Dienstag, 19. Dezember 2017

MÜNCHEN: RICHARD III.

er ist ein widerliches arschloch, ein gemeiner egozentriker, ein irrer machtmensch. er verhöhnt seine nächsten, begrapscht wahllos frauen und geht über leichen. hauptsache: der grösste sein. natürlich muss man den ganzen abend an trump denken, obwohl michael thalheimer in seiner inszenierung von shakespeares „richard III.“ am residenztheater in münchen den allzu offensichtlichen bezug vermeidet: norman hacker trägt schulterlange, verschwitzte haarsträhnen und haust in einem turmhohen bretterverlies (von olaf altmann), auf dessen boden permanent schwarzes laub raschelt, eine düstere szenerie, durch die wummernden bassakkorde aus dem off noch düsterer aufgeladen. ein ort des grauens. so richtig irr, beängstigend irr wird dieser richard nach der pause, als er ganz oben, als er endlich könig ist. da faucht und feixt er, zerkaut brüllend jede silbe der thomas-brasch-übersetzung mit dem unterkiefer, wechselt mitten im gespräch idiotisch die tonart richtung knabensopran, juckt plan- und ziellos durch die gegend – und immer wieder an die rampe: so einer sucht das publikum, so einer braucht das publikum, er weiss zwar, dass er nackt ist („oft handeln männer ohne tiefern sinn“), aber er glaubt auch, dass sein publikum, das er irre glotzend fixiert, dies nicht weiss. norman hacker spielt diese zynische rampensau, und ihre abgründe spielt er genial mit. in seinem vertrackten system von machtgier, schuld und rache macht dieser richard die gegenspieler, die immer von hinten aus dem dunkel durchs laub angeraschelt kommen, zu unfreiwilligen mitspielern. doch die rampe, die gehört nur ihm. und er weiss, wie schrecklich einsam man ganz vorne im scheinwerferkegel sein kann: „i am myself alone.“ endzeitstimmung.

Sonntag, 17. Dezember 2017

MÜNCHEN: TIEF INS GLAS GESCHAUT

"wenn man einen schluck hefeweizen nimmt, dann ist das eine fast spirituelle erfahrung. jeder, wirklich jeder kann die spirituellen und philosophischen aspekte erfahren, die sich in so etwas einfachem wie einem schluck weissbier offenbaren." kann man es schöner sagen als der us-künstler jeff koons, der eine zeitlang in münchen lebte?

Montag, 11. Dezember 2017

KASTANIENBAUM: AUSGESTEMPELT

als er pensioniert und seine post in 6047 kastanienbaum geschlossen wurde, machte sich posthalter ruedi zurflüh mit einer schachtel voller trouvaillen auf den weg ins museum für kommunikation (ehemals postmuseum) in bern, mit dem vorschlag, einen teil dieser aussergewöhnlichen dokumente, briefe und postkarten dort auszustellen. bescheid negativ, es gebe zu viel sammelgut von zu vielen ex-posthaltern. nun allerdings haben ruedi zurflüh und sein vater und sein grossvater, die die postkunden in kastanienbaum zusammen während 98 jahren betreuten, ein viel attraktiveres denkmal erhalten: „ausgestempelt“, der sensible und kurzweilige dokumentarfilm von kurt koller und franz szekeres. nein, es ist kein jammerfilm über nicht nachvollziehbare poststellenschliessungen und den abbau des service public. dass sich die zeiten immer wieder und immer schneller ändern, schwingt zwar durchaus mit, doch im zentrum steht ein liebevoller, anekdotenreicher rückblick auf drei posthalter-generationen und ihre teils illustre kundschaft: der belgische könig leopold III. (der hier kurz vor dem tödlichen unfall mit seiner gemahlin astrid bereits einen töffunfall baute), der schillernde luzerner bankier ernst brunner, geheimdienstoffiziere, judenhasser und reihenweise musiker von rafael kubelik über claudio abbado zu dj bobo. der grosse toscanini kam jeweils zu zurflühs, um mit seiner schwester (offizielle version für seine frau), respektive seiner geliebten in italien (inoffizielle version) zu kabeln. ja, die post unmittelbar neben dem hotel war die seele von kastanienbaum, andere treffpunkte gab und gibt es kaum. dieser film ist eine liebeserklärung auch an dieses spezielle dorf. wie sagt doch die off-sprecherin im film lakonisch: „ein ort, an dem zu wohnen man es sich leisten können möchte.“

