Samstag, 15. Dezember 2018

ZÜRICH: MARTHALERS 44 HARMONIES

nach zwei stunden giesst einer in aller seelenruhe den wald aus notenständern, der über die ganze spielfläche verteilt ist. vier junge cellistinnen spielen dazu das adagietto aus gustav mahlers fünfter sinfonie. alle anderen legen sich in den riesigen sandkasten auf der vorderbühne, machen es sich bequem und schlafen ein. ist das jetzt die totale harmonie? die komposition „44 harmonies from apartment house 1776“ von john cage hat es christoph marthaler und seinem ensemble dermassen angetan, dass sie im schiffbau des zürcher schauspielhauses gleich einen ganzen abend daraus basteln. ein abend, der für marthalersche verhältnisse extrem unklamaukig daherkommt. natürlich geht es in anna viebrocks hellblau gestrichenem pfarreisaal nicht ganz ohne die bespassung von telefonkabinen oder einen grotesken pas de deux mit stapelbaren stühlen. doch im zentrum steht immer die klangwelt von john cage, der den harmonien auf die schliche kommen wollte, indem er in bekannten hymnen bestimmte tonhöhen eliminierte und diese lücken wirken liess, poetische pausen. dieser von den vier cellistinnen betörend schön gespielten rätselreise durch fehlende töne mengt marthaler noch exkursionen in die welt der pilze bei, da cage geradezu ein pilznarr war. ihn faszinierten die unbestimmtheit und die anarchische harmonie ihres lebenslänglichen und grösstenteils unsichtbaren wachsens. die beiden marthaler-oldies ueli jäggi und graham valentine nehmen auch diese kurve philosophisch-elegant: „neuere untersuchungen zeigen, dass wir nur 25 prozent von dem fühlen, was wir fühlen sollten.“ wir haben von diesem abend vielleicht nur 25 prozent verstanden, aber deutlich mehr gefühlt. „44 harmonies…“ ist marthaler für fortgeschrittene.

Montag, 10. Dezember 2018

MÜNCHEN: LUST DER TÄUSCHUNG

klar, wir lassen uns ganz gerne täuschen. wie war das doch gleich, als wir das mittlerweile unvermeidliche cheminéefeuer auf dem flachbildschirm im hotelzimmer das erste mal gewärtigten? eben. genau so ging es unseren lieben vorfahren im 18.jahrhundert, als sich der hübsch drappierte salatkopf auf dem reich gedeckten tisch der gastgeber als deckelterrine aus porzellan entpuppte. optische täuschungen gab es schon immer, künstler und designerinnen machten und machen sich einen spass aus dem spiel mit unseren sinnen. und wir lernen dabei sogar etwas: wahrnehmung ist relativ. unter dem titel „lust der täuschung“ zeigt die kunsthalle münchen einen höchst amüsanten parcours durch die jahrtausende, „von antiker kunst bis zur virtual reality“. das reicht von kleinen sujets wie gefälschten traueranzeigen bis zu ganzen räumen, die über ihre wirklichen masse hinaus vergrössert werden durch perspektivische malereien oder bildtapeten. was ist echt und was ist falsch, was fakt und was fiktion? in zeiten von fake news ist dieser befund nicht mehr so einfach zu erheben. immerhin bietet diese ausstellung viele anreize, sich dies bewusster zu machen und die sinne zu schärfen. so kann es eine kritik der herrschenden verhältnisse sein oder aber durchaus auch deren fortführung mit anderen mitteln, wenn philipp messner in seinem exponat die überwachungskameras am münchner hauptbahnhof mit 3d-masken überlistet, die er sich überstülpt. lust der täuschung? die lage ist ernst.

Samstag, 1. Dezember 2018

MÜNCHEN: DAS LIED VON DER ERDE

„still ist mein herz und harret seiner stunde.“ es ging gustav mahler nicht gut, als er „das lied von der erde“ komponierte: tod der vierjährigen tochter, verlust der stelle als direktor der wiener hofoper nach einer antisemitischen hetzkampagne, diagnose einer schweren herzkrankheit. die letzten dinge beschäftigten ihn wie nie zuvor und so entstand, basierend auf chinesischen gedichten, ein liedzyklus voller herbst und voller schatten, abschied und ende. mehr november geht nicht. „ist das überhaupt zum aushalten? werden sich die menschen nicht darnach umbringen?“ soll mahler seinen freund bruno walter gefragt haben. die kammeroper münchen unter der leitung von nabil shehata führt das romantisch-melancholische werk jetzt in der allerheiligen-hofkirche der münchner residenz auf, ein konzertraum von grandioser schlichtheit, nur neobyzantinische bögen und backsteinmauern, die vom lichtdesigner wolfgang förster in schwere farben getaucht werden. alexander krampe schrieb ein arrangement für ein 15köpfiges kammerorchester, das erstaunlich gut funktioniert, weil sich die musikerinnen und musiker immer dem gesamtklang, dem grossen atem verpflichtet fühlen und solistische ambitionen vornehm zurückstellen. die mezzosopranistin okka von der damerau und der tenor dean power, beide ensemblemitglieder der bayerischen staatsoper, tauchen tief ein in mahlers gefühlswelt, mit impulsiver eleganz in den aufbrausenden momenten zu beginn, zart und innig dann in den phasen der trauer über vergangenes und vergängliches: „ich weine viel in meinen einsamkeiten. der herbst in meinem herzen währt zu lange.“ mehr november geht nicht.

