Freitag, 27. Oktober 2017

ZÜRICH: BUDDENBROOKS

in einer tragenden rolle: die motorsäge. der zu beginn die ganze bühnenbreite füllende stattliche, weisse tisch wird während der dreistündigen aufführung etappenweise zerstückelt, erledigt, entsorgt. ein ziemlich drastisches, bisweilen albernes bild, um den „verfall einer familie“ zu illustrieren, wie thomas mann seinen roman „buddenbrooks“ im untertitel nannte. in den trümmern dieses (selbstredend) mit videokameras in nahaufnahme dokumentierten sägemassakers gelingt regisseur bastian kraft am schauspielhaus zürich allerdings eine beachtliche, teilweise bezaubernde familienaufstellung. kann ja nicht jeder, 800 seiten roman einfach so eindicken. claudius körber spielt den hanno, den letzten stammhalter der buddenbrooks, der mit 15 an typhus stirbt: lustvoll und empathisch erzählt er die geschichte vom fall der lübecker kaufmannsdynastie aus seiner sicht, wie ein wichtel wirbelt er durch die familienchronik und die tischtrümmer, da kommt ganz viel von thomas manns sanft-ironischem zugriff auch auf heikelste episoden rüber. mit tempo und leichtigkeit verbindet dieser hanno die szenen und die menschen, die zunehmend gefangen sind in der diskrepanz zwischen grossbürgerlichen zwängen, geschäftlichen traditionen und dem wunsch, frei atmen zu können und auch den musen und der musse ihren platz zu geben. geschäfte fallieren, ehen zerbrechen, träume werden zu albträumen. ein erstklassiges ensemble schafft diesen permanenten tanz zwischen heiss und kalt, zwischen fassung und verzweiflung, zwischen hochmut und abstiegsangst, es jagt durch diesen eskalierenden familienirrsinn, der auch ohne motorsäge ganz schön an die nieren ginge.

Montag, 23. Oktober 2017

FREIBURG IM BREISGAU: HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN

der französische tenor sébastien guèze tritt so smart auf wie der leibhaftige österreichische steilstarter sebastian kurz, verfügt über eine helle, lyrische stimme – und: er wusste am mittwoch noch nicht, dass er am sonntag in der première von „hoffmanns erzählungen“ am theater freiburg im breisgau die hauptrolle singt, als ersatz für den erkrankten rolf romei. einspringen ist daily business im theaterbetrieb, doch mit nur zwei tagen proben in eine derart komplexe inszenierung einzusteigen, und dies mit zunehmend betörender brillanz, das ist schon eine meisterleistung. denn das französische regiekollektiv clarac-deloeuil > le lab liefert keine handelsübliche lesart von offenbachs oper. die bühne ist ein weiss gekachelter raum, labor und studio in einem, in dem eine blonde moderatorin auf acht bildschirmen als erstes bekannt gibt, dass der literaturpreis 2017, in anerkennung seiner herausragenden impulse für die zeitgenössische literatur, an e. t. a. hoffmann geht. die zweifel und selbstzweifel des toten dichters, sein scheitern in liebe und kunst, nehmen die regisseure zum anlass, ganz generell über dichtung und ihre wirkung nachzudenken. „wozu dichter in dürftiger zeit?“ fragen sie mit hölderlin. eine schauspielerin und ein schauspieler, die hoffmanns muse assistieren, zitieren in dutzenden von intermezzi dutzende von dichtern und denkern, die ihre rolle und ihre grenzen reflektieren. diese intellektuellen exkurse funktionieren erstaunlich gut, zumal fabrice bollon offenbachs romantischen rausch bisweilen überraschend unromantisch dirigiert. auch dies unterstreicht: dichter leben gefährlich. dieser freiburger hoffmann wird am schluss erschossen, auftragsmord eines politikers, doch er lebt weiter durch seine kunst. ja, gerade in dürftigen zeiten tun dichter not: „es ist uns aufgegeben, wahrheiten auszusprechen.“ viel applaus für einen eindrücklichen, klugen opernabend.

