit langen blonden haaren, zerbrechlich und irgendwie verklärt. hinter ihr planeten und kometen, das ganze firmament. mélisande scheint nicht von dieser welt zu sein. wo kommt sie her, wo will sie hin? "ne me touchez pas, ne me touchez pas", singt sie. sie ist mit golaud verheiratet, liebt aber seinen bruder pelléas und wandelt deshalb zwischen eifersucht und entfremdung auf stillen, umschatteten pfaden. diese frau bleibt ein geheimnis, uns und auch sich selber. maurice maeterlinck und claude debussy erzählen die geschichte von "pelléas und mélisande" mit vielen symbolen: wald, mond, grotte, brunnen. die performance-künstlerin marina abramović holt in ihrem konzept für die oper in antwerpen noch weitere hinzu: die planeten werden zu augen, die ins innere der menschen schauen, ihre bühne ist ein spiegel, darauf riesige kristalle (oder sind es eisbrocken?). dazu entwickelt das regie/choreografie-paar sidi larbi cherkaoui und damien jalet mit sieben jungen männern ein wuchtiges ballett, das die nöte der protagonisten körperhaft und bildstark begleitet und verstärkt; am eindrücklichsten, wenn sie aus dem langen haar von mélisande immer wieder ein weites netz spinnen, in dem sich alle verfangen. alles für sich klug gedacht und stimmig, in der summe allerdings eine symbolismus-flutwelle. die lenkt immerhin davon ab, dass der argentinische dirigent alejo pérez mit bläsern und streichern immer eine spur zu üppig aufträgt und die letzten nuancen des debussy-klangs, das feine flirren, nicht wirklich hinkriegt. das starke zentrum dieser disparaten welt sind die drei hauptdarsteller (mari eriksmoen, jacques imbrailo, leigh melrose). mit grosser stimmlicher ausstrahlung und darstellerischer präsenz bewegen sie sich schlafwandlerisch und subtil durch das dickicht von melodienbögen und reizüberflutung, einsam mit ihren gefühlen und ihren geheimnissen, lost in universe.
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