Freitag, 30. November 2018

MÜNCHEN: ENDSPIEL

nur ein stuhl auf der grossen schwarzen bühne, ascheregen vom himmel, endzeit total. der blinde hamm hängt geschichten aus vergangenen zeiten nach, sein diener clov versucht einen floh aus der unterhose zu fischen. der eine will sein beruhigungsmittel, der andere guckt von der nicht vorhandenen leiter in die ferne. der eine brüllt seine aus der versenkung auftauchenden greisen eltern an, der andere spielt hund. der eine wartet auf das ende, der andere auch. anne lenk inszeniert das „endspiel“ von samuel beckett am residenztheater in münchen, sie liebt diese sprache, sie liebt einfache bilder, sie liebt diese figuren. es hat etwas rührendes, wie sich oliver nägele (61) als hamm und franz pätzold (29) als clov umspielen und die absurden dialoge wie ein ping-pong abschnurren. dass nägele immer wieder in einen exaltiert-schallenden staatsschauspieler-ton verfällt, macht die sache für den lakonischen pätzold gewiss nicht einfacher, aber bestimmt reizvoller. und er hält das durch, ein leiser, ein poetischer clown. sie kommen von einander nicht los, der eine ist auf hilfe angewiesen, der andere auf einen job („ergänzungs-krüppel“ nennt das georg hensels schauspielführer). also spielen sie sich dem ende entgegen, gemeinsam, herr und knecht vereint in ihrer perspektivlosigkeit. nur noch spielen hilft, wenn die menschen angesichts der katastrophen ohne antworten auskommen müssen. „ich möchte, dass in diesem stück viel gelacht wird“, sagte beckett einmal, als er selber inszenierte. er meinte die schauspieler, nicht das publikum. dieses entlässt anne lenk wie sie es begrüsste, im ascheregen.

Sonntag, 18. November 2018

MONTRICHER: DER FUCHS, DER RUSSE, DIE LITERATUR

en bois désert lautet die adresse, waldige wüste, wüster wald. irgendwo am rand der weiten wälder der waadt, wo die schweizer armee einsam und optimistisch den endkampf gegen die russen trainiert, liegt montricher. schade, dass man das in der deutschschweiz nicht kennt, denn am oberen dorfende, also dort, wo sich der fuchs und der sich anschleichende russe gute nacht sagen, en bois désert, befindet sich seit 2013 die maison de l’écriture der fondation jan michalski. und das ist keine maison, die das verlegerpaar vera und jan michalski hier hinzaubern liess, sondern ein riesiger palast, ganz der literatur und ihren liebhabern gewidmet. man erinnert sich sofort an den pavillon du mariage an der expo.02 in yverdon: ein dominantes, von vielen schlanken säulen getragenes flachdach, hier mit riesigen emmentaler-löchern. darunter platzierten die architekten vincent mangeat und pierre wahlen – mit viel kaltem sichtbeton aussen und viel warmem holz innen – ein auditorium, einen ausstellungssaal (wo man im moment lustvoll und ausführlich der graphic novel huldigt) und eine fünfstöckige öffentliche bibliothek, mit einem umwerfend reichen angebot, mit einladenden sitzecken und arbeitsnischen, die den blick bis in die savoyer alpen schweifen lassen und bestimmt die eine und den anderen immer wieder vom arbeiten abhalten. zusätzlich gibt’s unter dem grossen dach sieben frei hängende hütten, von unterschiedlichen architekten entworfen, die als residenz-appartements für autorinnen und autoren gedacht sind. das ganze ensemble wirkt trotz seiner grösse ausgesprochen verspielt und einladend. ein ort der ruhe, ein ort zum schmökern, ein ort der inspiration. mitten in der wüste.

Montag, 12. November 2018

VENEZIA: FREESPACE

„freespace“ lautet das motto der architekturbiennale in venedig. freiraum, freier raum, raum frei machen? was ist gemeint? alles. und noch mehr. die kuratorinnen yvonne farrell und shelley mcnamara denken in ihrem manifest auch an menschlichkeit und grosszügige möglichkeiten. der schweizer pavillon beim eingang ist ein idealer einstieg in die thematik: eine typische leere, weisse neubauwohnung, bei der aber sämtliche proportionen aus den fugen geraten, mal viel zu gross, mal viel zu klein, damit die standards hinterfragt und neu gedacht werden. genau dies zeichnet diese biennale aus: dass gesellschaftspolitische postulate durchaus spielerisch umgesetzt werden. die iren verweisen in ihrem pavillon auf das kommunikative potenzial von marktplätzen; tschechen und slowaken hoffen, dass auch in unesco-weltkulturerbe-städten wieder normales leben möglich wird; die australier füllen ihren raum mit prächtig dampfendem grünzeug; die letten zeigen selbstkritisch, was im wohnungsbau alles schief laufen kann; die russen entdecken ausgediente gleisfelder als neue stadtareale; die briten haben ihren pavillon leer geräumt und laden dafür zum tee aufs sonnendeck, pause oder neuanfang? der marathon durch diese biennale ist ein ausgesprochen sinnliches vergnügen, nicht nur für architektinnen und architekten. viele installationen könnten auch teil der kunstbiennale sein. und wie dort ist auch hier oft das einfache das bestechende: die albaner haben ein paar alte farbige holztüren in ihren raum gestellt, dazwischen und darüber baumeln hunderte von bildern mit ebenso farbigen alltagsszenen. gebt den leuten ihre freiräume, lautet die botschaft, sie werden sie kreativ zu nutzen wissen wie die albaner nach dem ende der diktatur. 

Samstag, 3. November 2018

LUZERN: ROMÉO ET JULIETTE

was für ein glücksfall für das luzerner theater, was für ein traumpaar: regula mühlemann und diego silva sind „roméo et juliette“. die international durchgestartete sopranistin aus luzern und der hier regelmässig gastierende mexikanische tenor geben ihre rollendebuts in gounods oper. beide jung, beide bildhübsch, beide mit facettenreichen stimmen. eine idealere besetzung kann man sich für die berühmteste und traurigste liebesgeschichte nicht wünschen. so zart, so glaubwürdig verkörpern sie diese tastende erste liebe zweier jugendlicher aus zwei in tiefstem hass verfeindeten familien. sie singen küssend, sie singen sich umgarnend, sie singen liegend, sie singen sterbend – und ihre seelen, das berührt zutiefst, singen mit. sie tun dies in einem grottenhässlichen bühnenbild von aurélie maestre, einem klaustrophobischen raum aus falschem beton und falschem marmor, museum und krematorium gleichermassen. die ahnen, wir ahnen es. regisseur vincent huguet will illustrieren, wie einengend und tödlich die zwänge und zwiste der älteren generation für die jüngere sein können. ein plausibler ansatz, der allerdings durch klamauk von präpotenten jungs und karikaturen von debilen senioren zunichte gemacht wird. kommt dazu, dass clemens heil und das luzerner sinfonieorchester den hochemotionalen gounod-klang selten finden, vieles gerät zu grell, zu forsch, und die ärgerlich langen umbaupausen sind dem musikalischen flow auch nicht eben zuträglich. was das ereignis der saison hätte werden können, endet als durchaus konventionelle, mitunter verunglückte veranstaltung. trotzdem gab’s bei der première eine standing ovation, für das tolle, junge sängerensemble immerhin absolut verdient.

