in
einer tragenden rolle: die motorsäge. der zu beginn die ganze bühnenbreite
füllende stattliche, weisse tisch wird während der dreistündigen aufführung
etappenweise zerstückelt, erledigt, entsorgt. ein ziemlich drastisches,
bisweilen albernes bild, um den „verfall einer familie“ zu illustrieren, wie
thomas mann seinen roman „buddenbrooks“ im untertitel nannte. in den trümmern
dieses (selbstredend) mit videokameras in nahaufnahme dokumentierten
sägemassakers gelingt regisseur bastian kraft am schauspielhaus zürich
allerdings eine beachtliche, teilweise bezaubernde familienaufstellung. kann ja
nicht jeder, 800 seiten roman einfach so eindicken. claudius körber spielt den
hanno, den letzten stammhalter der buddenbrooks, der mit 15 an typhus stirbt:
lustvoll und empathisch erzählt er die geschichte vom fall der lübecker
kaufmannsdynastie aus seiner sicht, wie ein wichtel wirbelt er durch die
familienchronik und die tischtrümmer, da kommt ganz viel von thomas manns sanft-ironischem
zugriff auch auf heikelste episoden rüber. mit tempo und leichtigkeit verbindet
dieser hanno die szenen und die menschen, die zunehmend gefangen sind in der
diskrepanz zwischen grossbürgerlichen zwängen, geschäftlichen traditionen und
dem wunsch, frei atmen zu können und auch den musen und der musse ihren platz
zu geben. geschäfte fallieren, ehen zerbrechen, träume werden zu albträumen. ein
erstklassiges ensemble schafft diesen permanenten tanz zwischen heiss und kalt,
zwischen fassung und verzweiflung, zwischen hochmut und abstiegsangst, es jagt
durch diesen eskalierenden familienirrsinn, der auch ohne motorsäge ganz schön
an die nieren ginge.
Freitag, 27. Oktober 2017
Montag, 23. Oktober 2017
FREIBURG IM BREISGAU: HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN
der
französische tenor sébastien guèze tritt so smart auf wie der leibhaftige
österreichische steilstarter sebastian kurz, verfügt über eine helle, lyrische
stimme – und: er wusste am mittwoch noch nicht, dass er am sonntag in der première von „hoffmanns erzählungen“ am theater freiburg im breisgau die hauptrolle singt, als ersatz
für den erkrankten rolf romei. einspringen ist daily business im
theaterbetrieb, doch mit nur zwei tagen proben in eine derart komplexe
inszenierung einzusteigen, und dies mit zunehmend betörender brillanz, das ist
schon eine meisterleistung. denn das französische regiekollektiv
clarac-deloeuil > le lab liefert keine handelsübliche lesart von offenbachs
oper. die bühne ist ein weiss gekachelter raum, labor und studio in einem, in
dem eine blonde moderatorin auf acht bildschirmen als erstes bekannt gibt, dass
der literaturpreis 2017, in anerkennung seiner herausragenden impulse für die
zeitgenössische literatur, an e. t. a. hoffmann geht. die zweifel und
selbstzweifel des toten dichters, sein scheitern in liebe und kunst, nehmen die
regisseure zum anlass, ganz generell über dichtung und ihre wirkung
nachzudenken. „wozu dichter in dürftiger zeit?“ fragen sie mit hölderlin. eine
schauspielerin und ein schauspieler, die hoffmanns muse assistieren, zitieren in dutzenden von intermezzi
dutzende von dichtern und denkern, die ihre rolle und ihre grenzen
reflektieren. diese intellektuellen exkurse funktionieren erstaunlich gut,
zumal fabrice bollon offenbachs romantischen rausch bisweilen überraschend
unromantisch dirigiert. auch dies unterstreicht: dichter leben gefährlich.
dieser freiburger hoffmann wird am schluss erschossen, auftragsmord eines
politikers, doch er lebt weiter durch seine kunst. ja, gerade in dürftigen zeiten
tun dichter not: „es ist uns aufgegeben, wahrheiten auszusprechen.“ viel applaus
für einen eindrücklichen, klugen opernabend.
Freitag, 20. Oktober 2017
MÜNCHEN: DIE LUSTIGE WITWE
hitlers
lieblingsoperette also. über 30 mal soll er sie sich angeschaut haben.