Freitag, 20. Oktober 2017

MÜNCHEN: DIE LUSTIGE WITWE

hitlers lieblingsoperette also. über 30 mal soll er sie sich angeschaut haben. ausgerechnet „die lustige witwe“ eröffnet jetzt das totalsanierte staatstheater am gärtnerplatz, münchens volksoper. intendant josef e. köpplinger verlegt die zickzack-romanze der reichen witwe hanna glawari und des lebenslustigen grafen danilo an den vorabend des ersten weltkriegs. er erfindet den tod als omnipräsente stumme figur dazu, die der tänzer und choreograf adam cooper zur faszinierenden hauptrolle macht: mit kahlem kopf und schwarzem mantel, dezent im hintergrund, elegant im vordergrund, der tod streut rosenblätter, der tod küsst mit, der tod tanzt im drei-viertel-takt den gesellschaftlichen und staatspolitischen abgründen entlang. er führt am schluss die männer in den krieg und nimmt sich die witwe, kein happy-end. so weit, so bitter. daneben allerdings gönnt sich köpplinger reichlich platz für operettenroutine und -kitsch, mit viel tempo und auf höchst professionellem niveau, aber von allem a bisserl zu viel: drehbühne im dauerbetrieb, trockeneisorgien, kostümorgien, champagnerorgien, schlüpfrige pointen. da wünscht man sich dann immer mal wieder den tod herbei, den so stilsicheren. tolles leisten der neue chefdirigent anthony bramall und die neue akustik im orchestergraben: dieser lehár kommt nie klebrig daher, er knistert und funkelt und sprüht. da können die beiden hauptdarsteller camille schnoor (witwe) und daniel prohaska (danilo) mit ihren doch eher durchschnittlichen stimmen nicht immer mithalten, machen das aber mit viel charme wett. apropos charme: hitler, das ist verbürgt, soll zuhause vor dem spiegel selbstverliebt den grafen danilo nachgespielt haben, mit zylinder und johannes-heesters-schal. ach, wäre er doch zur operette.

Montag, 16. Oktober 2017

MÜNCHEN: EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT

im hintergrund, hübsch aufgereiht, vier schminktische mit persönlichen utensilien: der rückzugsort für die vier wanderschauspieler, wenn sie gerade keinen einsatz haben. im vordergrund eine riesige verspiegelte platte als spielfläche, aufgehängt an vier drahtseilen und deshalb immer in bewegung: leben im schwebenden zustand, leben auf unsicherem terrain – das ist es dann auch schon weitgehend, thomas dannemanns regiekonzept für eugene o´neills „eines langen tages reise in die nacht“ im münchner cuvilliés-theater. dass die absolut trostlose geschichte der schauspielerfamilie tyrone (die o´neills eigene familiengeschichte abbildet) trotzdem packt, ist allein dem höchstklasse-ensemble zu verdanken, das die ausweglosen abhängigkeiten penetrant und präzis zu einem immer dichteren netz spinnt: sibylle canonica, die mutter, bemüht sich als morphium-ruine so hartnäckig wie erfolglos um fassung, oliver nägele, der vater, ist ein vom geiz zersetzter einstiger starschauspieler, aurel manthei als älterer sohn mäandert brillant zwischen minderwertigkeitskomplex, zorn und alkohol, franz pätzold als jüngerer sohn kämpft mit hochpoetischen kabinettstücken gegen seine eltern und seine tuberkulose an. alles ist krank in diesem haus, alles ist anfauchen, angiften, anwidern. das dauert zwei stunden und zehn minuten. bei o´neill dauerte es 65 jahre. „ich gehe aus von der theorie, dass die vereinigten staaten, anstatt das erfolgreichste land der erde zu sein, der grösste fehlschlag sind. wir hatten so viele möglichkeiten und haben einen falschen weg gewählt.“ mit diesem satz o´neills im ohr sieht man sein familienstück aus dem jahr 1956 auch als parabel auf ein zutiefst verunsichertes und polarisiertes land im jahr 2017.

Mittwoch, 4. Oktober 2017

LUGANO: WOLFGANG LAIB

gibt es eine ursprüngliche sprache, die verschiedenen kulturen und zivilisationen gemein ist? diese frage beschäftigt den 67jährigen deutschen künstler wolfgang laib seit seiner jugend. wenn die grosse laib-ausstellung im museo d’arte della svizzera italiana in lugano eine antwort auf diese frage ist, dann bewegt sich so eine ur-sprache im grenzgebiet zwischen natur und spiritualität. laib studierte ursprünglich medizin und schrieb seine doktorarbeit über die trinkwasserhygiene in der region nördlich der indischen stadt madurai. enttäuscht von der vom gewinnstreben geprägten westlichen medizin wandte er sich dann früh ab und beschäftigte sich mit antroposophischen grundfragen – und in der folge, als künstler, mit einfachsten materialien: blütenstaub, reis, milch, bienenwachs sind zentrale elemente seiner plastiken und installationen. immer wieder blütenstaub. „zeit war und ist ein zentraler knotenpunkt in meiner arbeit und in meinem leben. blütenstaub zu sammeln bedeutet, für tage, wochen, monate auf einer wiese zu sitzen … und, nach einem monat hat man ein gläschen voll blütenstaub.“ das herz der ausstellung in lugano ist ein würfelartiger mildgrauer raum, in dessen mitte auf dem boden ein grosses quadrat aus blütenstaub von kiefern hellgelb leuchtet. unfassbar schlicht, unfassbar schön, eine einladung zur meditation. das publikum setzt sich diesem sinnlichen sog sichtlich gern aus. und wenn in einer anderen ecke reis in einer messingschale je nach perspektive wie ein kleines häufchen oder wie ein unüberwindbarer berg erscheint, dann sind wir dabei mit seele und laib: poesie nicht als selbstzweck, sondern als ausgangspunkt für eine tiefgründige reflexion der realitäten und relationen.