Montag, 15. Oktober 2018

LYON: MEFISTOFELE

die ouverture ist noch nicht zu ende, die 36 seziertische im labor des dr. faust sind erst dürftig abgewischt, da metzelt mefistofele mit dem stellmesser unschuldige kinder in weissen overalls nieder, worauf sich ebenfalls blendend weisse engel auf ihn stürzen und ihm das herz aus der brust schneiden. es kann losgehen. arrigo boitos „mefistofele“ (1868), der sonst oft als windig-charmanter seelendealer gezeigt wird, ist in der inszenierung von alex ollé und seiner künstlerbande la fura dels baus an der oper lyon ein gefährlicher psychopath, jeder empathie unfähig. der kanadische bass john relyea ist dafür die idealbesetzung, ein brocken von mann mit einer abgrundtief orgelnden stimme, furchterregend wie ein durchgeknallter finnischer holzfäller. fausts reise durch die hölle wird hier zu einer reise durch die kranken gedanken und blutigen visionen des mefistofele. er ist der gnadenlose manipulator. in seiner phantasie endet fausts kurzzeit-braut margherita nicht verbittert im kerker, sondern spektakulär auf dem elektrischen stuhl. das sind bilder, wie sie la fura dels baus lieben: lichtorgien, bühnenrauch, immer neue treppen vom himmel zur hölle, glitzerkostüme und federboas, ein visueller rausch. diese überbordende effektlust deckt die schwächen des abends weitgehend zu: die unausgegorenen längen der partitur, das solide, aber doch sehr plakative dirigat von daniele rustioni, die kurzatmige, unsichere stimme von paul groves‘ faust. für ihn gibt’s in dieser horrorwelt weder erleuchtung noch erlösung; auch er wird von mefistofele am schluss brutal gemeuchelt, orchester-fortissimo, gute nacht, du schlechte welt.

Donnerstag, 11. Oktober 2018

ZÜRICH: WAHLVERWANDTSCHAFTEN

platz frei für goethes laborratten. das labor auf der bühne des zürcher schauspielhauses ist ein sich nach hinten verjüngendes spiegel-und-neon-raumschiff. in diesen kalten, geschlossenen raum setzt regisseurin felicitas brucker den roman "wahlverwandtschaften", für den goethe chemische experimente der anziehung und abstossung auf menschen übertrug: ein ehepaar und zwei gäste verlieben sich über kreuz, das verhängnis nimmt seinen lauf, am ende drei tote. abgesehen von ebenso unnötigen wie dämlichen musikeinlagen (marcel blatti) gelingt der regisseurin ein dichtes, zunehmend deprimierendes arrangement, welches das feinstoffliche der dialoge, monologe und erzählpassagen herausarbeitet, den fatalen widerstreit von leidenschaft und vernunft, von entgrenzung und entsagung. „aufräumarbeiten im liebeschaos“ heisst es im programmheft treffend. die chemie (um bei goethes ausgangspunkt zu bleiben) zwischen den vier schauspielern stimmt ganz offensichtlich so hervorragend, dass in jedem augenblick der rasanten eineinhalb stunden völlig klar bleibt, dass die chemie zwischen den figuren eben nicht stimmt, in dieser versuchsanordnung nie stimmen kann. vor allem der charlotte von julia kreusch im frech kurzen knallorangen kleidchen gelingt es dabei überzeugend, goethes mittlerweile etwas entfernte sprache in einen absolut heutigen tonfall zu bringen, charlotte 1809 glaubwürdig als charlotte 2018. es ist ein grosses verdienst des theaters, auch romane, die trotz ihrer zeitlosen gültigkeit in den hintergrund geraten sind, wieder ans licht zu holen, auch wenn dieses licht dann grell und kalt ist. hier ist es die kälte der dating-welt. goethes laborratten sind mitten unter uns.

Mittwoch, 10. Oktober 2018

ZÜRICH: EINE VERSION DER GESCHICHTE

ist das nicht die stimme von babik auf diesem tonband? unser grossvater? die uralte aufnahme in armenisch weckt erinnerungen und wirft fragen auf. für ihr preisgekröntes stück „eine version der geschichte“ (2018) nahm simone kucher das grosse schweigen um den genozid an den armeniern (1915) als ausgangspunkt. eine berliner violinistin mit armenischen wurzeln, ihr bruder, ihre mutter, ein dirigent mit türkischen wurzeln und ein alter mann sind auf spurensuche. marco milling setzt und stellt sie in seiner inszenierung in der kammer des zürcher schauspielhauses in eine art tonstudio, eingepfercht wie in einem wartezimmer, ausgestellt wie in einem schaufenster, ausweichen unmöglich. spotartig folgen sich kurze begegnungen, kurze sequenzen über das erinnern. wie hat die geschichte unserer familie mit der geschichte unseres volkes zu tun? die autorin interessiert sich für das kleine im grossen, das private im politischen. die einen möchten viel wissen und immer noch mehr, die anderen möchten vergessen. die einen sind überzeugt, dass logik hilfreich ist bei der kombination von erinnerungsfetzen, andere stört sie nur. tut erinnerung weh oder tut sie gut oder beides? warum erinnern wir uns an vieles erst nach jahren? weil wir früher nicht konnten oder weil wir nicht wollten? fünf personen auf der suche nach – sich selbst. ein ernstes konversationsstück und gleichzeitig ein sehr poetisches puzzle. "nach und nach wird das unfassbare fassbar, das abstrakte konkret." vielleicht und vielleicht auch nicht. was sind geschichten und was ist wahrheit? der armenische grossvater begann seine erzählungen immer so: es war oder es war nicht.