Sonntag, 10. Dezember 2017

ZÜRICH: MEISTER UND MARGARITA

der teufel besucht moskau. jan bluthardt gibt ihn am diesmal zum intimen variété umgebauten theater neumarkt in zürich total chic im schwarzen sakko mit schmetterlingsmotiven und viel gel im haar, ein ausgesprochen intelligenter und cleverer typ. er nennt sich hier voland und gibt sich als deutscher professor für schwarze magie aus. der teufel ist die zentrale figur in michail bulgakows kultroman „meister und margarita“, der gerne als „der russische faust“ bezeichnet wird, ein überbordender roman über kunst und politik, über liebe und andere leidenschaften. in peter kastenmüllers vortrefflicher regie stürzt dieser teufel das moskau der 30er jahre nicht ins chaos, sondern in eine abgrundtiefe verunsicherung. er beisst sich fest am verordneten atheismus und der absurden bürokratie, er umschleicht die menschen, horcht sie aus (mit mehr erfolg als die miliz) und durchschaut sie. durchschaut sie und ihre unterwerfungen, ihre lügengeschichten, ihre skandale. kurz: der kerl verfolgt eine nicht unsympathische mission. bulgakows grandioses kaleidoskop ist ein gefundenes fressen für die spielfreudige neumarkt-truppe: die dreieinhalbstündige zickzack-wanderung durch die russische seele wird hier zu einer ebenso klugen wie kurzweiligen revue, realistisch, satirisch, phantastisch, mit schrägen videoclips und parodien auf sandalenfilme, mit russischen schnulzen und schäbigen zaubertricks. die gesellschafts- und systemkritik entwickelt so einen geradezu opernhaften rausch – und nüchtern bleibt, natürlich, nur der teufel: „wozu dem nachjagen, was zu ende ist?“ fragt er final, derweil moskau und das publikum im trockeneisnebel wegdämmern.

Samstag, 9. Dezember 2017

WIEN: DROHKULISSE

"ich weiss, wie man im strafraum beton anmischt."
sagt nicht edinson cavani, stürmer bei paris saint-germain.
sagt nicht mario himsl, fussball-lehrer aus otterskirchen.
"ich weiss, wie man im strafraum beton anmischt."
sagt martin kušej , der designierte direktor des wiener burgtheaters (im interview mit der "süddeutschen zeitung"). da bahnt sich was an im österreichischen nationalheiligtum.
warm anziehen, wien!

Mittwoch, 6. Dezember 2017

PRANGINS: WORLD PRESS PHOTO

80‘000 bilder hat die jury des internationalen wettbewerbs „world press photo“ dieses jahr visioniert. 80‘000 bilder von 5000 fotojournalisten. bilderflut, reizüberflutung, realität 2017. die teilweise ikonischen fotos der preisträger sind jetzt im musée national im château de prangins bei nyon ausgestellt. das attentat auf den russischen botschafter während einer vernissagenrede in einer galerie in ankara (aus nächster nähe fotografiert), die blutigen opfer des vom philippinischen präsidenten duterte verschärften drogenkriegs mitten auf der strasse (in diffusem licht), in ruinen vegetierende menschen in ukrainischen unstädten (trost- und perspektivenlose porträts)  – es sind bilder oft hart an der grenze. 80‘000 bilder dürften in etwa auch dem entsprechen, was ein durchschnittlicher mensch im lauf eines jahres wahrnimmt, bewusst und unbewusst. die präsentation in prangins, grossformatig, sorgfältig, unaufgeregt, soll auch ein anreiz sein, dieser bilderflut im alltag wieder anders zu begegnen, bilder wirken zu lassen, bilder zu lesen, zu interpretieren, konsequenzen daraus zu ziehen. in den räumen darunter läuft parallel die ausstellung „swiss press photo“. ein eigenartiger kontrast: gerhard pfister stochert im nebel, doris leuthard küsst, samih sawiris protzt, kühe fahren schiff. die direkte gegenüberstellung mit den brutalen szenen weltweit mag zweierlei auslösen: wir leben auf einer insel der glückseligen / wir leben auf einer insel der naiven.