ausgerechnet „die lustige witwe“ eröffnet jetzt das totalsanierte staatstheater
am gärtnerplatz, münchens volksoper. intendant josef e. köpplinger verlegt die
zickzack-romanze der reichen witwe hanna glawari und des lebenslustigen grafen
danilo an den vorabend des ersten weltkriegs. er erfindet den tod als omnipräsente
stumme figur dazu, die der tänzer und choreograf adam cooper zur faszinierenden
hauptrolle macht: mit kahlem kopf und schwarzem mantel, dezent im hintergrund, elegant
im vordergrund, der tod streut rosenblätter, der tod küsst mit, der tod tanzt
im drei-viertel-takt den gesellschaftlichen und staatspolitischen abgründen
entlang. er führt am schluss die männer in den krieg und nimmt sich die witwe,
kein happy-end. so weit, so bitter. daneben allerdings gönnt sich köpplinger
reichlich platz für operettenroutine und -kitsch, mit viel tempo und auf höchst
professionellem niveau, aber von allem a bisserl zu viel: drehbühne
im dauerbetrieb, trockeneisorgien, kostümorgien, champagnerorgien, schlüpfrige
pointen. da wünscht man sich dann immer mal wieder den tod herbei, den
so stilsicheren. tolles leisten der neue chefdirigent anthony bramall und die neue
akustik im orchestergraben: dieser lehár kommt nie klebrig daher, er knistert und
funkelt und sprüht. da können die beiden hauptdarsteller camille schnoor
(witwe) und daniel prohaska (danilo) mit ihren doch eher durchschnittlichen
stimmen nicht immer mithalten, machen das aber mit viel charme wett. apropos
charme: hitler, das ist verbürgt, soll zuhause vor dem spiegel selbstverliebt
den grafen danilo nachgespielt haben, mit zylinder und johannes-heesters-schal.
ach, wäre er doch zur operette.
Montag, 16. Oktober 2017
MÜNCHEN: EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT
im
hintergrund, hübsch aufgereiht, vier schminktische mit persönlichen utensilien:
der rückzugsort für die vier wanderschauspieler, wenn sie gerade keinen einsatz
haben. im vordergrund eine riesige verspiegelte platte als spielfläche,
aufgehängt an vier drahtseilen und deshalb immer in bewegung: leben im
schwebenden zustand, leben auf unsicherem terrain – das ist es dann auch schon
weitgehend, thomas dannemanns regiekonzept für eugene o´neills „eines langen
tages reise in die nacht“ im münchner cuvilliés-theater. dass die absolut
trostlose geschichte der schauspielerfamilie tyrone (die o´neills eigene familiengeschichte
abbildet) trotzdem packt, ist allein dem höchstklasse-ensemble zu
verdanken, das die ausweglosen abhängigkeiten penetrant und präzis zu einem
immer dichteren netz spinnt: sibylle canonica, die mutter, bemüht sich als
morphium-ruine so hartnäckig wie erfolglos um fassung, oliver nägele, der
vater, ist ein vom geiz zersetzter einstiger starschauspieler, aurel manthei
als älterer sohn mäandert brillant zwischen minderwertigkeitskomplex, zorn und
alkohol, franz pätzold als jüngerer sohn kämpft mit hochpoetischen
kabinettstücken gegen seine eltern und seine tuberkulose an. alles ist krank in
diesem haus, alles ist anfauchen, angiften, anwidern. das dauert zwei stunden
und zehn minuten. bei o´neill dauerte es 65 jahre. „ich gehe aus von der theorie,
dass die vereinigten staaten, anstatt das erfolgreichste land der erde zu sein,
der grösste fehlschlag sind. wir hatten so viele möglichkeiten und haben einen
falschen weg gewählt.“ mit diesem satz o´neills im ohr sieht man sein familienstück
aus dem jahr 1956 auch als parabel auf ein zutiefst verunsichertes und
polarisiertes land im jahr 2017.
Mittwoch, 4. Oktober 2017
LUGANO: WOLFGANG LAIB
gibt
es eine ursprüngliche sprache, die verschiedenen kulturen und zivilisationen
gemein ist? diese frage beschäftigt den 67jährigen deutschen künstler wolfgang
laib seit seiner jugend. wenn die grosse laib-ausstellung im museo d’arte della
svizzera italiana in lugano eine antwort auf diese frage ist, dann bewegt sich
so eine ur-sprache im grenzgebiet zwischen natur und spiritualität. laib
studierte ursprünglich medizin und schrieb seine doktorarbeit über die
trinkwasserhygiene in der region nördlich der indischen stadt madurai.
enttäuscht von der vom gewinnstreben geprägten westlichen medizin wandte er
sich dann früh ab und beschäftigte sich mit antroposophischen grundfragen – und
in der folge, als künstler, mit einfachsten materialien: blütenstaub, reis,
milch, bienenwachs sind zentrale elemente seiner plastiken und installationen.
immer wieder blütenstaub. „zeit war und ist ein zentraler knotenpunkt in meiner
arbeit und in meinem leben. blütenstaub zu sammeln bedeutet, für tage, wochen,
monate auf einer wiese zu sitzen … und, nach einem monat hat man ein gläschen
voll blütenstaub.“ das herz der ausstellung in lugano ist ein würfelartiger
mildgrauer raum, in dessen mitte auf dem boden ein grosses quadrat aus
blütenstaub von kiefern hellgelb leuchtet. unfassbar schlicht, unfassbar schön,
eine einladung zur meditation. das publikum setzt sich diesem sinnlichen sog
sichtlich gern aus. und wenn in einer anderen ecke reis in einer messingschale
je nach perspektive wie ein kleines häufchen oder wie ein unüberwindbarer berg erscheint,
dann sind wir dabei mit seele und laib: poesie nicht als selbstzweck, sondern
als ausgangspunkt für eine tiefgründige reflexion der realitäten und
relationen.
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