Sonntag, 7. Oktober 2018

PARIS: ZWEI, DIE MIT 28 STARBEN

egon schiele lebte von 1890 bis 1918, jean-michel basquiat von 1960 bis 1988. beide starben mit 28, schiele an der spanischen grippe, basquiat an einer überdosis. die fondation louis vuitton im bois de boulogne in paris kombiniert das werk vom anfang und jenes vom ende des vergangenen jahrhunderts zu einer riesigen, faszinierenden schau – überbordend wie das fieberhafte künstlerleben der beiden: wiener moderne meets street art. im untergeschoss schieles grenzerfahrungen zwischen eros und tod, dazu zahl- und aufschlussreiche selbstporträts, die verdeutlichen, wie sehr der junge mann an der welt und an sich selbst litt: schiele als vitaminarmer jüngling, schiele als zynischer skeptiker, schiele als diabolisches monster. und dann, nahtlos, basquiat! auch er ein produktiv leidender! weit über 100 grossformatige (zum teil selten, zum teil nie gezeigte) werke in x räumen auf x etagen. allein diese fülle haut einen um. mit fettkreide und ölfarbe schmiert er wände und leinwände voll. alles hat er schon als jugendlicher verschlungen, anatomische und ökonomische studien, bibel und bebop, afrikanische diasporakultur und klassische literatur. und alles taucht in seinen farbigen, wilden bildern wieder auf, ebenso expressiv wie dekorativ. mit copy/paste in vollendeter form schafft er knallige, pulsierende ikonen der moderne. was für eine lebensgier vor dem viel zu frühen tod. ein einziges bild fällt völlig aus dem rahmen: nur zwei figuren, ein rotes strichmännchen auf einem knieenden skelett, viel leere graue leinwand. es könnte eine skizze von schiele sein. „riding with death“ war eines von basquiats letzten werken.

Samstag, 6. Oktober 2018

PARIS: TRISTAN UND ISOLDE

operninszenierungen mit videoeinspielungen gibt’s zuhauf, die bildspur ist meist nicht zwingendes zugemüse. die pariser oper ging für einmal den umgekehrten weg: der grosse videokünstler bill viola schuf zu wagners „tristan und isolde“ eine vierstündige bildmeditation, der sich die inszenierung von peter sellars vornehm unterordnet. für einmal steht das video prominent im zentrum: auf der bühne der bastille nichts als eine riesige leinwand, in den ersten beiden akten im querformat, im dritten akt hoch, darauf flammen und fluten und farbenspiele, rituelle waschungen, liebkosungen, spaziergänge ins blendende licht, apotheose. wagners liebesrausch-, nacht- und todesmelodien werden nicht kommentiert, sondern im rhythmus der musik visuell verstärkt, das transzendente unterstreichend, bilder nicht von dieser welt. oper, ganz im sinne des komponisten also, als rauschhaftes gesamtkunstwerk. die sängerinnen und sänger bewegen sich zwischen leinwand und rampe, vom regisseur geradezu minimalistisch choreografiert und von philippe jordan mit grossem atem dirigiert. während der sopran von martina serafins isolde von akt zu akt kantiger und schriller wird, steigert sich andreas schager als tristan grandios: ein strahlender tenor, dessen dynamische kraft nie nachlässt und sich, als das schiff mit der geliebten endlich bei dem schwer verwundeten eintrifft, zur finalen ekstase erhebt („welches sehnen! welches bangen! sie zu sehen, welch verlangen!“); lust und schmerz und todesahnung sind in dieser stimme vereint, ein überwältigender auftritt. so wie tristan und isolde im liebestod versinken, taucht der zuschauer ein in bilder, töne, teils bedrückende, teils verführerische assoziationen.

Donnerstag, 4. Oktober 2018

PARIS: BÉRÉNICE, EIN ALBTRAUM

„nous séparer?“ bérénice kann es nicht fassen. sie liebt titus und titus liebt sie. und doch macht er schluss, weil ihm die macht wichtiger ist als die frau: ein römischer kaiser und eine syrische königin sind ein no-go. bérénice verliert den boden unter den füssen, windet sich auf einem stuhl, spielt mit einem brautschleier, den sie nie tragen wird. barbara hannigan zeigt im palais garnier alle facetten dieser frau – verzweiflung, zorn, einsamkeit – indem sie gesanglich und darstellerisch bis zum äussersten geht, phänomenal. im auftrag der opéra national de paris hat der genfer komponist michael jarrell (*1958) aus jean racines handlungsarmer tragödie „bérénice“ eine oper geschaffen – oder sich vielmehr zu einer oper gezwungen, denn im programmheft erläutert er ausführlich, wie schwer er sich mit den figuren tat und wie wenig er von gesungenem französisch hält. fürs orchester gelingen ihm zwar immer wieder suggestive sequenzen, dunkle klangwelten, doch mit den stimmen bleibt er nahe am sprechgesang, virtuose gesangslinien sind seine sache definitiv nicht. dem dirigenten philippe jordan und vor allem dem regisseur claus guth ist es zu verdanken, dass die eineinhalb stunden trotzdem ein erfolg werden: sie verdichten die künstliche sprache (alexandriner), den monotonen gesang und rätselhafte bilder zu einem fortwährenden albtraum. neben hannigan irren bo skovhus (auch er ein theatertier) als titus und ivan ludlow als sein freund und nebenbuhler antiochus durch drei nebeneinander liegende hohe klassizistische räume, die mehr und mehr zum gefängnis ihrer gefühle werden. drei räume, drei menschen, die trennung als albtraum. von diesem abend bleiben die bilder haften, nicht die musik.

Dienstag, 2. Oktober 2018

PARIS: LES HUGUENOTS

paris, 23.mai 2063, aus dem tagebuch eines unbekannten soldaten: "nous, la fière jeunesse de la république, sommes appelés par dieu et par le peuple, à anéantir et à brûler dans le jardin terrestre de dieu tout ce qui ne relève pas de la vrai foi." religiösen fanatismus wird es immer geben, deshalb stellt regisseur andreas kriegenburg dieses fiktive zitat aus der zukunft als klammer über seine inszenierung von giacomo meyerbeers "les huguenots" an der pariser bastille. diese oper über die tödlichen glaubenskriege rund um die bartholomäusnacht 1572 und damit verbundene private intrigen und schicksale aus der zeit zu lösen, ist eine plausible idee. doch kriegenburg scheitert: er arrangiert viereinhalb stunden lang erlesene tableaux vivants; menschen in kostümen aus sündhaft teuren stoffen bevölkern blendend weisse räume, die in verführerisch schönes licht getaucht werden. trotz vereinzelten blutspuren landet das ganze immer wieder ungebremst in der kitschfalle, der hochpolitische stoff wird hochästhetischen bildern geopfert. das ist opern-kulinarik von ihrer üblen seite. dafür ist der lange abend musikalisch ein ereignis. die frauen, die die streitenden parteien versöhnen wollen, tun dies mit betörenden stimmen: lisette oropesa als marguerite de valois mit in allen farben funkelnden koloraturen, ermonela jaho als ihre vertraute valentine mit dramatischer wucht. der italienische dirigent michele mariotti arbeitet den reichtum von meyerbeers melodien in jedem einzelnen takt heraus, mit grossem gespür für die massenszenen dieser grand opéra genauso wie für intime, kammermusikalische momente. das ist opern-kulinarik von ihrer besten seite.

Sonntag, 30. September 2018

LUZERN: MOZART IST NICHT MEIN NIVEAU

ein in die jahre gekommener hamburger punkrocker versucht sich auffällig lustvoll an türk pop, tänzer von der côte d’ivoire hämmern afro-beats in den saal, der wildgewordene conférencier faselt von seinem coming-out und der darauffolgenden 20jährigen psychoanalyse, das sinfonieorchester macht sich an den pet shop boys zu schaffen und in der reihe vor uns ist ein kaum einjähriges mädchen an der brust seines vaters voll dabei, mit grossen augen und ersten klatschversuchen. wo sind wir? im luzerner theater. bei mozart. bei mozart? seine mädchenräuber-story „die entführung aus dem serail“ wird vom performancekollektiv gintersdorfer/klassen und dem luzerner intendanten benedikt von peter bis zur unkenntlichkeit entstellt und neu montiert. die produktion, ursprünglich fürs theater bremen, hinterfragt radikal alles, was mozart hergibt: den dialog der kulturen, den sieg der wahren liebe, die edlen absichten der aufklärung und überhaupt sinn und unsinn des opernbetriebs, vor allem dies. unmotiviert fiedle das orchester doch oft das ganze zeug runter, ein rein maschineller vorgang. ja! man sieht sich die musikerinnen und musiker genauer an, denn sie spielen diesmal auf der bühne, und nur wenige lassen sich anstecken vom feuer, vom ebenso geistreichen wie witzigen rambazamba. „les robots ne conaissent pas le blues“ heisst der abend gerade deshalb. zwischendurch gibt’s erfreulich oft aus mozarts original zu hören, vorgetragen von hervorragenden sängerinnen und sängern (darunter nicole chevalier, die legendäre luzerner „traviata“). zum grossen abschiedsduett von konstanze und belmonte tragen schliesslich alle demo-schilder auf die spielfläche. „mozart ist nicht mein niveau“ steht auf einem, von einer geradezu zärtlichen ironie, wie der ganze abend. das baby vor uns ist unterdessen eingeschlafen. reizüberflutung.

Samstag, 29. September 2018

BOCHUM: DIE TRÄUME DER ANDEREN

„deutschland muss weniger deutsch werden“, fordert johan simons im jahrbuch der zeitschrift „theater heute“. er meine das nicht arrogant, betont der holländer, sondern eher verführerisch. simons, der in deutschland bereits die münchner kammerspiele und die ruhrtriennale leitete, übernimmt jetzt im herbst das schauspielhaus bochum. er wird in seinem ensemble auch schauspielerinnen und schauspieler aus belgien, estland, frankreich, ghana, grossbritannien, kenia, russland, surinam und der türkei beschäftigen. denn: „wir wissen zu wenig über die träume der anderen.“ beginnen wir, mit den anderen zu träumen. wo, wenn nicht im theater?

Freitag, 28. September 2018

MÜNCHEN: MARAT/SADE

marquis de sade liegt in einer ecke, erschöpft und resigniert. charlotte schwab spielt ihn grossartig, mit unappetitlicher wampe und schütterem haar, ein alter zyniker, der für das revolutionstheater, das er mit den anderen patienten des hospizes von charenton aufführen sollte, nur noch ein kaltes grinsen übrig hat. die revolution und ihre ideale sind mausetot. die verfolgung und ermordung ihres wortführers jean paul marat schrieb peter weiss 1964 nicht als doku-drama, sondern als stück im stück, als moritat im irrenhaus, mit der für eine groteske nötigen distanz – und mit grossem internationalem erfolg. am residenztheater in münchen macht tina lanik aus „marat/sade“ eine rasante polit-revue, bissig und mit sehr viel blut in der badewanne, in der marat seine letzten stunden verbringt. dieser ist bei nils strunk ein junger feuriger idealist, verwegen und oft etwas eindimensional; der kontrast zum abgelöschten skeptiker de sade könnte grösser nicht sein, was dem disput der beiden spannung verleiht und in der aberwitzigen szene kulminiert, wo sich de sade für seine politische lethargie von marat auspeitschen lässt. zudem lässt die regie die jüngeren schauspieler immer wieder extemporieren, die ideale und ihre haltbarkeit aus heutiger sicht befragen: wenn die revolution tot ist, kann dann wenigstens die hoffnung überleben? und welches politische personal gibt zu solcher hoffnung anlass? spitz werden die bayrischen landtagswahlen in zwei wochen und der am sessel klebende innenminister eingeflochten, was nie aufgesetzt wirkt, sondern durchaus im sinne des autors sein dürfte, der zur entstehungszeit des stücks ganze notizbücher mit solchen querverbindungen füllte: „allein die gesichter all dieser staatsmänner, die brutalisierten säuglingsgesichter, und ihr gerede, zeigen dir, worum es geht. sie reden alle mit toten augen, toten mündern, reden von freiheit, und meinen macht.“ hoffnung, wo bleibst du?

Freitag, 21. September 2018

LUZERN/MÜNCHEN: MUNDEL MACHT'S

da kann man sich als langzeitluzerner und wahlmünchner nur freuen: barbara mundel soll neue intendantin der münchner kammerspiele werden. sie, die um die jahrtausendwende das luzerner theater mit viel sauerstoff vom provinzmief befreite und dem luzerner publikum auf intelligente weise beibrachte, dass theater heute mehr sein kann und muss als unterhaltung. das kam natürlich nicht immer und überall gut an, doch mundel blieb konsequent. luzern und ihre weiteren stationen lassen vermuten, dass ihr an den kammerspielen das gelingen könnte, was der unglückliche matthias lilienthal irgendwie nicht schafft: das verhältnis von theater, performance und diskurs in einem spannungsvollen gleichgewicht zu halten. barbara mundel hat das zeug für die champions league.

Dienstag, 18. September 2018

ZÜRICH: LENZ

„er kann sich nicht finden.“ der schriftsteller jakob michael reinhold lenz ist auf der suche nach sich selbst, doch er kann sich nicht finden, sein geisteszustand verschlechtert sich, psychose. der schriftsteller und mediziner georg büchner hat diese suche in seiner erzählung „lenz“ mit wissenschaftlichem blick begleitet und analysiert. und der regie-altmeister werner düggelin bringt diese krankheitsgeschichte in der schiffbau-box des zürcher schauspielhauses jetzt glasklar auf die bühne. ein klinisch weisser raum, drei weisse ebenen, auf der oberen ein bett für lenz (jan bluthardt), auf der mittleren ein ohrensessel für seinen vertrauten, den pfarrer oberlin (jirka zett), auf der unteren ein tisch für den erzähler (andré jung). in dieser radikal reduzierten umgebung entsteht in einer art szenischer lesung das präzise porträt eines menschen, dessen wahrnehmung sich zunehmend von der realität löst. doch büchner schrieb nicht nur eine krankheitsgeschichte, sondern verpackte darin auch ein plädoyer für realistische statt idealistische literatur, für dokumentarische statt romantische elemente. nicht der wahnsinn am ende des weges steht in düggelins inszenierung im zentrum des interesses, sondern die absolutheit, mit der dieser lenz lebt und sucht, absoluter glaube, absolute liebe, absolute verzweiflung. wie jan bluthardt nach worten sucht, nach bildern, nach sinn vor allem, wie er die ganze  innere zerrissenheit eben nicht als irrer, sondern als rastlos reflektierender zeigt, das macht diesen bald 250 jahre alten mann zu einem sehr modernen menschen und den stoff entsprechend zeitlos: einer, der sich nicht finden kann in seiner komplexen umwelt und den versuch beginnt, damit zu leben.

Montag, 10. September 2018

MÜNCHEN: HOFESH SHECHTER, GRAND FINALE

hofesh shechter, der aus tiefer desillusionierung über sein land mittlerweile in london lebende israeli, gehört zu den aktuell angesagtesten choreographen. entsprechend hoch waren auch unsere erwartungen vor dem gastspiel seiner company jetzt in der münchner muffathalle. sie wurden nicht enttäuscht. die truppe zeigt mit „grand finale“ einen spektakulären, krassen totentanz. die bühne ist in einen steten dunst gehüllt, weshalb es keine auftritte und abgänge gibt, sondern eher erscheinungen aus dem dunkeln: ein reigen von apokalyptischen bildern wühlt die betrachterin und den betrachter zunehmend auf. immer wieder werden leichen über die bühne geschleift, mal erinnern die bildfragmente an konzentrationslager, mal an giftgasangriffe, mal an wüstenkriege oder kampfszenen aus blockbustern. mit schier endloser energie stampfen und springen die tänzerinnen und tänzer dem ende der menschheit entgegen, „grand finale“ eben, in gruppen oder einzeln, als täter oder als opfer, immer ernst, immer hoffnungslos. dazu hat hofesh shechter selber eine grandios-abgründige tonspur komponiert, mit bis an die schmerzgrenze gehenden aggressiven beats und harten schnitten, maschinengeknatter, unterwasserblubbern, fetzen von gregorianischen chorälen. diesen sehr assoziativen sound ergänzen ein paar streicher auf der bühne live – und sie pervertieren ihn zwischendurch mit lieblichem tschaikowsky- und lehar-kitsch. dieser abrupte musikalische gegenschnitt erinnert zwangsläufig an das salonorchester auf der „titanic“. ein kompromissloser abend, ein kompromissloses finale.

Sonntag, 2. September 2018

HAMBURG: CRYING ZONE, DREI STUNDEN WEINEN

drei stunden weinen, schluchzen, schreien, heulen. „crying zone“ heisst die performance, die die truppe von zofia komasa aus polen am mixed-abled-festival „aussicht“ im monsun-theater in hamburg zeigt, einem treffen von inklusiven theaterformationen. erster reflex: halte ich das aus? will ich das aushalten? eine feingliedrige frau mit dunklen haaren setzt sich im schwarzen raum auf einen stuhl, frontal zum publikum. sie beginnt zu heulen, mal heftiger, mal zurückhaltender, sie heult direkt vor uns. wann habe ich das letzte mal geweint? hat es mir gut getan? sie nimmt sich papiertaschentücher, rotzt sie voll, ein tänzer ganz in schwarz sammelt sie. nach 15 oder 25 (??) minuten steht sie auf, von hinten im saal kommt eine kräftige, blonde frau, setzt sich auf den stuhl und beginnt zu weinen, immer massiver; wenn die tränen nachlassen, blickt sie herausfordernd. habe ich sie provoziert? bewusst oder ohne es zu wollen? die tränen fliessen und die gedanken auch. der junge tänzer wirbelt mit den zahlreicher werdenden taschentüchern durch den raum, spielt mit ihnen wie ein kind, endlos. dann kommt eine dunkelhäutige frau, setzt sich auf den stuhl und heult herzerweichend. traumatisiert von der migration? trennungsschmerz? kulturschock? warum redet hier niemand? würde das helfen? die dunkelhäutige frau wird abgelöst von einer bleichen, blonden, deren schluchzen kaum hörbar ist. der tänzer nutzt auch ihre taschentücher für seine zarte performance. unterdessen fixiert sie mich. will sie mitleid? will sie trost? will sie ärger? sie fixiert mich immer noch, penetrant. hinschauen ist mir peinlich, wegschauen wäre noch peinlicher. oder gar verletzend? soll ich das schweigen mit worten durchbrechen? soll ich mitweinen? wann habe ich das letzte mal geweint? war es – für mich, für andere - befreiend? drei stunden weinen. das theater experimentiert. mit mir.

Freitag, 31. August 2018

HAMBURG: VIOTTI II. IN DER ELBPHILHARMONIE

marcello viotti wirkte in den neunziger jahren als chefdirigent am luzerner theater, legte dann eine internationale karriere hin und verstarb 2005 – nach einer orchesterprobe in münchen – viel zu früh. „ein verlust für die gesamte musikwelt“, schrieb der direktor der wiener staatsoper. jetzt tritt der sohn das erbe an. und wie. in der elbphilharmonie dirigiert lorenzo viotti mit gerade mal 28 jahren das von claudio abbado gegründete gustav mahler jugendorchester. er steigt ein mit einem repertoire-kracher, den andere eher als zugabe einplanen würden: die ouverture zu verdis „la forza del destino“, fortissimo und pianissimo, weich und hart, plakativ und poetisch – in nur fünf minuten schafft es viotti II., den saal bereits in all seinen facetten zum klingen zu bringen. er dirigiert auffallend wenig mit händen und armen und viel mit seinen funkelnden augen, auch mit lippen und kinn: gestaltungsfreude und gestaltungswille durch und durch. ausgehend von verdi zeigt viotti, wie die musikwelt in nur 50 jahren von der romantik in die moderne katapultiert wurde: mit dvoraks cello-konzert (und dem phänomenal-innigen solisten gautier capuçon), debussys „prélude à l’après-midi d’un faune“ und als hinreissendem höhepunkt strawinskys skandalstück „le sacre du printemps“. „it’s all about sex“, hatte leonard bernstein diese ballettmusik mal zusammengefasst. „it’s all about power“, scheint die devise bei lorenzo viotti zu lauten. wenn erotik, dann brachial-erotik. mit dissonanzen und peitschendem schlagwerk bringt er den saal zum bersten. ein entfesselter dirigent, 120 entfesselte musikerinnen und musiker, ein jugendlicher orkan. viotti I. hätte sich tierisch gefreut, sein temperament lebt im sohn weiter.

Montag, 27. August 2018

FOROGLIO: LA RIEFENSTAHL

wandern auf den spuren von leni riefenstahl? nein, natürlich nicht. aber schön der reihe nach. in foroglio, wo das val calnègia ins val bavona mündet, also eigentlich am ende der welt, bietet sich uns eine atemberaubende kulisse: ein 110 meter hoher wasserfall. wir kannten ihn nicht, doch die tessiner sagen, er sei ihr spektakulärster. oben, wo der bach aus dem seitental seinen auftritt hat, scheint er ein schmales wässerchen zu sein, doch mit dem abrupten sturz in die tiefe wird er breiter, wuchtiger, zischender, bevor die wasserkraft unten hinter einem gewaltigen felsbrocken aufschlägt und in abermillionen tropfen und tröpfchen wieder gegen den himmel stiebt. von diesem naturschauspiel muss auch – jetzt kommt’s und das wussten wir nicht – leni riefenstahl im fernen berlin gehört haben, die hier zentrale szenen ihres spielfilmdebuts „das blaue licht“ drehte und auch gleich die hauptrolle spielte: die raubtierhafte aussenseiterin, die im kleinen bergdorf die männer verhext, die dann in den vollmondnächten auf der suche nach dem blauen licht die felswände hochklettern und abstürzen (irene bignardi von der „repubblica“ beschreibt das für die foroglio-besucherinnen und -besucher ausgesprochen anschaulich). dieser kitsch-as-kitsch-can-streifen hat es auf der internationalen filmausstellung 1932 in berlin dann hitler angetan, der die riefenstahl in der folge zur offiziellen dokumentarfilmerin des naziregimes machte, was ihr den bekannten zweifelhaften weltruhm bescherte. dort, wo die equipe um „la riefenstahl“ jeweils stundenlang auf die perfekten lichtverhältnisse für den dreh wartete, findet sich heute die osteria la froda, die sich aller abgeschiedenheit zum trotz zu einem treffpunkt von (durchaus auch weniger umstrittenen) künstlerinnen und künstlern entwickelt hat. und die mit vorzüglichen gerichten aus der archaischen bergwelt aufwartet.

Samstag, 11. August 2018

BASEL: MARIA LASSNIG, MAL GANZ LEISE

die nackte alte, mürrisch auf dem motorrad. die nackte alte, eine knarre an der schläfe, eine zweite auf den betrachter gerichtet. die nackte alte, die mit dem tod tango tanzt. das sind die grellen, schreienden bilder, die wir von maria lassnig (1919-2014) kennen, provokative selbstporträts. das kunstmuseum basel zeigt jetzt eine andere seite der österreichischen ausnahmekünstlerin: zeichnungen und aquarelle aus stilleren zeiten. ganz behutsam scheint sie da ihren körper zum mittelpunkt ihrer kunst zu machen, weniger schrill, aber durchaus experimentierfreudig. der körper als würfel, der körper als käse, der körper als – immer wieder neuer anlass für empfindungen, für ein wechselspiel von innen und aussen, mal kubistisch, mal durchaus konkret, fast immer verspielt. man schaut sich das bekannte werk von lassnig ganz anders an, wenn man dieses unbekannte auch kennt. auf eines der letzten blätter im letzten raum hat sie die maxime ihrer körper- und wahrnehmungsstudien hingekritzelt: „jeder strich zählt. jeder strich hat eine lautstärke. gegensätze werden fruchtbar.“ heute ist unser hochzeitstag, da könnte man sich kein passenderes leitmotiv vorstellen.

Donnerstag, 2. August 2018

GREINA: NATUR UND NICHTS, RAUSCHEN UND RAUNEN

keine strassen, keine autos, keine pop-up-bar, keine landschaftskunst, keine kneipen, keine biker, keine luftseilbahnen, keine häuser, kein openairkino, kein zirkus, keine feuerstelle der "schweizer familie". einfach nur natur. einfach nur ein grossartiges nichts. karge bergwiesen, mäandernde bäche, so weit das auge reicht. wandern in der weiten greina-hochebene, die von der surselva und vom bleniotal nur zu fuss über pässe oder durch enge schluchten erreichbar ist, bedeutet: das gefühl für distanz und zeit geht verloren, die festplatte leert sich, die gedanken werden auf 2200 metern über meer luftiger und leichter, man schaltet ab und schaltet anders wieder ein. „wenn eine unschuldige seele das, was man von hier aus sieht, mit unparteiischem gemüte betrachtet und überlegt und vorzüglich die zahme weide mit der wildheit der gebirge vergleicht, so wird er ungern diese stelle verlassen“, notierte – nein, nicht goethe auf seiner reise nach italien – der benediktinerpater placidus a spescha 1820. und leo tuor, schafhirt und poet, schrieb klartext, als elektrizitätskonzerne die greina in der zweiten hälfte des vergangenen jahrhunderts in einem stausee ersäufen wollten: „stört meine tiere nicht, die ihre pfade ziehen und euch nichts zuleide getan haben. lasst der erde ihren frieden und dem tal sein rauschen und raunen. verschwindet, woher ihr gekommen seid!“ der widerstand wurde breiter und breiter und er fruchtete. keine staumauer, keine strommasten, keine panzer. geht doch. geht sogar mitten in der kleinen schweiz. alles weglassen, wirklich alles weglassen, das ist hohe kunst. die greina bleibt deshalb, in einem, kulisse und einladung und anleitung zur meditation.

Dienstag, 24. Juli 2018

MÜNCHEN: NO SEX

die münchner kammerspiele sind auch ein volkskundliches seminar. ein durchaus vergnügliches allerdings. thema diesmal: immer mehr japaner und –innen haben immer weniger sex, vor allem junge (detaillierte statistiken im programmheft lassen keinen zweifel). und wie bitte soll dieser befund auf der bühne daherkommen? autor und regisseur toshiki okada verfrachtet für sein stück „no sex“ vier jungs in eine karaoke-bar; bühnenbildner dominic huber hat ihm ein prachtsstück in sachen farbigkeit und hässlichkeit hingestellt, visueller wahnsinn. die vier jungs – darunter franz rogowski, die filmentdeckung des jahres – stecken in hochartifiziellen japanischen designerklamotten, reden sich mit den namen von zierpflanzen an, wirken durch ihre geisha-bewegungen wie von einem anderen planeten – und singen laufend lieder von liebe, begehren, sex, von dingen also, die sie nicht kennen und nicht kennen wollen. dazwischen tauschen sie aus, wie sie sich fühlen, wenn sie von brüsten und körpersäften singen, sie tun das wie pathologen, die über leichen reden. herr matsumoto, der barbesitzer, und frau nakamura, seine reinigungskraft (annette paulmann, umwerfend), gehören zur vorherigen generation, die sex nicht nur vom hörensagen kennt, und versuchen geradezu liebevoll, das abstinente quartett zu verstehen. es gelingt nur teilweise. die frage, ob sie einfach desinteressiert sind an sex, ob sie sich vor emotionalen verstrickungen oder intimen momenten fürchten, ob ihnen das ganze drum und dran zu lästig oder ob ihr verzicht gar ein statement gegen die zwänge des konsumsystems ist, diese frage wird zwischen viel westlicher musik und rätselhafter japanischer choreografie auf allerhübscheste weise dann doch nicht beantwortet.

Freitag, 20. Juli 2018

POING: SELIGER PATER RUPERT MAYER

es werden doch tatsächlich noch kirchen gebaut. anderswo werden sie geschlossen oder umgenutzt, als eventlokal (ebnat-kappel), als kletterhalle (mönchengladbach), als asylunterkunft (winterthur), als buchhandlung (maastricht), als getränkelager (petit-lancy). in bayern aber werden noch kirchen gebaut. vor kurzem wurde die kirche seliger pater rupert mayer in poing bei münchen eingeweiht, eine auffällige weisse skulptur in einer, höflich ausgedrückt, unauffälligen peripheriegemeinde. das wie ein dreiteiliges relief gestaltete dach (dreifaltigkeit) mit seinen glänzenden weissen kacheln wirkt aus der ferne wie die spitze eines eisbergs, von nahem könnte es auch ein besonders gut gelungener industriebau sein. nur ein kahler platz trennt das gebäude von der hauptstrasse, denn der kirchenraum soll einladen („kommt und seht“), das war den architekten andreas meck und axel frühauf besonders wichtig. keine schweren türen trennen den platz deshalb vom kirchenraum, sondern nur viel glas: glastüren, fenster, oblichter. das licht erfüllt den weissen raum von allen seiten. er wirkt hell und transparent und schlicht. da sich die wandflächen in verschiedensten formen und winkeln gen himmel strecken, das licht also unterschiedlich brechen, ergibt sich ein ganz spezielles farbenspiel: fifty shades of white. ein sehr meditativer ort, luftig und leicht, wo man sich auf anhieb wohlfühlt. es ist den poingern und dem lieben gott nicht zu wünschen, aber falls es trotzdem mal so weit kommen sollte: dieser prachtvolle raum wird sich ausgesprochen gut umnutzen lassen.

Mittwoch, 18. Juli 2018

MÜNCHEN: JULIET & ROMEO

zwei offene gräber. eines für julia. eines für romeo. beide sind sie tot. zwei seiten später ist shakespeares tragödie zu ende und die verfeindeten familien der capulets und montagues sind versöhnt. so schnell geht das. kann nicht sein, sagte sich der amerikanische choreograf trajal harrell und widmet der zeitspanne zwischen liebestod und aussöhnung einen tanzabend. einen abend, der der trauer und verzweiflung zeit und raum gibt. zwei offene gräber, übergross, bilden das zentrum der bühne in den münchner kammerspielen. trajal harrell schreitet sie, schwarzgewandet als amme julias, immer und immer wieder ab und orchestriert diesen abschied, die erinnerung, die zuwendung. sieben tänzer und schauspieler – wie bei shakespeare ausschliesslich männer – teilen sich die rollen, spielen mit motiven und textfetzen aus dem original, improvisieren mit kostümen und stoffen. ihre bewegungen sind inspiriert vom voguing, mit dem die schwule subkultur new yorks einst die fashionshows persiflierte, und dem japanischen butoh-tanz. es ist ein endloser kampf um das verlorene leben, um die verlorenen menschen, von grosser kraft und ernsthaftigkeit, ein totentanz ohne trost. „die liebe ist ein rauch aus ooh und jeh, ein feuer, das uns frisst, und eine see aus unsren eignen tränen, die uns schluckt.“ am ende sitzen und liegen sie alle an den offenen gräbern, lebendig oder tot, und die amme singt und tanzt eine herzzerreissende todesklage. die ganze atmosphäre ist von trauer durchtränkt, schwer und leicht zugleich. man kann sich dieser emotionalen überdosis nicht entziehen. und wenn die tänzer beim applaus dann durch die reihen gehen und sich bei den zuschauerinnen und zuschauern quasi einzeln verneigen und verabschieden, ist man ihnen dankbar für dieses intensive todesritual, mitgenommen und erlöst.